Brauchbar und ganz der Alte

Bertolt Brechts Gedichte jetzt auch in der Transportverpackung

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Text müsse brauchbar sein und gebraucht werden - vielleicht kann man Bertolt Brechts Credo in Sachen Literatur am besten so zusammenfassen. Und was wäre dagegen einzuwenden? Die Versenkung? Der Widerwille gegen das Verbrauchen von Texten? Gegen ihr Herabsinken zu Kalendersprüchen und Büchmannzitaten?

Es gibt Schlimmeres für einen Autor als das. Nämlich untaugliche Texte geschrieben zu haben, die dann am Ende auch niemand kennt. Das wiederum kann man von Brecht wirklich nicht sagen. Die angebliche Brecht-Krise, die immer wieder aus der Feuilleton-Mottenkiste hervorgekramt wird, wenn das nächste Jubiläum ansteht, scheint sich zumindest in der medialen Präsenz des Autors und seiner Texte nicht abzubilden. Wenngleich die Vermutung nahe liegt, dass der Suhrkamp-Verlag, der Brechts Werk pflegt, keine Möglichkeit ungenutzt lässt, einen seiner wichtigsten Backlistautoren unter die Leute zu bringen. Nachdem in den Jahren 1988 bis 1993 die Gedichte im Rahmen der neuen Brecht-Ausgabe vorgelegt worden sind, wurde im Jahr 2000 die große einbändige Gedichtausgabe herausgebracht, der nun (2007) die kleine einbändige Gedichtausgabe - in einer verbesserten (?) Neuauflage - folgt, die in jeder Hand- oder Jackentasche ihren Platz finden wird und eifrig durchgeblättert gehört.

Dass der neue Brecht ein anderer ist als der alte, ist hinreichend oft gesagt und geschrieben worden. Also okay: Brechts Benn-Lob, das wir aus der von Elisabeth Hauptmann besorgten alten Gesamtausgabe kennen, ist eigentlich nur Teil eines unwesentlich größeren Gedichtentwurfs, die Texte aus dem Umkreis des "Lesebuchs für Städtebewohner" sind nun andere, und Sammelbände wie die "Hauspostille" haben in ihrer Werkgeschichte zahlreiche Veränderungen erlebt, was von Literaturwissenschaftlern gelegentlich sträflich vernachlässigt worden ist und zu erstaunlichen Anachronismen geführt hat. Ich sage nur "Orges Wunschliste", die hier - korrekt - bei den Gedichten des Jahres 1956 platziert worden ist.

Und trotzdem ist er doch ganz der Alte, also ein Autor, bei dem es Laune macht, sich einen solchen Gedichtband vorzunehmen, durchzublättern und hängen zu bleiben. Außerdem lernt man eine ganze Menge dabei, eben nicht nur bei den gängigen sophistischen Taschenspielereien des Herrn Brecht (wie sagt eine meiner Fernsehheldinnen dazu: "Ich steh drauf"), sondern auch bei den vielen unanständigen Sonetten und sonstigen Gedichten. Also aus der Schublade "Was wir alles noch nicht wussten aber gerne wissen": Hat Brecht doch, wie Werner Hecht schreibt, das Gedicht "Über die Verführung von Engeln" mit "Thomas Mann" gezeichnet.

Allerdings erfahren wir so etwas nicht aus dem Brevier, da die Kommentare und auch Hinweise zu den Abweichungen der früheren Ausgaben nicht mitgedruckt sind, und müssen uns also mit unkommentierten Texten zufrieden geben. Die Sensations- und Klatschlust, die sich doch so gern der Textkommentare bedient, kommt hier nicht auf ihre Kosten. Stattdessen gibt es Texte pur und davon eine ganze Menge. Brecht gehört neben dem Geheimrat von Goethe zu den produktivsten Lyrikern der großen deutschsprachigen Literatur. So kommt dieser Band auf knapp 1.650 Seiten, die zu studieren, zu lesen und anzuwenden sicherlich mehr als ein paar Stündchen braucht. Um alte Favoriten zu finden, lässt sich das alphabetische Werkregister nutzen, das allerdings umgetitelte Texte nicht vermerkt. Hier wird man sich über die Jahre umstellen müssen.

Und ansonsten stöbern: Dabei stößt man auf Texte, die es nie ins allgemeine Bewusstsein der Leser geschafft haben. Etwa "Bei der Geburt seines Sohnes", in dem sich der Sprecher einen dummen Sohn wünscht, damit dieser ein ruhiges Leben als Minister führen könne. Das ist beinahe witzig. Immer noch schön ist auch das "Einheitsfronlied" aus den "Svendborger Gedichten", das es immerhin in die internationalen revolutionären Bewegungen und die DDR- wie DKP-Arbeiterliedfolklore geschafft hat (ich schreibe nur: "Hannes Wader singt Arbeiterlieder"!). Vortrefflich ist nicht zuletzt der Beginn von "Entwurf eines Gesellschaftsvertrags": "Ich, Thomas P., verpflichte mich / Aus freien Stücken heute, angesichts / Des Zustands dieser Welt und feierlich / Zu nichts" (um 1923).

Die "Hauspostille", die "Svendborger Gedichte" und die "Buckower Elegien" gehören nach wie vor zu den großen Würfen der deutschen Lyrik, denen allerdings nicht mit Ehrfurcht und Würde, sondern mit einiger Neugierde und dem festen Willen, sie zu benutzen, begegnet werden soll. Dabei lässt sich vieles lernen, nicht nur wie man Gedichte schreiben kann, sondern auch, dass Literatur nichts Heiliges ist, sondern ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens. Brechts Texte gehören nicht nur aufs Podest, nicht nur ins Matinee, nicht nur in die Schule, sie müssen gelesen, benutzt, ausgebeutet, bestohlen und verbraucht werden. Dass ein Brevier dazu nutzen kann, hätte ihm möglicherweise gefallen.


Titelbild

Bertolt Brecht: Die Gedichte.
Herausgegeben von Jan Knopf.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
1646 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419403

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