Wie sag ich´s meinem Kinde

Annette Wieviorkas Kinderbuch zu Auschwitz

Von Roland KroemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roland Kroemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung." Adornos Gebot hat nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil: Je weiter wir uns zeitlich vom Holocaust entfernen, desto dringlicher wird die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Erinnerung. Wie einem Kind das Unerklärbare erklären? Viele Eltern schrecken davor zurück und überlassen den Pädagogen die Aufklärung. Doch ob Schule dieser Aufgabe gewachsen ist, muss bezweifelt werden. Alarmierend jedenfalls ist eine kürzlich erschienene Studie, nach der jeder fünfte Jugendliche auf die Frage "Wer oder was ist Auschwitz?" nicht zu antworten weiß.

Eine Orientierung für Eltern, die ihre Kinder selbst ans dunkelste Kapitel deutscher Geschichte heranführen wollen, bietet die französische Historikerin und Holocaust-Forscherin Annette Wieviorka. "Mama, was ist Auschwitz?", fragte ihre 13-jährige Tochter Mathilde, nachdem sie das erste Mal die eintätowierte Nummer am Arm einer Überlebenden gesehen hatte. "Alles, was sie bisher mitbekommen hatte, zu Hause, im Fernsehen, in Filmen oder in der Schule, wurde mit einem Schlag leibhaftig und in besonderer Weise real." Schnell entwickelt sich zwischen Mutter und Tochter ein Gespräch, das die zentralen Fragen zur Shoah umkreist - Anlass für das nun erschienene Buch.

Wer angesichts des Titels und der kindgerechten Illustrationen ein Buch erwartet, das einem Erwachsenen keine neue Informationen zu bieten hat, wird überrascht sein. "Aufgefallen ist mir, dass Mathilde genau die Fragen stellte, die ich mir auch unablässig gestellt habe. Fragen, die nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Reflexion der Historiker und der Philosophen beherrschen." Wieviorka führt nicht nur die zentralen Fakten und Daten an, die in keiner Einführung zum Holocaust fehlen dürfen. Auf gerade mal 90 Seiten gelingt es ihr auch, ihre Erklärungen durch weiterführende Details und Verweise auf andere Ereignisse plastisch zu machen. So wird der Begriff "Genozid" nicht nur vor dem Hintergrund von Auschwitz, sondern auch durch die Erwähnung anderer Völkermorde im 20. Jahrhundert (Armenier, Tutsis) erklärt. Um das Problem von Befehl und Gehorsam zu veranschaulichen, stellt Wieviorka das Milgram-Experiment vor. Sie erwähnt Lanzmans "Shoah" ebenso wie Spielbergs "Schindlers Liste".

Trotz dieser Fülle an Themen geht es Wieviorka keineswegs nur um bloße Wissensvermittlung. Zahlreiche Zitate aus Romanen, Erinnerungen und Tagebüchern sollen die Dimension des "Zivilisationsbruchs" (Dan Diner) begreifbar machen. Auch diffizile Problemfelder werden nicht ausgespart. Das Spektrum reicht von der Frage, warum die Alliierten die Konzentrationslager nicht bombardiert haben, bis hin zu der in der Forschung noch immer herumgeisternden - scheinbar heiklen, in Wirklichkeit aber nur zynischen - Frage nach einer möglichen Mitschuld der Juden am Holocaust.

Eines ist klar: Wieviorka ist Historikerin. Keine Kinderbuchautorin. Ob "Mama, was ist Auschwitz?" tatsächlich eine geeignete Lektüre für 13-jährige ist, muss bezweifelt werden. Nicht nur die Materialfülle, auch die Sprache erschwert das Verständnis. Nur selten finden sich im Buch Sätze wie der folgende: "Als Hitler merkte, dass er den Krieg verlieren würde, hat er sich dennoch gefreut, denn Europa würde alle seine Juden los sein." Ansonsten aber erinnert der Stil eher an den einer populärwissenschaftlichen Einführung. Zwischen dem Buchtitel und dem Niveau des Textes klafft ein Spalt. Auch deshalb sollten sich Eltern die Zeit nehmen, das Buch mit ihren Kindern gemeinsam zu lesen.

Titelbild

Annette Wieviorka: Mama, was ist Auschwitz? Aus dem Französischen von Manfred Flügge/Mit Illustrationen von Frauke Berg und Theresia Koppers.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 2000.
96 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3898340090

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