Prima la musica, dopo le miracle

Jean Starobinski erzählt von Macht und Verführung der Oper

Von Anne PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum gehen wir eigentlich in die Oper? Oder, anders gefragt, warum wollen wir, selbst wenn wir nie in die Oper gehen, dass sie ihren angestammten Platz in der Kulturlandschaft behält? Sir Peter Jonas, der ehemalige Intendant der Bayerischen Staatsoper, nannte die Oper einmal ein "Krankenhaus der Seele". Deshalb sei Sparen beim Musiktheater Raubbau an der Gesundheit der Gesellschaft. Der Autor und Filmemacher Alexander Kluge sieht in der Oper keine Heilanstalt oder Trostwerkstatt seelenkranker Musiktheaterliebhaber, sondern ein "Kraftwerk der Gefühle". Diesen Gedanken führt wiederum der Komponist Wolfgang Rihm weiter und gelangt zu dem schönen Bild eines Gehirns, in dem die Gefühle nicht nur fühl- sondern auch denkbar seien. Die Oper als "Bewusstseinssitz", als Ort, an dem Denken und Imagination für ein Gemeinwesen stets aufs Neue versinnlicht, kommuniziert, legitimiert und wieder infrage gestellt werden können. Eine unmögliche Institution also, die gerade daraus ihre Faszination bezieht.

Das Musiktheater be- und hinterfragt, was es für sich und für das Gemeinwesen ausmacht, auch wenn dabei - so nachzulesen im "Musik Almanach 2007/08" - die Publikumsrenner immer und immer wieder "Die Zauberflöte", "Carmen", "Don Giovanni" und "Così fan tutte" heißen. Es muss dann darum gehen, den "Zauber der legendären Vergangenheit in einen gegenwärtigen Zauber verwandeln" zu können, schreibt Jean Starobinski. Für dieses über Trost, Gefühl und Verstand hinausschießende Element der Oper interessiert sich der Genfer Ideengeschichtler Starobinski in seinem Buch "Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper". Er spürt der magischen Kraft der Oper nach, die es ermöglicht, ihr Publikum durch Fiktionen hin- und wegreißen zu lassen. Zu Recht hebt Starobinski hervor, dass der Zauber der Stoffe von einst, ihr Mythos, bereits damals als Mythos aus einer anderen Zeit, einer nahezu prähistorischen Epoche, hinüberwehte. So erweist sich die große Weber'sche Erzählung von der entzauberten modernen Welt mit ihrer angeblichen Überwindung des magischen Denkens selbst als ein Mythos. Wir versichern uns zwar permanent untereinander, nicht mehr an die mythischen Erzählungen zu glauben, handeln dann aber ganz anders - oder kaufen uns gleich eine Opernkarte.

Starobinskis aus dem Französischen übersetztes Buch - im Original heißt es "Les Enchanteresses" und betont damit stärker als in der Übersetzung den Gesangspart im Musiktheater - gliedert sich in drei Hauptteile, denen ein langer, ouvertürenartiger Eröffnungssatz vorangestellt wird. Diejenigen, die aufgrund des Buchtitels erwarten, dass hier etwas über die weibliche List, über Machtstrategien und deren mögliches Scheitern bei zentralen Frauenfiguren der Oper, über das Geschlechterverhältnis oder gar das Ewig-Weibliche zu lernen wäre, dürften enttäuscht werden. Erst spät erfahren wir, dass es Starobinski darum geht, Beweise für das Fortdauern eines Bildersystems in der europäischen Kultur zu sammeln. Noch ein paar Seiten später spitzt er dieses Leitmotiv zu und fragt, "wie die Bezauberung recht eigentlich zur Angelegenheit des Künstlers geworden ist, zur Macht, die er sich aneignet, und zum Bild, das er von sich zeichnet." Starobinski betont, kein Register der Verführerinnen aufstellen zu wollen. Es geht also weniger um die Zauberinnen, oder die Kontinuitätslinie eines Bildersystems dieser Zauberinnen, sondern eigentlich um die Machtstrategien der Künstler. Es handelt sich dabei seit jeher immer schon um einen Medienstreit: Welche Zauberkraft ist stärker, das Wort oder die Musik?

Anstelle einer zentralen These finden wir mehrere Miniaturthesen, die zwar sehr interessant sind, sich aber auch schnell wieder verlieren und überdies einige wichtige Quellen nicht nutzen. So verhandelt beispielsweise sein ebenfalls noch innerhalb der Einführung entfaltetes Kapitel "Warum Nietzsche 'Carmen' vorzieht" den in die Kulturgeschichte eingegangen Bruch Nietzsches mit Wagner und den Vorwurf an den Komponisten, die Verführungskraft des Gesamtkunstwerkes auf die eigene Person gelenkt zu haben. Starobinski versichert seinen Lesern, dass Nietzsche Georges Bizets "Carmen" höher einschätzte als das Werk Richard Wagners. Dabei lässt er unberücksichtigt, dass Nietzsches "Carmen"-Euphorie eine, so Nietzsche, "ironische Antithese" darstellt. Schon 1980 legt Martin Gregor Dellin auf der Grundlage von Nietzsches Selbstaussagen in seinen Briefen dar, dass die Bizet-Begeisterung des Philosophen nicht so ernst genommen werden dürfe.

Der erste Hauptteil des Buches widmet sich ausführlich den großen Mozart-Opern. Neben "Idomeneo" und der "Zauberflöte" geht Starobinski intensiv auf die Lorenzo da Ponte-Opern und das besondere Verhältnis zwischen Mozart und seinem Librettisten ein. Da die Worte beim Gesang häufig schwer zu verstehen sind, sahen beide die Aufgabe und damit verbunden die Zauberkraft des Librettos in der Kunst des Ungefähren. Dass bei diesem einzigartigen Verhältnis zwischen Komponist und Dichter das Primat bei der Musik lag, ändert für Starobinski aber gerade nichts an der Tatsache, dass Ponte als Schriftsteller zu lesen sei. Starobinski kontrastiert diesen Standpunkt mit der an Jean-Jaques Rousseau angelehnten Haltung des Opernreformers Christoph Willibald Gluck, sich dem Diktat des Textes zu unterwerfen.

Der zweite Hauptteil ist mit "Usurpation und Revolte" überschrieben, greift aber eigentümlicherweise in seinem Gang durch "Poppea", "Alcina", Felice Romanis und Vincenzo Bellinis "Romeo und Julia", "Manon" "Ariane und Blaubart" und "Elektra" diese Begriffe nicht mehr auf. Auch scheint bei Starobinski hier sein Eingangsinteresse, die Suche nach einem kontinuierlichen Bildersystem als künstlerischer Aneignung, in den Hintergrund zu treten. Erneut werden viele spannende Aspekte aufgeworfen, ohne sie analytisch zu entfalten. Die These von der Musik, die jenseits von Gut und Böse ihre eigene Macht verherrliche, bleibt in der Luft hängen. Anstatt dieses Jenseits einfach zu behaupten, hätte hier zum Beispiel ein Vergleich mit Boethius' Auffassung von Musik, die stets einen "Zweiweg" in sich trage, der zum Guten und zum Bösen führen könne, sich aber eben nicht jenseits davon befinde, den Leser zum Nach- und Weiterdenken anregen können.

Im letzten Großkapitel entwirft Starobinski ein opulentes Panorama, das er in beeindruckender Kenntnis der gesamteuropäischen Kultur- und Literaturgeschichte vor dem Leser entrollt. Allerdings fällt es schwer, die mitunter recht sprunghaften Zeit- und Ebenenwechsel nachzuvollziehen. So führt er von den Tagebucheintragungen Delécluzes über die historisch verbürgte Präsenz Napoleons bei der Opernaufführung "Romeo e Giulietta" mit dem berühmten Kastraten Crescentini zur Obduktion des Leichnams des Korsen und dann wieder auf das Schlachtfeld von Austerlitz. Danach verschiebt sich die Perspektive erneut ins Literarische, indem er eine Szene aus Lew Tolstois "Krieg und Frieden" zitiert, dessen Großvater wiederum laut Tagebuchaufzeichnung Delécluzes als russischer Botschafter bei eben jener Opernaufführung aus machtstrategischen Gründen von Napoleon gegrüßt wurde. Dem Leser ist nach diesem kulturellen Parforceritt nicht ganz klar, ob es dem Autor um die Macht der Oper, die Vergänglichkeit allen Seins, die Ehrfurcht eines Opernpublikums vor Napoleon, die Verknüpfung aller drei Punkte oder Kontinuität und Wandel des "Romeo und Julia"-Stoffes geht.

Starobinskis Buch wirkt wie eine Aneinanderreihung zahlreicher Essays, die sich aufgrund der anekdotischen Anlage gut zum Schmökern eignen. Für den interessierten Laien setzt Starobinski bereits zu viel voraus. Den Opernkennern könnte gefallen - und das ist heute doch auch schon etwas - dass hier jemand immer wieder Position bezieht. Position für lebendige, werktreue Inszenierungen und das Bemühen, die Wahrheit in den Opern, und vor allem in der Musik, zu suchen.


Titelbild

Jean Starobinski: Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper.
Übersetzt aus dem Französischen von Horst Günther.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
326 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446208438

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