An den Denkmälern der Zeit

Zu Robert Wolfgang Schnells Gedichtband "Erschließung der Wirklichkeit"

Von Ole PetrasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ole Petras

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die späte Edition des lyrischen Werkes Robert Wolfgang Schnells, jetzt von Michael Fisch neben den vielleicht bekannteren Romanen (unter anderem "Erziehung durch Dienstmädchen") für den Parthas Verlag liebevoll und kenntnisreich in Stand gesetzt, wirft nicht ganz unberechtigt zwei Fragen auf. "Wer ist Robert Wolfgang Schnell?" und, nach Lektüre des Bandes, "Warum erst jetzt?" Zumindest auf die erste Frage gibt das Buch Antwort.

Das Gedicht "Elegie IV" formuliert zugleich die Biografie und das Fatum des, so drängt es sich auf, ewigen Bohemien Schnell: "Ach, an den Denkmälern der Zeit stehen wir, / der vergangenen, verschüttet unter Tränen / und alle Gedanken in Trauer gebettet, / um die steinernen Statuen." Ein Vanitas-Gedanke, nicht nur im Gryphius-Zitat der Tränen, mehr noch in der Identität von Kunst und Zivilisation, die der Zeit als Repräsentantin aller Zerstörung entgegenstehen.

1916 in der Nähe von Wuppertal geboren, trat R. W. Schnell in den 1930er-Jahren der Künstlergruppe "Die Wupper" bei. Er desertierte 1944 als Soldat, gründete 1946 die "Ruhrkammerspiele" in Witten, ging ein Jahr später nach Berlin. Arbeitete als bildender Künstler, Schriftsteller, Schauspieler (unter anderem als Hafenpastor in der ZDF-Serie "MS Franziska"). Eröffnete 1959 gemeinsam mit Günter Anlauf und Günter Bruno Fuchs in einem Kreuzberger Hinterhof die Galerie "die Zinke", welche bis zum Mauerbau Treffpunkt von Künstlern aus Ost und West war. Späte Honneurs (so etwa im Jahr 1970 der Von-der-Heydt-Preis der Stadt Wuppertal), Mitglied im PEN, 1986 in Berlin gestorben.

Und jetzt das Schicksal: "Wenn ich wahr sein soll: / Es gibt Stunden, / wo ich den ganzen Bettel Kunst / um eines Schnapses Willen / unberührt in mir liegen lasse", heißt es in "Die Kunst". Der resignative Ton verweist lautstark auf den Stellenwert der "übermüdete[n] Geliebte[n]"; die Distanznahme denunziert eine übergroße Gier nach Kunst und eine ebensolche Verzweiflung, die im Schnaps ertränkt wird. Ein Unglück ist es, lässt sich extrapolieren, Leben und Kunst in Zeiten synonym zu verwenden, die weder auf die Kunst noch das Leben etwas geben. Schicksal ist es, nicht anders zu können.

Vor diesem Hintergrund begegnen uns in dem Gedicht "Abenteuer und Arbeit" drei, in ihrer exaltiert-beiläufigen Verknüpfung ganz ungeheuerliche Bemerkungen. Dass erstens der Reim, der hier als lyrischer Formenkatalog lesbar ist, den Schmerz verhüllt: "[S]o suchte das Kind, / seines erwachsenden Auges erst langsam mächtig, / die Welt der Geburt und des Todes / mit heiterem Reim zu verbinden" - ein psychologisch einwandfreies Vorgehen, gleichzeitig auch ein barocker Gedanke. Dass aber zweitens die Hinwendung zur Droge, welche metonymisch ein avantgardistisches Milieu figuriert, in dem das Textsubjekt sich fortan zu verorten wünscht: "Jene Schreibenden wurden zu der Zeit von mir bewundert,... / Die dafür seltsamen Mohn tranken", dass diese Affinität zur Subkultur mit einer Abkehr vom Reim einhergeht: "Zerhackte die Sprache und mich / und auf eine Tafel schrieb ich die Namen meiner Helden." Dass also das Ausscheren aus dem Konvoi der artistischen Beherrschung, des immer flüchtigen Reimes auf die Tatsachen der Welt, den Schmerz (respektive die leere Idealität) als eine Art Totem mit sich führt. Klingt schon moderner. Dass schließlich drittens die Nazis sich in der Zerschlagung des beschriebenen Milieus und der Verfolgung der als entartet diffamierten Künstler selbst als eine Avantgarde des Schmerzes und der Leere positionierten.

Die verwandelnden Lektüren der Wirklichkeit werden von der sich wandelnden Realität eingeholt, und überflügelt. Die "Entautomatisierung der Wahrnehmung", wie es die russischen Formalisten nannten, oder das, wie Roland Barthes später schreiben wird, "heilsame Überlisten der Sprache" verklären sich zur blassen Theorie angesichts faktischer Barbarei. Die Synonyme verlieren einander aus den Augen, setzt man für die Kunst beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Expressionismus und für das Leben analog die Konfrontation mit dem Nazismus.

So beschreibt "Abenteuer und Arbeit", in der Verschleifung barocker Vanitas-Motive mit einem genuin modernen Bewusstsein, den Faschismus als ein auch ästhetisches Problem. Die Vielfalt von Bedeutung und Form, die Lust an neuen Einschreibungen, dieses vielzimmerige Haus der Kultur, wird hier nicht eingerissen, aber die konstanten Differenzen in der faschistischen Rede veröden das Land. Wer also wäre noch in der Lage Rimbauds "Une saison en enfer" zu lesen und zu begreifen, "während sie [...] schrecklichere Höllen schufen, / als je die Propheten des Grauens erdachten"?

Sicherlich finden sich derartige Überlegungen in zahlreichen Arbeiten der so genannten Nachkriegslyrik, und bereits in den literarischen Bewältigungen des ersten Weltkriegs; nicht zuletzt Gottfried Benn gelingt die Reanimation des in völkischen Enzianpoemen kollabierten Reimes. Robert Wolfgang Schnell hingegen bewahrt sich ein trotziges Staunen, ein Trotzdem der Kunst als zivilisatorische Kraft, die an einen umso größeren Schrecken denken lassen, eine umso größere Menschlichkeit, die sich eine "Erschliessung der Wirklichkeit" noch leistet: "Ach, an den Denkmälern der Zeit stehen wir" [Schnell] / und "sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!" [Gryphius].

Die Darstellung verknappt das stilistische und motivische Panorama der in diesem schönen Band aus einem nur 70 Jahre währenden Leben versammelten Gedichte. Die Ignoranz der Kreuzberger Laufkundschaft und die Flucht in den Alkohol illustrieren die beschriebene Dichotomie ebenso gut wie die zitierten Texte. Der unbedingt Wille zur Kunst bleibt. Schnells Gedichte verweigern sich der "Stunde Null"; sie stehen bewusst in einer, so paradox es klingt, avantgardistischen Tradition. In diesem Punkt waren sie ihrer Zeit voraus; vielleicht eine Antwort auf die Frage, warum erst zwanzig Jahre nach dem Tod des Autors eine Edition erfolgt. Man sollte einen Blick riskieren.


Titelbild

Robert Wolfgang Schnell: Erschließung der Wirklichkeit. Gedichte.
Herausgegeben von Michael Fisch.
Parthas Verlag, Berlin 2006.
246 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3936324190

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch