Ein Lehrerzimmer ist wie ein Dorf

Mit dem Roman "Johannistag" geht Charles Lewinskys späte Erfolgsgeschichte weiter

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war schon sechzig Jahre alt, als ihm im letzten Jahr mit seinem euphorisch gefeierten Roman "Melnitz", der vom Schicksal einer jüdischen Familie in der Schweiz über mehrere Generationen von 1871 bis 1946 erzählt, der literarische Durchbruch gelungen ist. Dabei hat Charles Lewinsky, der einige Jahre als Redakteur und Ressortleiter der Sendung "Wort-Unterhaltung" des Schweizer Fernsehens gearbeitet hatte, schon früher viel geschrieben: sein erstes Theaterstück mit 16, den ersten (unveröffentlichten) Roman mit Anfang zwanzig, später Theaterstücke, Sketche fürs Fernsehen, erfolgreiche TV-Drehbücher, an die 700 Liedtexte und das Drehbuch für den von Oliver Hirschbiegel in Szene gesetzten Kinofilm "Ein ganz gewöhnlicher Jude" mit Ben Becker. "Das ist auf die Dauer literarisch etwa so herausfordernd wie die alpinistische Besteigung eines Maulwurfshügels", hatte Lewinsky über den Großteil seiner Lohnschreiberei geurteilt.

Nun hat der Nagel und Kimche Verlag seinen vor sieben Jahren erstmals (bei Haffmans) erschienenen Roman "Johannistag" neu aufgelegt und sich damit (abseits der kommerziellen Aspekte) große Verdienste erworben. "Johannistag" kann es nämlich in jeder Hinsicht mit dem Erfolgsroman "Melnitz" aufnehmen. Hier wie dort bestechen die fein konturierten Charakterzeichnungen, das Gespür für die kleinen und großen menschlichen Schwächen sowie das behutsame Changieren zwischen Tragödie und Komödie.

Handlungsort ist das kleine französische Provinzdorf Courtillon (es ist wohl nicht der gleichnamige, rund 30 Kilometer nördlich von Le Mans gelegene Ort). Dorthin hat es den Erzähler des Romans etwas unfreiwillig verschlagen. Der deutsche Studienrat hatte sich mit einer Schülerin eingelassen und sucht nun in der französischen Einöde Ruhe und Abgeschiedenheit.

Doch es ist ein trügerisches Idyll. Hinter den Fassaden rumort es kräftig; zunächst vernimmt er nur die üblichen Dorf-Tratschereien, doch schon früh ahnt man als Leser, dass mehr dahinter steckt, dass dieser Mikrokosmos höchst explosiven Zündstoff birgt. Der Protagonist, der sich selbst in einem Stadium der privaten Vergangenheitsbewältigung befindet, resümiert: "Auch ein Lehrerzimmer ist wie ein Dorf." Die unangenehmen, störenden Dinge werden unter den Tisch gekehrt, um nach außen eine solide Ordnung zu demonstrieren.

Als es zu baulichen Veränderungen am Dorfrand kommen soll - vom Bürgermeister Ravallet, der von einer großen politischen Karriere träumt, als "Sanierung der Uferregion" proklamiert - erwachen plötzlich wieder alte Feindschaften, deren Wurzeln tief in die Vergangenheit reichen. Ravallet sieht sich einer Erpressung ausgesetzt. Jean will ihn durch die Drohung der Preisgabe einer 50 Jahre alten "Geschichte" nötigen, gegen das geplante Bauvorhaben zu stimmen.

Das harmonische Dorfleben ist dahin, und der etwas tumbe Polizist erhält in dem 1.000 Schritte langen Ort plötzlich mehr Arbeit als ihm lieb ist. Die an den Rollstuhl gefesselte Greisin Milotte, die von ihrer Veranda aus rund um die Uhr jeden Bewohner akribisch auf Schritt und Tritt beobachtete, wird Opfer eines Attentats; die Madonnenfiguren des Dorfes sind durch angemalte Schnurbärte arg verunstaltet worden; eine Frau fällt aus dem Fenster; die junge Elodie zündet in der Nacht des Johannisfeuers ihr Elternhaus an - und ihr Vater kommt in den Flammen qualvoll ums Leben.

Die Vergangenheit scheint das Dorf eingeholt und die Gräben zwischen einstigen Kollaborateuren und Mitgliedern der "Résistance" wieder aufgeworfen zu haben. "Die Vögel fallen aus dem Nest", lautete während des Zweiten Weltkrieges eine geheimnisvolle Parole in Courtillon. Nun sind alle Bewohner auf irgendeine Art aus ihren behaglich eingerichteten Nestern gefallen, und das gesamte Dorf befindet sich in einem Zustand höchster innerer Erregung.

Charles Lewinsky, der außerdem der Schweizer Filmpreis-Jury vorsteht, hat mit "Johannistag" einen bedeutenden Roman gegen das Vergessen und Verdrängen, gegen Selbsttäuschungen und Selbstverleugnungen geschrieben. Und irgendwie kann man sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass Courtillon überall sein könnte.


Titelbild

Charles Lewinsky: Johannistag. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2007.
320 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783312003884

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