Die Pflanzenwelt der Buchstaben

Yoko Tawada publiziert in ihrem Band "Sprachpolizei und Spielpolyglotte" wieder Essays über die deutsche Sprache

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mandelmus" und "Jandelmus", "emeth" und "meth": Kleine, einsame, unschuldige Buchstaben entscheiden manchmal über Sinn und Unsinn. Oder über Leben und Tod. Als Rabbi Löw, so erzählt eine Legende, in Prag den Golem erschuf, damit er ihm diene, schrieb er ihm das Wort "emeth" auf die Stirn: "die Wahrheit". Und der Golem lebte. Die ganze Woche über erledigte er seinen Dienst. Um ihm das Leben zu nehmen, musste Rabbi Löw nur den ersten Buchstaben, das erste e, wegnehmen, dann heißt das Wort "meth": tot. Ein einziger Buchstabe entscheidet über Leben und Tod: "Was mich (...) erschreckte, war nicht das Chaos, das der Golem daraufhin beim Gottesdienst in der Kirche anrichtete, sondern wie einfach Rabbi Löw dem Golem das Leben wieder entziehen konnte. Das Leben des Golem war vollkommen abhängig vom Buchstaben."

Derart phantasievoll und aufmerksam mit allen Sinnen auf die Sprache gerichtet sind die neuen Essays der Japanerin Yoko Tawada, aus denen das Zitat entnommen ist. Über Rabbi Löw sinnt sie weiter: "Rabbi Löw muss sich aber, als er den Golem schuf, stark daran erinnert haben, dass auch sein eigener Körper eigentlich aus Buchstaben besteht. In der kabbalistischen Schrift 'Das Buch der Schöpfung' steht, dass die Welt aus 22 Buchstaben geschaffen wurde. Gerade Rabbi Löw, der selbst durch Buchstaben den Golem schuf, muss gespürt haben, dass auch sein eigener Körper sich auflösen und wieder in eine bestimmte Anzahl von Buchstaben verwandeln könnte."

Zwei Zeilen in einem Gedicht von Paul Celan, den die Autorin gerade las, beschäftigten sie dann weiter. In "Einem, der vor der Tür stand" ist die Zeile "Wirf auch die Abendtür zu, Rabbi" eingerahmt von zwei Reihen von Punkten: die erste 13, die zweite 14 Punkte lang. Danach kommt die Schlusszeile: "Reiß die Morgentür auf, Ra -". Nach einer durchwachten und durchrechneten Nacht kam sie darauf, dass die Zahl 13 wie ein B aussieht, und die 14 ist ein B + 1, was wie ein B1 aussieht, sodass der Rabbi die letzten drei Buchstaben doch noch bekommt: BB1, oder bbi.

Derart umherschweifend sind Yoko Tawadas Essays, auch ihre Geschichten und Theaterstücke, immer. Es gibt oft nicht unbedingt einen roten Faden, es geht stark assoziativ zu. So ist es eben in Essays: Da geht es ja auch immer wieder durcheinander, bis der Autor hoffentlich alles wieder zusammenknüpft. Und sei es durch die Thematisierung seiner eigenen Person.

Bei Tawada ist es die Sprache und das Erstaunen über sie. Die Japanerin, 1960 in Tokyo geboren, hat ab 1982 in Hamburg studiert, lebt jetzt in Berlin und hat sich deshalb bis heute einen Außenblick auf das Deutsche bewahrt. Ihr fallen manchmal Kleinigkeiten auf, die wir für selbstverständlich halten, weil wir einfach an sie gewöhnt sind. Das ist das Schöne an Tawadas Essays.

Und so sieht sie Wörter und die Wörter in den Wörtern ("la vie" in "Klavier"), sinniert über Zwang und Regeln der Sprachen, findet in der Bahnhofsstahlarchitektur die römischen Ziffern X, V und I wieder, denkt über das O bei Kleist und in seinen japanischen Übersetzungen nach und freut sich, dass ihr Vorname Yoko ebenso viele o's wie "Gogol" hat. Sie schreibt über die Metamorphosen von Goethes Lied "Das Heideröslein", das auf Japanisch so anfängt: "Warabe wa mitari / nonaka no bara" und kommt von dieser Pflanze über den Botaniker Goethe zu einem Roman von ihm: "Ottilie ist eine Pflanzenfigur, die in den Garten namens 'Wahlverwandtschaften' gepflanzt wird und dort ebenfalls schweigt. Walter Benjamin schreibt in seinem Aufsatz 'Goethes Wahlverwandtschaften' über Ottiliens 'Pflanzenhaftes Stummsein'. Es gibt viele weitere Stellen, die auf Ottilies Zugehörigkeit zur Pflanzenwelt hinweisen."

Ein wenig selbstverliebt manchmal, ab und zu etwas oberflächlich - vor allem in den Passagen über Japan - und sogar ein wenig redundant schreibt sie. Trotzdem sind doch immer noch viele linguistische und zungenspielerische Perlen bei ihr zu finden, erstaunliche und witzige Funde in dem, was wir unsere Muttersprache nennen und zu kennen vermeinen. Die Sicht von außen zeigt, wie viel Reichtum in ihr versteckt liegt.


Titelbild

Yoko Tawada: Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Literarische Essays.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2007.
160 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783887693602

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