Gedankliche Zirkulationen im Zeichen des Humors

Über Burkhard Müllers philosophische Essaysammlung "Die Tränen des Xerxes"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Rahmen seiner neun, sich autonom zueinander verhaltenen Kapitel widmet sich Müller unterschiedlichsten Themen wie der Zeit, der Auseinandersetzung mit dem Konnex von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Wirklichkeiten oder der Bedeutung des Schlimmsten. Sie alle finden in der reflexiv freien Beschäftigung mit der "Geschichte der Lebendigen und der Toten" ihren gemeinsamen Nenner, der zugleich auf die antipodischen Grenzen von Müllers Gedankengänge verweist: das Leben und der Tod.

Auf historischen, philosophischen wie auch literarischen Spuren versucht der ostdeutsche Philologe der Frage nach dem Wesen der Geschichte nachzugehen. Dabei rekurriert der Titel "Die Tränen des Xerxes" auf eine Anekdote des griechischen Historikers Herodot, in dem er von der Trauer des Barbaren-Königs Xerxes über die Kürze des menschlichen Lebens berichtet. Diese anscheinend historisch motivierte Fragestellung erzeugt vermutlich bei einem Großteil der Rezipienten die mehr oder weniger ansprechende Erwartungshaltung, es handle sich um eine Abhandlung historischer Provenienz, deren trocken-rationaler Gehalt nur ein Historiker zu goutieren wüsste. Realiter trifft der Leser in Müllers "Tränen des Xerxes" auf eine Fundgrube der Unterhaltung, die neben der Auffächerung soziokultureller Horizonte im Spiegel zeitlicher Veränderungen zutage tritt. Im Gewand des Humors gekleidet und unter Einbeziehung des empirischen Ich des Verfassers nehmen die Essays nicht nur Rekurs auf die historische Geschichtsschreibung über Herodot, Thukydides und Ranke beziehungsweise auf Philosophen wie Seneca und Kierkegaard, sondern wenden sich mit nicht minder bedeutendem Gewicht Episodischem zu wie den Käfer-Forschungen des atheistischen Biologen Haldane, den Zeichnungen Buschs, Schnitzlers Tagebüchern oder gar diversesten Foltermethoden im abendländischen Raum.

Stilistisch betrachtet liegt eine besondere Stärke dieses philosophisch-essayistischen Gedankenkonvoluts in den humorvollen Pointen, die "Die Tränen des Xerxes" neben den eher gravitätischen Reflexionen kontrastiv platziert. So etwa in Bezug auf das Ausreizen des Symbolischen im Falle des Sprechens mit den Toten. Müller vergleicht diese Handlung mit den Irren, wie sie in allseits bekannten Witzen geschildert werden. Auf Satzebene sind es die sonderbaren Vergleiche und anschaulichen Metaphern, die Elemente der Komik in die Essays einbringen - wenn etwa dem jungen Arthur Schnitzler in Bezug auf sein Liebesleben Casanova und Don Juan kontrastiv zur Seite gestellt werden oder aber die Demut des Wartens in Müllers Essay "Über die Zeit" in dem Bild der Verabreichung eines starken Abführmittels gezeichnet wird.

Gemäß der Form des Essays unterstehen "Die Tränen des Xerxes" dem freien Prinzip der assoziativen Reihung anstelle der in wissenschaftlichen Arbeiten üblichen syntagmatischen Auseinandersetzung mit einem zentralen Gegenstand. Dementsprechend sind die historischen, literarischen sowie philosophischen Werke, auf die sich Müller bezieht, zwar im Literaturverzeichnis vermerkt und die eingefügten Zitate und Quellenauszüge übersichtlich gestaltet - jene stehen jedoch nicht unter dem Primat der Fußnote. Diese gerät in Müllers letztem Essay "Auf den Flügeln des Gedächtnisses" in der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Überlieferung zur Angriffsfläche; auch das akkurate Zitat erfährt in der metaphorischen Umschreibung als "spanische[s] Hofzeremoniell der Geisteswissenschaften" seine Karikierung.

Burkhard Müller wurde im Jahre 1959 geboren und lehrt als Dozent für Lateinische Philologie an der Technischen Universität Chemnitz. Einen Namen machte er sich bereits mit dem im Jahre 2000 erschienenen Buch "Das Glück der Tiere" sowie der 2005 publizierten Monografie "Der König hat geweint", einer Auseinandersetzung mit der Dramaturgie und dem Geschichtsdenken Friedrich Schillers, an welche "Die Tränen des Xerxes" unmittelbar anknüpfen.

Der seiner Essaysammlung vorangestellten Fragestellung, was es mit der Geschichte auf sich habe, wird Müller in seinen Ausführungen auf obskure Weise gerecht, was damit zusammenhängt, dass in den einzelnen Essays weder ein erneutes Aufgreifen beziehungsweise eine Konkretisierung derselben oder gar eine explizite Beantwortung erfolgt. Dieses scheinbare Manko liegt jedoch in dem Wesen der literarischen Form des Essays selbst begründet und seines bewussten Verzichts auf eine systematische, in sich abgeschlossene Bearbeitung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes.

Die Stärke des Essays reveliert sich gerade in dessen Weitschweifigkeit, der ihn in die Nähe zur Erzählung rückt. Aufgrund der Marginalisierung der aufgeworfenen Frage nach dem Wesen der Geschichte kann auch eine Antwort darauf nur implizit erfolgen. In Stichworten spiegelt sie sich durch einzelne Passagen der Essays hindurch und gerät in diesen zum Ausgangspunkt immer weiterer Reflexionen: von der 'Dauer der Geschichte' in seinen Ausführungen zu Herodots Geschichtsschreibung über Rankes Diktum, jede Epoche sei "unmittelbar zu Gott", gelangt Müller zur "Idee der Vernichtung" durch die unhintergehbare Sequenz von "vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Menschheit". Sie führt ihn zur näheren Betrachtung des individuellen Umgangs mit dem Tod, der Bedeutung der Zeit sowie der Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Ereignissen, in deren Rahmen er die ursprüngliche Fragestellung tangiert. Nicht nur dem Maßstab der offenen Form, der Ablehnung einer streng objektiven Argumentationsweise sowie der Verfolgung eines subjektiven Ansatzes der Vermittlung von Erkenntnissen zufolge erscheint Müllers Essayband als durchaus gelungen. Hervorzuheben sind vor allem die Berührungspunkte von Historischem und Aktuellem in den angeführten agogischen Beispielen und die sprachlichen Leistungen des Verfassers, die "Die Tränen des Xerxes" in den Rang einer lesenswerten philosophischen Abhandlung erheben.

Zu Monieren bleibt jedoch die auffallend hohe Zahl an Rechtschreibfehlern in dem knapp mehr als zweihundert Seiten umfassenden Werk, die durch ordentliches Redigieren von Seiten des Lektorats hätte vermieden werden können. In den "Tränen des Xerxes" tritt Müllers Fähigkeit zutage, mittels seines ungezwungenen Sprachstils und des Talents zur kreativen Veranschaulichung historische und philosophische Sachverhalte nicht allein einer akademischen Leserschaft, sondern ebenso dem interessierten Laien auf unterhaltsamem Wege zu öffnen.


Titelbild

Burkhard Müller: Die Tränen des Xerxes. Von der Geschichte der Lebendigen und der Toten.
zu Klampen Verlag, Springe 2006.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3934920918

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