Wozu in die Ferne schweifen?

Hugo Hamiltons "Die redselige Insel" macht nur wenig Lust auf Irland

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele meinen, es sei Heinrich Bölls poetischstes Buch. Eines seiner meist gelesenen ist es auf jeden Fall: Das "Irische Tagebuch", 1957 erstmals erschienen, avancierte längst nicht nur zum Bestseller, sondern auch zum Klassiker deutschsprachiger Reiseliteratur. Legte Böll darin doch nicht zuletzt auch den Grundstein für das touristische Interesse an einer der beiden - mehr als diametralen - Sehnsuchtsinseln, von denen sich deutsche Reisephantasien nach wie vor gerne beflügeln lassen.

Während sich die eine Fraktion Erholungssuchender im Party-Vollrausch auf Mallorca ungehemmt und ungeschützt der pigmentverändernden UV-Strahlung südlicher Sonnentage hingibt, zieht die alternativ-intellektuell gesonnene Gruppe individualtouristisch und umweltverträglich in versprengten Scharen über die 'Grüne Insel'; auf ihrer Suche nach Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit Regenguss nach Regenguss bereitwillig über sich ergehen lassend, halten die unerschütterlichen Trekking-Sandalen-Träger dabei nicht selten das "Irische Tagebuch" als Baedecker-Ersatz in den regenverschrumpelten Händen.

Dass nun, 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Böll'schen Bandes, der deutsch-irische Schriftsteller Hugo Hamilton auf den Spuren des Nobelpreisträgers Irland bereist und seine Erlebnisse ebenfalls in Form eines 'Irisches Tagebuchs' veröffentlicht, sieht zunächst nach einem geschickten Marketing-Schachzug aus. Auf den zweiten Blick hingegen scheint diese 'Aktualisierung' mehr als überfällig, dürfte sich Bölls Irland im letzten halben Jahrhundert doch fraglos grundlegend verändert haben.

Zugegeben: Man hört - vage zunächst, dann immer bestimmter - irgendwo aus der zweiten Reihe die konservativen Leser und selbsternannten Literaturhüter 'Das-ist-eine-Nummer-zu-groß'-Rufe skandieren, doch ignoriert man diese geflissentlich. Wer möchte schon zu den ästhetisch Ewig-Gestrigen zählen, denen bereits harmlose Anspielungen auf literarische Meilensteine als künstlerische Blasphemie gelten? Niemand! Also schlägt man erwartungsfroh und guten Mutes Hamiltons Buch auf, übersieht wohlwollend, dass es dem 'Böllesquen' Motto etwas am Esprit der Vorlage mangelt, und befindet sich bereits im ersten der insgesamt 18 Kapitel mitten im 'redseligen Irland'.

Schon zu Beginn von Hamiltons Band ist der Bezug zum literarischen Vorbild greifbar: "Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte"; diesem Gefühl der Grenzüberschreitung, mit dem Bölls Reisetagebuch beginnt, hat Hamilton einiges entgegenzusetzen: "Ich wusste, dass ich eine Grenze überschritt", konstatiert der Autor, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger in liminalen kulturellen Sphären beheimatet ist: "Vermutlich habe ich immer schon in jenen staubigen Grenzbereichen der Kultur gelebt, wo alles fremd und vertraut zugleich ist. Ich stehe mit einem Fuß in Irland und mit einem in Deutschland, bin in beiden Ländern sowohl ein Fremder als auch ein Einheimischer".

Als kulturellen Grenzgänger sieht sich Hamilton also, als einen, dessen Blick auf Iren wie Deutsche geprägt ist von einer Kombination aus Innen- und Außenperspektive, mithin als jemanden, dessen Vermögen, über die jeweiligen kulturellen, nationalen und diversen anderweitigen Eigenarten zu reflektieren, ausgeprägter ist als bei jenen Zeitgenossen, die eben nicht über diesen transkulturellen Hintergrund verfügen. Dass es sich bei Hamiltons Selbst-Charakterisierung tatsächlich um mehr handelt, als um die Wiederholung einer mittlerweile zwar ebenso abgegriffenen wie dennoch nach wie vor immens verkaufsfördernden multikulturell-politisch-korrekten Pose, wird spätestens in dem Moment deutlich, in dem er das zentrale Nationalcharakteristikum der Iren herausstellt: "In Irland ist man ein Niemand, wenn man nicht redet oder wenn man nicht jemandem zuhört, der über einen anderen redet." Es muss demnach wohl seine 'irische Seite' sein, der man die sich anschließende Beschreibung eines Hurling-Spiels, des "schnellsten Feldspiels der Welt", verdankt: 'Geschwätzig' scheint hier schon fast das richtige Wort. Fanden sich bei Böll bereits vereinzelte Hinweise auf irische Kinder mit Hurlingschlägern, so gerät Hamilton die Beschreibung des Hurling-Finales zwischen Cork und Galway zur schnellen Abfolge von Beobachtungen, Anekdotenfetzen und Passagen wohl primär phatischer Kommunikation. Dabei gelingt es dem Verfasser, viel zu reden, pardon: zu schreiben, ohne seine Ausführungen mit überbordenden Informationsmengen zu überfrachten. Besonders überraschend dabei: Der Text, übersetzt von Henning Ahrens, seines Zeichens selbst Lyriker und Prosaschriftsteller, wirkt in seinem hektischen Parlando-Ton vergleichsweise uninspiriert und erinnert an sprachliche Massenware ohne besonders herausstechende ästhetische Meriten.

Der Chronologie der Böll'schen Reise folgend, schließen sich unter größtenteils mit der Vorlage identischen oder nur leicht variierten Kapitelüberschriften Betrachtungen zu Dublin und dem neuen, 'EU-sei-Dank'-Wohlstand Irlands an. Dieser, so Hamilton, bescherte den Iren jedoch nicht nur den zweifelhaften Titel 'Europameister bei der Aufnahme von Privatkrediten', sondern verwandelte auch weite Teil des Landes in gesichtslose Orte einer globalisierten Lidl-Supermarktlandschaft, in der man nicht unbedingt seine nächsten Ferien verbringen möchte. Ebenso wie Böll besucht auch Hamilton das "Skelett einer menschlichen Siedlung" auf Achill Island, berichtet von einer zeitentrückt-langsamen Zugfahrt in die Grafschaft Mayo, vom Kampf aufrechter Iren gegen multinationale Ölkonzerne, von Auswanderern und dem vergleichsweise neuen Phänomen der Rückkehrer sowie von deutschen Architekten, die sich auf einsamen irischen Inseln niedergelassen haben. Auch über Einkaufs- und Kommunikationsrituale in Limerick erfährt der Leser allerlei ebenso wie über den irischen Regen und einen verschwundenen Goldring, den Marie Antoinette einem irischen Adeligen geschenkt haben soll, als beide körperlich noch unversehrt waren. Da der letzte Spross besagter Familie ein guter Freund des Autors ist, bietet sich Hamilton die Gelegenheit, gleich noch dies und das über ihre gemeinsame Vergangenheit zu erzählen und noch einige zentrale Episoden aus der Geschichte der Blaublütigen auszuplaudern.

Hamiltons Buch mit dem Böll'schen vergleichen zu wollen, wäre an sich ein mehr als unfaires Unterfangen, stellte Hamilton durch die Bezugnahme auf das "Irische Tagebuch" dieses nicht derart deutlich als Prätext seines eigenen Bandes heraus: Gemessen an Böll mangelt es Hamilton insbesondere an der Präzision der Beobachtungen. Wo jener in wenigen Worten scheinbar belanglose Details zu einem atmosphärischen Bild zu verdichten vermag, braucht dieser wortreiche Beschreibungen, deren Relevanz sich trotz ihres Umfangs nicht sofort erschließt. Doch mag dies eine Marginalie sein, mithin abhängig von Fragen des persönlichen Geschmacks.

Ein grundlegender, auch qualitativer Unterschied wird jedoch bei einem kurzen Blick auf den Klappentext deutlich. Hier wird zitiert, was Marcel Reich-Ranicki zu Bölls "Irischem Tagebuch" zu sagen hatte: Ein "verstecktes Deutschlandbuch" sei es, so urteilte der Meisterkritiker, in dem gerade durch die Gegenüberstellung von Irland und Deutschland die Eigenarten der Deutschen deutlich geworden seien. Der "totale Gegensatz" zwischen beiden Ländern, so wiederum der wahrscheinlich von Böll selbst verfasste Klappentext der Erstausgabe seines Bandes, "wirkte auf den Verfasser wie eine Provokation". Eben dieser Gegensatz, so stellte Böll schon in seinem Prosastück "Dreizehn Jahre später" fest, war aber Ende der 1960er-Jahre weitgehend aufgehoben: "Dreizehn, ein Bäckerdutzend Jahre später, sind in Irland eineinhalb Jahrhunderte übersprungen und fünf weitere eingeholt worden [...]."

So ist die Spiegelung des Selbst im Fremden ebenso wie die dadurch vorgenommene eigene Standortbestimmung ein Anspruch, an dem Hamiltons Buch scheitert, scheitern muss: Es ist nicht der Blick eines ob der Andersartigkeit der Menschen, Kultur und Landschaft erstaunten Autors, den "Die redselige Insel" zu bieten hat, sondern es sind die redseligen Ausführungen eines Verfassers, der nicht nur die Iren, sondern vor allem sich selbst gerne reden hört. Dabei zeichnet Hamilton ein Bild von Irland, das sich in Zeiten der Globalisierung kaum noch von anderen Orten des global village unterscheidet. Ungern wird man also den Rufen der ästhetisch-konservativen Unken Recht geben müssen: Die literarischen Schuhe, die sich Hamilton zu tragen anschickt, sind ihm in der Tat eine Nummer zu groß. "Die redselige Insel" wirkt primär wie ein Plausch im Pub: ausgesprochen gesprächig, zumeist kurzweilig, manchmal liebenswert, gespickt mit allerlei amüsanten Anekdoten - nicht weniger, aber auch nur selten mehr. Zum literarischen Klassiker wird der Band aber wohl nicht werden.


Titelbild

Hugo Hamilton: Die redselige Insel. Irisches Tagebuch.
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
158 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783630621173

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch