Spuren eines Lebens

Peter Singer schreibt in "Mein Großvater" über die Tragödie der Wiener Juden

Von Waldemar JagodzinskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Jagodzinski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Juden nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist Gegenstand vieler Untersuchungen. Es gibt bereits unzählige Publikationen, die sowohl die Verfolgung der Juden in Deutschland, als auch in vielen anderen Staaten, wie etwa in der Schweiz, in Österreich oder in Polen beschreiben, um nur einige von den Ländern zu nennen, in denen das Leben der Angehörigen der jüdischen Gemeinde in Gefahr war. In den meisten Büchern konzentrieren sich die Autoren jedoch vor allem auf die Besprechung des Holocausts. Es geht um das Ausmaß der Verbrechen, die Angaben der erschütternden Opferzahlen. Das einzelne Opfer aber bleibt anonym. Überdies wird der Holocaust meist isoliert betrachtet, die Juden werden nur als Opfer dargestellt, ohne dass ihr Beitrag zur kulturellen Entwicklung ihrer Heimatländer gezeigt wird.

Ganz anders geht Peter Singer an das Thema der Shoah heran. In seinem Buch "Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien" stellt er die Wechselbeziehungen zwischen den Juden und der Entwicklung der Wiener Kultur dar. Zu Beginn seiner Studie weist der Autor darauf hin, dass es eben die Gelehrten jüdischer Abstammung waren, die ,,Wiens kulturelles, intellektuelles, musikalisches und künstlerisches Leben auf neue Höhen" führten. Weiter stellt Singer in Bezug auf die Anwesenheit der Juden in Wien fest: ,,Die Existenz einer breiten jüdischen Mittelschicht trug dazu bei, die kritische Masse eines gebildeten Publikums in ausreichender Zahl zu schaffen, um Theater, Oper und Konzerte zu füllen und um Bücher zu kaufen und bei Kaffee und Kuchen in einem der vielen eleganten Kaffeehäuser der Stadt über sie zu diskutieren".

Da David Oppenheim, Singers Großvater, aktiv am kulturellen Leben Wiens teilnahm, verfolgt der Leser nicht nur den Lebenslauf Oppenheims, sondern kann auch verschiedene Veränderungen im gesellschaftlichen Verkehr unter den führenden Intellektuellen Wiens beobachten. Dank der genauen Recherchen Singers kann man zum Beispiel einen Blick hinter die Kulissen der wissenschaftlichen Tätigkeit Sigmund Freuds sowie Alfred Adlers werfen, denn mit beiden Gelehrten hat Oppenheim eine Zeit lang zusammengearbeitet.

In dem Roman ,,Mein Großvater" schreibt Singer in erster Linie über das Leben und Werk seines Großvaters. Der Lebenslauf Oppenheims wurde größtenteils mit Hilfe seiner Briefen rekonstruiert, die er an seine Kinder (Kora und Doris) und seinen Schwiegersohn Ernst Singer schickte. David Oppenheims Jugendzeit hat der Autor anhand der Briefe seines Großvaters an dessen zukünftige Frau erforscht. Leider muss hierbei angemerkt werden, dass Singer sich an manchen Stellen nur auf Vermutungen stützt, weil die Briefe von Amalie Oppenheim geborene Pollak an ihren Freund und zukünftigen Ehemann nicht erhalten geblieben sind. Ob der rekonstruierte Werdegang Oppenheims also der Wirklichkeit entspricht, muss eine unbeantwortete Frage bleiben.

Mit seinem Buch bietet Singer einen Überblick über das ganze Leben des Großvaters: Von der Zeit des Studiums, seiner homosexuellen Neigung und der Bekanntschaft mit Amalie Pollak über die wissenschaftliche und berufliche Tätigkeit bis zu dem grauenhaften Tod, den David Oppenheim erleiden musste. Der Vorzug dieser Arbeit liegt bestimmt darin, dass dank der reichlich zitierten Briefe die Leser den Gedankengang Oppenheims ohne Schwierigkeiten nachvollziehen können. Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist auch die Objektivität des Autors, wobei man nicht vergessen darf, dass es ein Enkel ist, der die Biografie seines Großvaters schreibt.

Wenn Singer die Lehrtätigkeit Oppenheims beschreibt, so beruft er sich, um der wissenschaftlichen Objektivität willen, auf verschiedene Quellen. Sieht Friedrich Heer einen Lehrer in Oppenheim, ,,besessen vom Triebe, Ungeformtes, Keimendes, zu formen und zu gestalten, aus dem Chaos Form zu schaffen", so berichtet Peter Schramke über ,,flammenden Zorn" des Lehrers und Walter Friedmann erinnert sich ,,an Wutausbrüche, die der ganzen Klasse peinlich waren, da sie von einem normalerweise sanften Mann kamen".

Die Ironie des Schicksals besteht darin, dass Oppenheim, der sich vor allem mit der Erforschung des Wesens des Menschseins befasste, mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leib erfahren musste, wie alle humanistischen Werte von den Nazis mit Füßen getreten wurden.

Nach dem Einmarsch haben die österreichischen Nazis Juden gedemütigt, Frauen jüdischer Herkunft mussten die von der SA genutzten Toiletten putzen, in manchen Bezirken wurden die Juden dazu gezwungen, einander zu beschimpfen. Nach einer Woche wurden die Juden enteignet. Eine der größten Enttäuschungen der Naziherrschaft muss für Oppenheim die Tatsache gewesen sein, dass die Nazis keinen Respekt vor Kriegsveteranen hatten. Obwohl Singers Großvater das Goldene Tapferkeitsabzeichen und das Verwundetenabzeichen trug, wurde seine Familie von den Nazis nicht verschont. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Der Höhepunkt der Verfolgung und Ausgrenzung der Juden von Wien war ihre Deportation in Konzentrationslager.

Auch die Familie Oppenheim konnte diesem Schicksal nicht entkommen. David Oppenheim wurde mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert, also an den Ort, wo die Juden, wie die Nazis behaupteten, eine selbstverwaltete Gemeinschaft ohne Repressionen durch SS-Truppen aufbauen sollten. Das war aber eine weitere Lüge, denn in Wirklichkeit herrschten die Nazis. Der Unterschied zwischen Theresienstadt und den Konzentrationslagern bestand lediglich darin, dass die Juden in Konzentrationslagern schneller ermordet wurden.

Singers Werk gehört zweifelsohne in die Hand eines jeden, der sich mit der Geschichte der in Wien ansässigen Juden beschäftigt und bildet eine ausgezeichnete Ergänzung zu anderen Standardpublikationen über den Zweiten Weltkrieg. Für diejenigen, die sich noch nicht für den kulturellen Beitrag der Juden in Wien und für deren Schicksal in der Zeit der Naziherrschaft interessieren, kann dieses Buch die Initialzündung sein. Insgesamt stellt das Buch einen gelungenen Versuch dar, David Oppenheim der Vergessenheit zu entreißen.


Titelbild

Peter Singer: Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien.
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfdietrich Müller.
Europa Verlag, Hamburg 2005.
296 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3203820129

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch