Biedere Literaturwärter

Emily Mühlfeld untersucht die Literaturkritik im Fernsehen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturkritik im Fernsehen genießt keinen guten Ruf. Nicht einmal unter ihren Akteuren. "Das Fernsehen", bekannte Marcel Reich-Ranicki einmal, "hat mit Literatur nichts, aber auch gar nichts zu tun. Es ist ein Massenmedium, das zur Verdummung des Menschen führt und zu einer Kritiklosigkeit, die ihresgleichen in der abendländischen Geschichte sucht." Eine literatursoziologisch-medienwissenschaftliche Studie versucht nun, die gängigen Ressentiments empirisch zu überprüfen - eine Pionierarbeit angesichts der desolaten Forschungslage.

Dabei unterzieht Emily Mühlfeld sämtliche regelmäßig laufenden Literatursendungen des Jahres 2003, Talkshows wie Magazine, ausführlichen Inhaltsanalysen. Nach dem Ende des "Literarischen Quartetts" sei mit der Einführung neuer Formate wie "Lesen!" und "Druckfrisch" 2003 ein Jahr des Umbruchs in der Geschichte der TV-Literaturkritik gewesen. Der Untersuchungszeitraum für die Stichprobe ist der Monat September - Berichterstattungen von Buchmessen fehlen somit ebenso wie der Literaturwettbewerb in Klagenfurt. Letzteres ist insofern bedauerlich, als damit auch die gerade im Fernsehen beheimatete Form der Sofortkritik von der Untersuchung ausgeschlossen bleibt.

Die Dissertation ist in ihrem theoretischen Teil breit aufgestellt und rekurriert unter anderem auf die Diskurstheorie Michel Foucaults, die Kultursoziologie Pierre Bourdieus und die Empirische Literaturwissenschaft. Ein Aufwand, der allerdings, wie sich im empirischen Teil zeigt, doch eher dem Genre der Qualifikationsarbeit geschuldet ist. Als nützlich bei den Untersuchungen erweist sich vor allem Günther Anders' Begriff der Verbiederung, womit die Tendenz des Fernsehens gemeint ist, seine Inhalte so leicht verdaulich wie möglich zu präsentieren.

Die von Jeremy Bentham beziehungsweise Foucault inspirierte Metapher vom Panoptikum dagegen, die Mühlfeld zur Beschreibung der Situation des Kritikers im Fernsehen bemüht, vermag nicht recht zu überzeugen. Wie der Wärter in dieser Gefängniskonstruktion soll der Kritiker einerseits die (gefangenen) Autoren überwachen, andererseits selbst von den voyeuristischen Besuchern bei seiner machtausübenden Tätigkeit beobachtet werden. Sieht man einmal davon ab, dass ein Wärter, anders als ein Kritiker, keinen Anlass hat, möglichst viel Aufmerksamkeit der Voyeure auf sich zu ziehen - in der Situation des beobachteten Beobachters unterscheidet sich der Fernsehkritiker durchaus nicht vom Kritiker in der Zeitung: Beide "buhlen" um Aufmerksamkeit, und ein Zeitungskritiker, der nicht bei jedem Satz fürchtete, die Gunst des Lesers zu verlieren, wäre ein schlechter. Deshalb sind Subjektivierung der Kritik und die Tendenz zu formalen Mätzchen auch keine Eigenart der Literaturkritik im Fernsehen - dominant waren sie bereits um 1900 im Zeitungsbereich in Zeiten verstärkter Medienkonkurrenz, man denke nur an Alfred Kerr.

Überhaupt gerät Mühlfelds Versuch, nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Print- und TV-Kritik zu fahnden, problematisch, und zwar deswegen, weil die Vergleichsgrundlage - zu drei Novitäten des Jahres 2003 jeweils zwei Zeitungs- und zwei Fernsehbesprechungen - schlicht zu schmal ist, um aus ihr valide Ergebnisse gewinnen zu können. Ist die Rolle des FAZ-Kritikers Hubert Spiegel wirklich die eines "Journalist(en)", nur weil er sich in seiner Rezension eines Romans von Uwe Timm einmal mit Wertungen zurückhält? Und was sagt das über die Unterschiede von Fernseh- und Printkritik aus? Dennoch kommt die Autorin zu dem wenig überraschenden Resultat, dass Printkritik mehr wertend, Fernsehkritik mehr werbend auftritt.

Schöne Beobachtungen - etwa zur audiovisuellen Inszenierung, der Rolle des Moderators oder den jeweiligen Kommunikationsformen - gelingen Mühlfeld dagegen in ihren Profilanalysen der einzelnen Sendungen. Das Titellied von Elke Heidenreichs Sendung "Lesen!" etwa, "Mehr als sie erlaubt" der Gruppe Element of crime, mag zwar der Moderatorin schmeicheln ("Wo sie hinschlägt, wächst hinterher kein Gras mehr" heißt es in dem Song), ihrer praktisch ausschließlich lobend-werbenden Form der Kritik entspricht es keineswegs. Den Erfolg Heidenreichs erklärt Mühlfeld plausibel damit, dass "Lesen!" das einzige Format sei, das primär den "Normalleser" und dessen bevorzugten Rezeptionsmodus des identifikatorischen Lesens bedient. Und Heidenreichs ARD-Kontrahent Denis Scheck mag zwar mit selbstreflexiven Inszenierungen ein sich anspruchsvoll glaubendes Publikum befriedigen, Verrisse erlaubt er sich, wie Mühlfeld zeigt, hauptsächlich da, wo sie am billigsten sind, nämlich bei seinem Durchgang durch die Bestsellerliste, der quasi als Feigenblatt dafür dient, dass auch Scheck Kritik nur simuliert.

Ein Kriterium bei der Beurteilung der untersuchten Kritikformen ist für Mühlfeld, inwieweit sie das Publikum zur Mündigkeit und zu eigenem Urteilsvermögen anleiten. Dass hierbei ausgerechnet das "Literarische Quartett" und "Lesen!" gut abschneiden sollen, überrascht. Die Begründung fällt auch reichlich mager aus: Für die Autorin versorgen Reich-Ranicki wie Heidenreich ihr Publikum mit "metakritischen Informationen" - weil sich beide in ihren Besprechungen gerne (und vorzugsweise verächtlich) über den Literaturbetrieb äußern. Dass sie sich dadurch nur beim Publikum anbiedern, fällt Mühlfeld nicht auf. Da möchte man denn doch lieber für den Schweizer "Literaturclub" plädieren, eine viel zu wenig beachtete Sendung, die sich, wie die Studie bestätigt, seit Jahren dadurch auszeichnet, dass in ihr Bücher ebenso unterhaltsam wie niveauvoll und differenziert besprochen werden, und zwar so, dass stets die Literatur im Mittelpunkt steht und nicht, wie häufig im "Quartett", die Eitelkeiten der Rezensenten.

Nach Mühlfeld war das "Literarische Quartett" eine im Sinne Foucaults diskursbegründende Sendung und hat "in Bezug auf audiovisuelle Inszenierung und Literaturkritik im Fernsehen Maßstäbe gesetzt." Ziel der Studie sei es daher, "herauszufinden, welche Nachfolger sich bewusst vom "Literarischen Quartett" absetzen und welche konzeptionell daran anknüpfen." Das freilich leuchtet nicht recht ein, handelt es sich doch etwa bei "Bücher, Bücher" oder "LeseZeichen" um Sendungen, die bereits seit Anfang der Siebzigerjahre, also noch vor dem "Quartett", liefen. Ebenso wäre eine rigidere Auswahl beziehungsweise ein engerer Begriff von Literaturkritik wünschenswert gewesen: Ist ein Format wie der "Weimarer Salon", in dem Autoren in Interviews ihre eigenen Bücher vorstellen und jede kontroverse Diskussion vom Moderator bereits im Ansatz erstickt wird, nicht eher literaturvermittelnd statt -kritisch?

Mehr noch als einige Formulierungsschwächen mindern auch teils widersprüchliche, teils vom Material nicht gedeckte Folgerungen den Wert dieser Studie. So sollen Fernsehkritiker stärker dazu tendieren, "eine Richter-ähnliche Rolle einzunehmen, da das Fernsehpublikum klare Urteile erfordert". Gerade Mühlfelds Inhaltsanalysen zeigen jedoch, wie sehr Verrisse im Fernsehen weiterhin Seltenheitswert besitzen, ein Umstand, der die Glaubwürdigkeit der Kritik in diesem Medium prinzipiell unterminiert. Zumindest diesbezüglich hat das "Literarische Quartett" leider keine Maßstäbe gesetzt.


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Emily Mühlfeld: Literaturkritik im Fernsehen.
LIT Verlag, Münster 2006.
330 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3825895874

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