Lebenslinien

Zur deutschen Erstveröffentlichung von Caroline Pikettys "Ich suche die Spuren meiner Mutter"

Von Alice HuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alice Huth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Caroline Piketty, die Autorin des jüngst in deutscher Übersetzung bei Nagel und Kimche erschienen Buches "Je cherche les traces de ma mère", erfindet keine Geschichten, sie sucht und verzeichnet sie. Mit den Menschen, die zu ihr ins Archiv für Dokumente über die Enteignung und Verfolgung der Juden während des Vichy-Regimes kommen, folgt sie den Spuren der vor 60 Jahren Verschleppten und Ermordeten auf dem Papier.

Anhand von Karteikarten, Denunziationsschreiben, Bittschriften und Inventarlisten, die die erst seit den 1990er-Jahren zugänglichen Akten des Kommissariats für Judenfragen füllen, vernetzt Piketty die Lebensstationen der Verfolgten und rekonstruiert so eine Topografie des Erinnerns. Das Paris der Besatzungszeit belebt sich wieder, der Eierhändler Mendel schließt sein Geschäft in der Rue de Rosiers, der Schneider Chaim wird aus der Nähstube geholt, der Gemüsehändler Davidoff von Frau und Kind getrennt.

Doch nicht nur den Opfern, vor allem ihren Nachkommen gilt Pikettys Recherche. In loser Folge berichtet sie von Besuchen dieser "ewigen Kinder", die nach Jahren der Ungewissheit mithilfe knapper Angaben über Besitzstand, Aussehen und Verhalten ihrer Eltern das Mosaik ihrer Geschichte zusammenfügen. Sie beschreibt die Gestik der Suchenden, ihre Art, sich in Akten zu vertiefen und darüber zu sprechen, Vertrauen wie Zurückhaltung gegenüber der Fremden signalisierend, die ihre Geschichte buchstäblich aus der Versenkung, den weit verzweigten Gängen des Nationalarchivs, zu Tage fördert. Piketty integriert ihre Fundstücke, Originaldokumente aus den 1940er-Jahren, im Wortlaut in den Erzähltext. In der Lektüre begegnen die Kinder der Opfer kommissarischen Verwaltern und anonymen Denunzianten. Davidoff junior erfährt über die Enteignung seines Vaters: "Es ist ein völlig unbedeutender Laden, zumal das Geschäft noch weniger Wert hat, da die Kundschaft fast ausschließlich jüdisch ist. Selbstverständlich habe ich ihn im Handelsregister löschen lassen und die Weiterführung des Geschäfts verboten, was nicht ohne Schwierigkeiten abging, da er Vater eines Kleinkindes ist und keinerlei Vermögen hat." Der Lesende ist älter, als sein Vater wurde, doch er weint noch heute mit der Verzweiflung des 6jährigen Jungen um seinen Verlust.

Piketty setzt den Stimmen der Nazi-Bürokratie einen zurückhaltenden, selbstreflexiven Umgangs- und Erzählton entgegen. So überführt sie Zeichen des Todes - "B steht für 'sofort zu deportieren'", übersetzt sie einem Nachfahren - wieder in Lebenslinien und wird von einer Archivarin zur Erzählerin. Indem sie die historischen Dokumente dem Dialog mit Besuchern und Lesern nachordnet, löst sie sich von Instrumentarien, die schon dem nationalsozialistischen Verwaltungsapparat dienten. Nach dem langen Schweigen der Nachkriegsbehörden wird den Leidtragenden endlich ein offenes Gespräch angeboten. Dabei sind die Schritte der Suchenden oft unsicher. Auslassungen, Verschiebungen, Stockungen und Wiederholungen erschweren die Arbeit der Archivarin. Wo das Vergangene nicht entstellt wird, überschwemmt es die Gegenwart: "Ich komme aus Auschwitz und möchte wissen, warum mein Vater erschossen wurde, während ich weg war", eröffnet Fanny, eine kleine, über 70jährige Dame das Gespräch. Fanny wird, wie viele andere, auch im Archiv keine Antwort auf ihre Lebensfrage finden, doch immerhin schenkt man ihr hier Gehör. Sie ist mit ihrer Wahrnehmung nicht allein: Im Geschichtsbewusstsein der Überlebenden und Ihrer Kinder ist die Vorstellung historischer und genealogischer Linearität gebrochen. Auschwitz erscheint als "ein herausgehobenes Ereignis, das dadurch Ursprungscharakter erhält" (Sigrid Weigel) und nie zu Ende geschrieben werden kann. Auch diesem Moment der Unabschließbarkeit wird Pikettys vorsichtiges, immer zur Revision getroffener Annahmen bereites Schreiben gerecht.

Nur gelegentlich, etwa wenn die Autorin einen deutschen Studenten auf den Decknamen Fritz tauft, um ihn und den Leser von Gefahren der "deutschen Tüchtigkeit" zu unterrichten, oder wenn sie ehemaligen Auschwitz-Inhaftierten erläutert, ihre Arbeit ähnele einer "Schatzsuche nach schmutzigen Angelegenheiten", wünscht man ihr etwas mehr Vorsicht in ihren Be- und Zuschreibungen. Dann, scheint es, greift die Archivarin lieber mal zur Etikette als nach dem rechten Wort zu suchen.

Auch in Bezug auf das Problem finanzieller 'Wiedergutmachung' der Schuld lässt der Text viele Fragen offen. Piketty reagiert irritiert, als eine ältere Dame, deren Vater aus nie geklärten Gründen deportiert wurde, mit dem Verweis auf den jüdischen Vornamen ihrer Großmutter um Entschädigung bittet. "Diese Geschichte, die von Namen handelte und sich um Geld drehte, tat mir weh", notiert sie. "Ich habe recherchiert, aber ohne Überzeugung." An dieser Stelle möchte man die Erzählerin, die immer wieder auf den Treppen des Archivs ins "Labyrinth unseres Inneren" hinabsteigt, daran erinnern, dass die Entschädigungen den Nachgeborenen oft anstelle des Zuhörens zugesprochen wurden und, symbolisch, die Möglichkeit einer Wiederherstellung verlorenen Glücks versprachen. Ob hinter dem Namen das Geld steht, oder hinter der finanziellen Forderung der Name - Rahel - als Zeichen verlorener Identität, ist fraglich. Möglicherweise wäre ein solcher verborgener Zusammenhang im Gespräch mit der Enkelin offenbart worden.

Pikettys Widerstreben gegenüber Geschichten wie dieser verweist auf eine Problematik, die auch den Leser betrifft: In der wissenschaftlichen und emotionalen Auseinandersetzung mit NS-Geschichte stoßen nicht nur die Kinder der Opfer an die Grenzen ihres Vorstellungs- und Begriffsvermögens. Gut, dass Piketty in ihrer Arbeit und in ihren Erzählungen zeigt, wie schwierig und lohnend es ist, die schmerzhafte Wahrheit zu hüten und ihr auf den Grund zu gehen.


Titelbild

Caroline Piketty (Hg.): Ich suche die Spuren meiner Mutter.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Aumüller.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2007.
158 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783312003938

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