Psychoanalytiker und Dichter

Aus Anlass des 50. Todestages: Alfred Döblin und Sigmund Freud

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 20. Juni 1957, im Alter von fast 79 Jahren starb der Arzt, Psychoanalytiker und Dichter Alfred Döblin. Er war gut zwei Jahrzehnte jünger als der 1856 geborene Sigmund Freud, zu jung und vor allem literarisch zu modern, als dass der in seinen literarischen Vorlieben eher konservative Freud sich für ihn interessiert hätte.

Dabei hatten sie einiges gemeinsam. Beide waren jüdischer Herkunft, beide entwickelten früh ausgeprägte Neigungen zur Literatur, beide studierten Medizin, waren zum Teil ziemlich enttäuscht davon und sahen sich besonders angezogen von der Psychiatrie, und beide arbeiteten an ähnlichen Problemfeldern. Döblin publizierte wissenschaftlich über Gedächtnisstörungen, Melancholie, Hysterie und Wahnbildung, also über Themen, die auch Freud ständig beschäftigten.

Döblins kürzlich neu gedruckte Dissertation über "Gedächtnisstörungen bei der Korsakowschen Psychose" beobachtete und reflektierte 1905 ein damals wie heute in diversen Wissenschaften viel beachtetes Phänomen: das Erinnern und Vergessen, die Fähigkeit des Gedächtnisses, Vergangenes gegenwärtig zu halten, sowie die Folgen einer Beeinträchtigung dieser Fähigkeit. Freud wiederum hatte schon vor der "Traumdeutung" Aufsätze "Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit" und "Über Deckerinnerungen" veröffentlicht.

Über Alfred Döblins Beziehung zur Psychoanalyse ist viel geschrieben worden. Er hat seinerseits oft über Freud und die Psychoanalyse geschrieben. Und er hat sich dabei mehrfach selbst als Psychoanalytiker bezeichnet. Döblin kann neben Autoren wie Hans Keilson oder Richard Huelsenbeck zu jenen Repräsentanten der literarischen Moderne gezählt werden, die neben ihrer literarischen Tätigkeit selber psychoanalytisch tätig waren. Ende 1921 schrieb er: "Von meiner seelischen Entwicklung kann ich nichts sagen; da ich selbst Psychoanalyse treibe, weiß ich, wie falsch jede Selbstäußerung ist." Auch später noch, im Zusammenhang der Debatten über "Berlin Alexanderplatz", bekannte er sich zu seinen psychoanalytischen Praxiserfahrungen: "Vor allem habe ich meine Technik aus der psychoanalytischen Tätigkeit", erklärt er am 18. September 1931 in einem Brief an Julius Petersen, um die Unterstellung formaler Imitationen von Joyce zurückzuweisen. Und im selben Kontext schreibt er am 9. Oktober 1947 an Paul Lüth, er kenne die "Assoziationstechnik" genauer als Joyce, "nämlich vom lebenden Objekt, von der Psychoanalyse". Dazu passt die Mitteilung Robert Minders, Döblin habe schon 1914 bei seinen Patienten die psychoanalytische Methode angewandt und sich 1920 einer Lehranalyse bei Ernst Simmel, einem der großen Psychoanalytiker der Epoche, unterzogen. "Lehranalyse" bedeutete damals freilich anderes als heute. Freuds Schüler absolvierten sie zum Teil auf gemeinsamen Spaziergängen.

Nicht ganz klar ist, wann Döblin mit der Psychoanalyse in Berührung kam. Dagegen, dass schon seine Dissertation von der Vertrautheit mit der Psychoanalyse zeuge, wie der Katalog zur Marbacher Döblin-Ausstellung 1978 behauptete, wurde mit Recht eingewendet, dass dort kein Hinweis auf Freud zu finden ist. Schon wegen der rigorosen Ablehnung der Psychoanalyse durch seinen Doktorvater Hoche habe Döblin das gar nicht wagen können. Einen ersten ausdrücklichen Verweis auf Freud, auf die "Psychopathologie des Alltagslebens", enthält erst Döblins 1909 erschienener Aufsatz "Aufmerksamkeitsstörungen bei Hysterie". Doch in der Dissertation bereits kann man Sätze lesen, die einen im Hinblick auf mögliche Freud-Kenntnisse stutzig machen.

Die vollständige Fassung erscheint in der November-Ausgabe von literaturkritik.de.


Titelbild

Alfred Döblin: Kleine Schriften IV.
Herausgegeben von Anthony W. Riley und Christina Althen.
Walter Verlag, Düsseldorf 2005.
709 Seiten, 54,90 EUR.
ISBN-10: 3530166928

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alfred Döblin: Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose. Mit einem Nachwort von Susanne Mahler.
Tropen Verlag, Berlin 2006.
112 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3932170865
ISBN-13: 9783932170867

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