Es geht ihnen gut

Hanns-Josef Ortheils neuer Roman "Das Verlangen nach Liebe" ist ein Kultbuch für Slow-Food-Anhänger

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines ist sicher: Zürichs Kellner werden Hanns-Josef Ortheil lieben. Mit seinem neuen Werk hat ihnen der deutsche Romancier ein Denkmal gesetzt. Wo immer Ortheils Figuren auf den 318 Seiten einkehren - und sie kehren sehr oft ein -, stets treffen sie auf dienstbare Geister, die sich mit einer ans Paranormale grenzenden Empathie um das Wohl ihrer Gäste kümmern. Mit "Wir haben viel Zeit, wir haben viel Zeit, nehmen Sie sich Zeit, soviel Sie wollen!" heißt der Kellner sie in der "Kronenhalle" willkommen, und sein Kollege im "Kropf" sekundiert angesichts des Glücks der Liebenden andächtig: "Es geht Ihnen gut, das freut mich."

Die Kellner sind die Zeremonienmeister in den von sonstigen (und womöglich störenden) Besuchern auffallend freien Tempeln der Sinne und Sinnesfreuden. Judith und Johannes, Hedonisten wie der Autor, geben sich bei ihrer lustvoll zelebrierten Wiederannäherung immer neuen gemeinsamen Gaumenfreuden hin. Deshalb hat dieser Roman das Zeug, zum Kultbuch für Slow-Food-Anhänger zu avancieren. Der ausgedehnte Verzehr von Kartoffelsuppe mit Steinpilzen, von St. Galler Bratwürsten mit Bürli oder von Kalbsbitoke mit Morchelrahm (mit neckischen "kleinen Morchelhüten auf dem runden, kompakten Fleischmassiv") dient dem Paar nicht nur als kulinarisches Vorspiel. Das gemeinsame opulente Mahl ist das Medium, in dem sich die absolute Übereinstimmung Bissen für Bissen und Schluck für Schluck manifestiert.

Nun sind aber Momente des Glücks, das wusste schon Freud, prinzipiell episodische Phänomene. Wir können nur den Kontrast intensiv genießen. Das gilt in der Kochkunst ebenso wie in der literarischen. Liebesromane zum Beispiel müssen nicht unbedingt schlecht ausgehen, um als seriös zu gelten. Aber um die Lektürelust zu wecken, sollten sie den Leser zumindest einem Wechselbad der Gefühle aussetzen. Üblicherweise durch die Inszenierung äußerer oder innerer Widerstände, die die Figuren erst überwinden müssen, durch die kunstvolle Stimulierung von Wünschen und Mangelerfahrungen im Leser.

Dass es auch anders geht, ohne deshalb in die Untiefen von Kitsch und Langeweile zu geraten, davon ist Ortheil, Professor für Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim, überzeugt. Nach seinem Literaturbetriebs-Zeitroman "Die geheimen Stunden der Nacht" (2005) und dem Mozart-Tagebuch "Das Glück der Musik" (2006) folgt nun wieder ein Plädoyer für regressive Weltflucht. Sein erstes hielt Ortheil 2003 mit "Die große Liebe", einem provozierend affirmativen Italienroman mit schamlosem Happy-End, der die Kritik irritierte, vom Publikum aber Bestsellerehren erhielt. Sein neuer Roman mit dem womöglich noch dreisteren Titel "Das Verlangen nach Liebe" und dazu passendem "frauenaffinen" Cover wirkt in vielem wie eine Neuauflage.

Wieder wird mit viel Emphase und nur wenig Augenzwinkern der einzig wahren, der romantischen Liebe gehuldigt: "die Liebe machte Schluß mit der Beliebigkeit, denn sie war etwas Unbedingtes, das sich so nur zwischen zwei Menschen ereignete, die füreinander geschaffen waren. Wenn sich diese zwei Menschen durch einen glücklichen Zufall getroffen hatten, war ihr Leben entschieden [...] Schon wenn man kurze Zeit getrennt war, setzte das Verlangen nach dem anderen ein, das Verlangen nach dem anderen war ein Verlangen nach dem vollständigen Leben." Für Ortheils Liebende ist der Dichtername "Klopstock" kein Sigel für einen vergänglichen Augenblick höchsten Glücks, vielmehr "die kleinste Maßeinheit aller Freudennuancen", die es endlos zu steigern gilt.

Am Anfang steht ein erhofftes Wiedersehen; in Zürich laufen sich Johannes und Judith zufällig über den Weg. Vor 18 Jahren waren sie unzertrennlich, Seelenverwandte, die auf ihren Reisen ein "nicht enden wollendes Sprechen, Erzählen und Phantasieren" pflegten. Bis das Unvorstellbare geschah und Johannes Judith bei einem Seitensprung ertappte und tief verletzt die Beziehung beendete. In der Gegenwart ist Johannes ein erfolgreicher Konzertpianist, der in Zürich mit Mozarts Sonaten gastiert, Judith eine renommierte Kunsthistorikerin, die in der Stadt eine Ausstellung kuratiert.

Dass Judith noch immer den selben braunen, offenbar unverwüstlichen Lederrucksack von damals trägt, ermutigt Johannes mit Recht zu Optimismus. Denn gegen alle Erfahrung und Wahrscheinlichkeit zeigt sich zwischen den beiden keinerlei Fremdheit. Im Gegenteil: Sogleich stellt sich die alte Vertrautheit wieder ein, der Rausch der Übereinstimmung beim Gespräch über Kunst, Literatur und Musik. "Du spürst doch genau so wie ich, was hier mit uns passiert", sagt Judith. "Wir haben endlich wieder zueinandergefunden, das ist ein großes, unvorstellbares Glück."

Was oder wer auch immer im Folgenden dieses Glück gefährden könnte, erweist sich rasch als harmlos. Johannes' Agentin Tanja hat sich zwar bislang auch der körperlichen Bedürfnisse ihres Klienten angenommen, ist aber so selbstlos auf dessen Wohl bedacht, dass von ihr keine Störungen zu erwarten sind. Und Judiths Assistentin Anna lässt sich nur von der erotischen Energie, die das Wiedersehen mit Judith in Johannes freisetzt, anziehen, zur ernsthaften Konkurrentin wird sie nicht. Statt dessen entpuppt sie sich als langjährige Verehrerin des Pianisten, die Johannes' Aufnahmen auswendig kennt. Letzte Zweifel werden ausgeräumt, als Judith ihren Seitensprung als harmlosen Anfall von Neugierde auf einen anderen Körper deklariert und damit dem noch immer gekränkten Johannes Genugtuung verschafft.

Natürlich ist das alles zu schön und märchenhaft, als dass man es ernst nehmen könnte. Zwischendurch kommt einem sogar der Verdacht, das Ganze sei nur der Wunsch erfüllende Tagtraum des Helden - den die Trennung von Judith immerhin einst in die Psychiatrie gebracht hat. Da aber keine weiteren Momente der Verunsicherung auszumachen sind, wird es sich wohl eher um einen Tagtraum des Autors handeln. Von ihm weiß man, dass er einst selbst Pianist werden wollte.

Selbstbewusst kommentiert sich der Roman als "erotisch aufgeladene Textküche". Mit seinen faden Zutaten richtet er jedoch kaum mehr an als Futter für harmoniesüchtige Leser. Zumal die Bewegung der Figuren von einer Stätte der Restauration zur nächsten der Handlung etwas quälend Statisches verleiht. Einen gewissen Genuss bietet allerdings Ortheils Sprache: Ihre viel gerühmte Musikalität brilliert stets da, wo sie in Selbstgesprächen den Seelenhaushalt des Pianisten widerspiegelt: "warum läßt Du dich nicht durch die Nacht fahren, hinauf auf den Zürichberg oder weit fort, Du könntest mit Deinen eingezogenen Schultern stillsitzen und Du hättest Licht und etwas zu sehen und Ablenkung pur, aber Du willst ja unbedingt zu Fuß unterwegs sein, und die Musik rauscht wie früher, großes Orchester, ein einziges Rauschen, Rachmaninow, d-Moll, es ist dieses teuflisch sich einschmeichelnde Thema gleich zu Beginn des Klavierkonzerts Nummer Drei, wer singt so?, es ist der mächtige, rumorende, innere Gesang von einem, der loszieht, das Ziel klar vor Augen." Erstaunlich gestelzt wirken dagegen oft die angeblich "völlig entgrenzten und befreiten" Gespräche der Figuren, die sich fortwährend mit "Mein Lieber" und "Meine Liebe" anreden.


Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Das Verlangen nach Liebe.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
318 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872636

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