Für immer jung

Die Ton Steine Scherben und eine Autobiografie zur Selbstreflexion der bundesdeutschen Linken

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne "Ton Steine Scherben" (TSS) gäbe es wahrscheinlich keine deutsche Popmusik. Auch heute noch beziehen sich zahllose deutschsprachige Musiker auf die Band, die von Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er-Jahre zu einer der ambitioniertesten und engagiertesten deutschen Formationen im Popmusikhimmel gehörte. 1985, als sich die Band auflöste, war zwar vorerst nach einem gleichnamigen Songtitel "der Traum aus", ihr Sänger Rio Reiser machte jedoch danach noch einige Zeit weiter und vergrößerte den Stammkreis der Hörer.

Das besondere an "Ton Steine Scherben" war zweifellos ihr politischer Anspruch. Sie wollten nicht nur politisierte Studenten und 68er mit ihrer Musik ansprechen, sondern auch Lehrlinge und einfache Handwerker. Dieser Anspruch, das so genannte "einfache Volk" zu vertreten, führte - besonders nach ihrer Auflösung - zu einer Art Umdeutung der Band. Der von Wolfgang Seidel, selbst einmal Schlagzeuger bei den Scherben, herausgegebene Sammelband scheint sich vor allem dem Schwerpunkt der Zurechtrückung dieses politischen Vermächtnisses der Gruppe verschrieben zu haben.

Wie Ralf Fischer in seinem Beitrag anmerkt, mussten sich die "Erben der Scherben" nämlich besonders der Vereinnahmung Reisers & Co durch deutschtümelnde Burschenschafter und selbsternannte rechte Barden erwehren. In seinem Artikel "Lechts und Rinks sind nicht zu verwechseln. Aufklärung über einen weit verbreiteten Irrtum" (der Titel knüpft an ein Zitat des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl an) schreibt er sogar von Bündnisangeboten Kühnens, des Führers der rechtsextremen Szene an die autonome Linke und kommt zu dem Resümee, dass die "latente Volksfreundlichkeit vieler deutscher Linker [...] der radikalen Linken heute auf die Füße fällt". Nicht nur im Berliner "Häuserkampf" würden die Parolen der Linken von den Rechten beliebig geklaut werden, sondern auch bisher ausschließlich "linke Codes" von ihnen vereinnahmt werden. Die von ihm so genannten "völkischen Anarchisten" würden darüber hinaus auch Texte von "Ton Steine Scherben" vereinnahmen und ihnen eine neue "deutschtümelnde Tendenz" andichten.

Auch Ted Gaier (Mitglied der Band "Die Goldenen Zitronen") wehrt sich in seinem Artikel gegen die Vereinnahmung der TSS als "Nationalkünstler". "Beim Thema Ton Steine Scherben", schreibt er, "kommt man nicht um die Fragen herum, was Leute früher wollten, wo sie heute stehen und was sie heute behaupten, früher gewollt zu haben". Sicherlich wird hier auch eine Art Abrechnung mit jenem Teil der Linken gemacht, der sich als grüner Parteikader bis an die Spitze der Regierung der deutschen Republik vorgearbeitet hat. Das Postulat "wir haben gesiegt", weil Fischer Außenminister wurde, stellt Ted Gaier dann auch folgerichtig in Frage. Auch auf ein Claudia Roth-"bashing" kann von seiner Seite nicht gänzlich verzichtet werden. Ein Werbeplakat zeigt sie im bayrischen Dirndl vor einer "Szene aus dem multikulturellen Deutschland" und spricht Bände. Dass der vorliegende Sammelband vor allem auch eine Selbstverortung der deutschen Linken - nach dem Motto "was wir wollten, was wir wurden" darstellt, wird hier selbstredend in den Vordergrung gerückt und stellt als Metaebene die Fläche dar, auf der diese Geschichte der Band projiziert wird.

Dass die Scherben in den 1980ern ihre bis dahin bestehende Authentizität völlig eingebüßt hätten, belegt Ted Gaier daran, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden habe, der an den Scherben offensichtlich völlig vorbeigegangen sei. Politisch motivierte Popmusik würde sich heute nicht mehr durch Utopiesehnsucht, sondern durch Negation der bestehenden Verhältnisse äußern. Dennoch muss auch Ted Gaiers kritischer Beitrag zu den Scherben unumwunden zugeben, dass die TSS für ein größeres "Wir" standen und eine Bewegung, die es heute eben nicht mehr gibt. Als authentischer Ausdruck ihrer Zeit und des von ihnen verkörperten Lebensgefühles gehen sie aber allemal durch.

Weitere Beiträge, auch von Ex-Bandmitgliedern, finden sich zum Beispiel in Form von Lyrik oder in Interviews mit Zeitgenossen. 18 verschiedene Autorinnen und Autoren beleuchten das Phänomen "Ton Steine Scherben" aus verschiedenen Perspektiven und ermöglichen ein kritisches und distanzierteres Urteil zu der deutschen Popband schlechthin. Natürlich wird auch der visuelle Aspekt in diesem Buch berücksichtigt und neben mehreren S/W-Fotos von Konzerten findet sich anderes authentisches Material (Flugblätter, Plakate, etc.) in diesem würdigen Erinnerungsband. Dass die Scherben nicht nur irgendeine Band waren, sondern ein autonomes politisches Konzept, eine Utopie des Kollektivs, das vom "kapitalistischen Realismus" bald eingeholt wurde und so heute nur mehr als einfache "Popband" wahrgenommen wird, ist ein Verdienst, auf das dieses Buch - zu Recht - mehrmals verweist.

Und dass die Scherben auch heute noch "leben" beweisen die vielen Coverversionen, die von verschiedensten Bands (HipHop, Pop, Rock) in jüngster Zeit gemacht wurden, oder auch der Beitrag von Thies Marsen "Fresenhagen revisited" am Ende des Buches. In besagtem Ort gibt es nämlich eine Rio-Reiser-Gedenkstätte, die von seinen Brüdern betrieben wird und wie ein Jugendhotel funktioniert. Wer also Lust auf deutschen Starkult hat, pilgere nach Fresenhagen und buche eine Nacht für 25 Euro - Besuch der Grabstätte Reisers inklusive. Die befindet sich nämlich im Garten des Hotels.


Titelbild

Wolfgang Seidel (Hg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben.
Ventil Verlag, Mainz 2006.
251 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3931555941
ISBN-13: 9783931555948

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