Provokateur, Deuter der Zeit-Zeichen, Priester und Ästhet

Erstmals liegt jetzt die vollständige Sammlung der überlieferten Gedichte Hugo Balls vor

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind von ihm nur etwa 140 Gedichte überliefert, die er in einem Zeitraum von 20 Jahren in Intervallen geschrieben hat. Zu seinen Lebzeiten ist keine Sammlung seiner Lyrik erschienen. Die erste Auswahl-Ausgabe kam erst 1963 - 36 Jahre nach seinem Tod - heraus. Die zweite Edition lag dann 1993 unter dem Titel "Die Nichtgesammelten Gedichte" vor. Nun ist als Band 1 der von der Hugo-Ball-Gesellschaft Pirmasens herausgegebenen "Sämtlichen Werke und Briefe" die vollständige Sammlung von Balls Gedichten erschienen, die, von Eckhard Faul musterhaft betreut und vorzüglich kommentiert, viel Unbekanntes und Überraschendes bietet. Denn eigentlich ist der Lyriker Ball bis heute nur als Verfasser von Lautgedichten aus der Dada-Zeit bekannt und auch die Literaturwissenschaft hat sich bisher mit seinen Gedichten vor und nach Dada kaum beschäftigt.

Joachim Kühn hatte 1978 eine Einteilung der Gedichte Balls in vier Phasen vorgenommen: egozentrische Rauschdichtung, Zeitsatire, magische Lautdichtung und religiöse Dichtung. Er ging davon aus, dass Ball nicht nur Formen und Themen wechselte, sondern in jeder Phase immer wieder von Neuem begann und so ständig seine Positionen änderte. Diese Auffassung ist später nicht mehr so ohne weiteres akzeptiert worden. Statt Bruchwerk und Divergenz wird heute doch eher der Homogenität und gleitenden Übergänge im lyrischen Werk Balls das Wort geredet. Und die vorliegende Gesamtausgabe der überlieferten Gedichte scheint das vollauf zu bestätigen.

Eckhard Faul nimmt in seinem überzeugend formulierten Nachwort eine andere, differenziertere Gliederung der Gedichte vor: frühe Gedichte 1905-1910, expressionistische Lyrik 1913/14, Ha-Hu-Baley-Gedichte 1914 (gemeinsam verfasst mit Hans Leybold), Lyrik 1914-1916, Lautgedichte, Gedichte 1917-1923, Schizophrene Sonette 1924, Lyrik 1923/24, späte Lyrik 1925-1927; dem schließen sich die Nachdichtungen an. Das epigonenhafte Frühwerk ist geprägt von Naturmotiven, die aus Balls Heimat, der Pfalz, entstammen könnten und der neuromantischen Tendenz zur Provinz entsprachen. Neben der Personifikation von Naturphänomen, die die mystifizierte Naturidylle, eine heile Welt, durchwirken, verbrämen ornamentale Jugendstilelemente die Wunder der Natur, die das lyrische Ich staunend erlebt.

In der kurzen Freundschaft mit dem jüngeren Hans Leybold, der sich im September 1914 erschoss, erlebte Ball dann eine rasche Entwicklung hin zur literarischen Avantgarde in den bilder- und metapherreichen expressionistischen Gedichten, die von einem starken Ich-Bezug geprägt sind, während sich in den gemeinsam mit Leybold verfassten zeitkritischen Baley-Gedichten die Autoren hinter einem Pseudonym verbergen. Das Gedicht "Der Henker" löste 1913 einen Skandal aus, weil Ball hier den Geschlechtsakt mit einer Exekution vergleicht, die der Mann an der Frau ausführt. Neben dem Thema Sexualität ("Der Henker" und "Die weiße Qualle") waren es Weltuntergangsmotive ("Die Sonne", "Das Schläferlied", "Das ist die Zeit"), die Ball interessierten. Nur die Negation erkennen die Baley-Gedichte an, die sich in einem ironischen Tonfall, in Sprach- und Wortspielen ausdrücken, und verweisen deshalb schon auf den Dadaismus. Der Werteverfall äußert sich in der Collage, in der das Zusammensetzen von scheinbar Zusammenhangslosem, Wesentlichem und Unwesentlichem und Nichtunterscheidbarem dazu führt, alles für wichtig oder unwichtig zu halten. Dieses "Da war auch"-Prinzip - so in dem Gedicht "Ein und kein Frühlingsgedicht" - geht schon weiter als der expressionistische Reihungsstil und nähert sich bereits der dadaistischen Collage, die in dem Begriff "Dadaismus" - da ein Ding und da ein Ding: dada - sinnig zum Ausdruck kommt. Stärker zum Nonsens tendieren dann schon die Klarinetta-Klaball-Gedichte, die allerdings erst 1932 veröffentlicht wurden.

Der Erste Weltkrieg ließ Ball - nach erster kurzer Begeisterung - zum entschiedenen Kriegsgegner werden. In dem neben seinen Lautgedichten bekanntesten Gedicht "Totentanz 1916" heißt es sarkastisch: "So sterben wir, so sterben wir / Und sterben alle Tage / Weil es so gemütlich sich sterben lässt. / Morgens noch in Schlaf und Traum / Mittags schon dahin / Abends schon zu unterst im Grabe drin".

Angesichts der objektiven Erstarrung leistet sich das lyrische Subjekt einen Schein der Bewegung, der sich dann im dadaistischen Aktionismus verkörpert. In dem Gedicht "Cabaret" (1916) haben die Worte einen Überschuss an Mobilität und schwirren nur so umher: "Von dem gespitzten Ohr des Esels fängt die Fliegen / Ein Clown, der eine andere Heimat hat. Durch kleine / Röhrchen, die sich grünlich biegen, / hat er Verbindung mit Baronen in der Stadt. // In hohen Luftgeleisen, wo sich enharmonisch / die Seile schneiden, drauf man flach entschwirrt, / Versucht ein kleinkalibriges Kamel platonisch / zu klettern; was die Fröhlichkeit verwirrt. // Der Exhibitionist, der je zuvor den Vorhang / bedient hat mit Geduld und Blick für das Douceur, / vergisst urplötzlich den Begebenheitenvorgang / und treibt gequollene Mädchenscharen vor sich her". Wie der Exhibitionist "vergisst" die Sprache immer wieder "urplötzlich den Begebenheitenvorgang". Das ist ihr Tribut an eine Verfassung der Realität, die in jedem Augenblick aus Simultaneitäten besteht. Die Logik des Gegenstandes geht in dem subjektiven Bedürfnis nach Geschehen, Bewegung und Veränderung unter. So liegt die Befreiung im Anschein realer Bewegung, die durch den syntaktischen Charakter der Sprache selbst und speziell durch die "Halluzination der Worte" (Hugo Ball) hervorgerufen wird. Der Dadaismus - so heißt eine Formel Hugo Balls - "ist eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich".

Das Bewusstsein, das die Erkenntnis von der objektiven Stagnation mit der willkürlichen Inszenierung von Bewegung und Lebendigkeit überspielt und hintergeht, ist besonders das des Gauklers. "Ich bin der große Gaukler Vauvert", beginnt das Gedicht "Der Literat", in dem Ball seine dadaistischen "Ausschweifungen" resümiert. Viele Prädikate, die er dem Dadaismus gibt, stehen mit dem Gaukler - und noch nachhaltiger mit dem Clown - im Zusammenhang: Maskenspiel, Buffonade, Narrenspiel, helles Gelächter, Blague oder Posse.

Um die Sprache zu einem eindeutigen Instrument zu machen, um die Identität des Subjekts nicht an der Mehrdeutigkeit der Sprache zuschanden kommen zu lassen, muss das Subjekt seine Worte selbst herstellen. Nur die Schöpfung einer völlig neuen Sprache kann das Angewiesensein auf Vorgegebenes aufheben. Die Buchstaben beziehungsweise die Laute stellen das noch nicht korrumpierte und intentionslose Material dar, anhand dessen ganz neue Worte produziert werden. In den Buchstaben hat das Subjekt das willenlose Material gefunden, über das es frei verfügen kann. Insofern sind die Lautgedichte Balls absolute Sprache, sie werden in den "Versen ohne Worte" zum absolut verfügbaren Instrument: "Gadji beri bimba / glandiri lauli lonni cadori / gadjama bim beri glassala / glandridi glassala tuffm i zimbrambim / blassa galassasa tuffm i zimbrambim...". Die sprachlichen Elemente sind durch den Verzicht auf Sinn und Logik frei und verfügbar und damit den Tönen sehr ähnlich geworden. Die Musikalisierung der Sprache hat hier einen Höhe- und zugleich Endpunkt erreicht.

Hugo Ball gehörte 1916 mit zu den Gründern und Organisatoren des Zürcher Dada-Klubs und vollzog trotzdem schon nach gut einem Jahr seine "Flucht aus der Zeit", wie er es später in seinem Tagebuch der Jahre 1914 bis 1921 genannt hat. Der tiefere metaphysisch-religiöse Sinn tritt in seinen Aufzeichnungen besonders hervor: Der Verzicht auf "die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordne Sprache", der Rückzug "in die innerste Alchimie des Wortes", die Bewahrung des "letzten heiligen Bezirks" der Dichtung sollte der Sinn dieser Lautgedichte sein. Das berühmte Lautgedicht "Karawane" ("Zug der Elefanten"), das Ball 1916 im Zürcher "Cabaret Voltaire" im Bischofskostüm aus Glanzpapier zelebrierte ("jolifanto bambla o falli bambla..."), soll den schleppenden Gang der Elefanten versinnbildlichen. Wenn man diese thematische Anweisung erhalten hat, kann man in den Lautfolgen einen onomatopoetischen Sinn wieder entdecken. Die Flucht aus dem logischen Sinn nimmt Zuflucht zu den Naturlauten. Das Wort Elefant wird im Anfang zu "jolifanto" umgewandelt. Der dumpfe Elefantenschritt ist in U-Lauten nachgebildet. Treiberrufe sind in abgewandelter Form eingeschaltet, fremdländisch klingende Fantasielaute kommen dazu, aber auch Zauberrituale, Beschwörungs- und Gebetstexte, liturgische Formeln, Geisterbann, Sprechgesang, hypnotische Magie, Tanzliedverse und pure Unsinnspoesie werden einmontiert. Die Lautgedichte eröffnen so imaginative Felder, legen die unterschiedlichsten Fährten und schließen einen erstaunlich offenen, vieldeutigen und vielgestaltigen Assoziationsraum auf.

"Der grüne König" (wohl 1923) eröffnet dann den Zyklus von 7 Schizophrenen Sonetten, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Psychiatrie gedeutet werden. Das Gedicht proklamiert eine Macht ohne Referenz, die gerade in der Selbstbezogenheit auf den Schreibakt die diagnostischen Kriterien von Schizophrenie bewahrheitet. Ein Fürst, dessen ganzes Reich aus Neologismen im Titel besteht, deliriert, denn er dekretiert seinen Untergebenen die Verarbeitung von (herbstgoldenen) Baumblättern zu Gold, "soviel man mag". Der Wahnwitz folgt der Märchenlogik, dass aus Stroh Gold werden kann. Im Pluralis majestatis spricht ein Märchen-Ich als Märchenherrscher, der mit seinem heraldischen Tier identisch ist und deshalb seinen grimmigen Löwenschweif genau dem heraldischen Muster gemäß erhebt, wenn er als Adelgreif - adliger Greif - etwas zu dekretieren hat. Wo aus Papier - "Blättern" - per Dekret Gold gestanzt werden kann, ist jede Hungersnot besiegt - auf dem Papier. Es ist der frei ausschweifende, aktuelle, historische und sprachhistorische Anspielungen souverän kombinierende Spieltrieb, der das ganze Gedicht pointiert. "Der grüne König", der selbstironische Papiermensch, der sich in dem schon genannten Gedicht "Der Literat" "Gaukler", "Buchstabenkönig", "Alleszerschwätzer", "Spötter" und "Dichter" nennt, dürfte ein Skatkartenkönig sein, nämlich der König des grünen Blattes (Pik), der über Kartenbilder von Bäumen - statt über wirkliche Bäume - herrscht.

Immer wieder suchte Ball Realität namhaft zu machen, ob es sich nun angesichts unterdrückter Realität um deren Befreiung, ob es sich angesichts der zerfallenen Realität um die Produktion von neuer Realität oder ob es sich gegenüber der zerfallenen Realität und der zerfallenen Sprache um deren beider mystische Identifikation handelte. Die Jagd nach Realität war in allen Fällen vergeblich. "Erschöpft" floh Ball nach seinem dadaistischen "Abenteuer" in den Tessin, wurde dann politisch-schriftstellerisch tätig, "um ganze Jahrhunderte nationaler Entwicklung zu negieren" (Ball) und begann, nachdem er zum katholischen Glauben zurückgekehrt war, ein mönchisches Leben zu führen. Die Sprache geht diesen Opfergang mit und verzichtet nun auf ihren Anspruch, Realität zu vermitteln. Begrifflichkeit wird als Geschwätz missachtet, während das eigentliche Wort in den beschaulichen Qualitäten des Bildes aufgeht. Die Bildwerdung des Wortes ist also nichts anderes als das Ergebnis einer Fluchtbewegung.

Die Transformation von abstrakten Inhalten in möglichst einfache Bilder war am ehesten in der Lyrik zu realisieren, auch wenn durch die gewollte Kindhaftigkeit des Ausdrucks jetzt manches allzu banal wirkt. Hugo Ball "begrüßte das Kind, in der Kunst und im Leben", ohne die Funktionen der programmatischen Kindlichkeit hinreichend zu bestimmen und zu sichern, so dass sich die Kindlichkeit schließlich als Infantilität darstellte. Er wollte die Trennung von Wort und Ding vergessen machen und wie ein Kind mit den realitätslosen Vokabeln spielen, so als gäbe es keine Realität. So wie er im Wesen des Kindes den Schlüssel für das richtige Leben sah, wollte er die Kirche als Mutter empfinden, bei der er sich völlig geborgen fühlen konnte. Für ihn offenbarte Gott seine schöpferische Macht und Überlegenheit im scheinbar Schwächsten und Gefährdetsten. Ebenso wie die expressionistische Bildlichkeit in Balls späten Gedichten weiterlebt, haben sich auch schon in der Lyrik vor 1914 solche religiösen Tendenzen finden lassen. So besitzt die Weltflucht der frühen Gedichte durchaus religiösen Charakter, und auch seine expressionistische Lyrik enthält viele religiöse Motive und Verweise.

Der Einsiedler Ball ist also nicht zu einer wesentlich neuen Figur geraten, sondern zu einem bloßen Integral, in dem die früheren Stationen seiner Geschichte, die ja nicht auszulöschen waren, weiterwirkten. Artist, Gaukler, Phantast und Magier sind die einzigen Gestalten, die das Bewusstsein des Einsiedlers in verblasster Form noch beinhaltet. Neue und gelingende Figuren hätten nur in einem Bündnis mit der Zeit erreicht werden können, das die Ausflucht ins Abstrakte und Transzendente verhindert hätte.

So muss man das doch recht ungewöhnliche Fazit ziehen, dass gerade die Gedichte, die im Zeichen des Expressionismus und Dadaismus stehen und von denen Ball sich sehr schnell wieder abwandte, zu den bleibenden zählen werden, während die frühen (neuromantischen) und die späten (religiösen) - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - wohl kaum die Chance haben dürften, ins öffentliche Bewusstsein gehoben zu werden.


Titelbild

Hugo Ball: Gedichte.
Herausgegeben von Eckhard Faul.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
336 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783892447757

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