Die Dialektik der Freiheit

Walter Fähnders gibt einen Sammelband zu Vagabondage und Bohème in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Freedom is just another word for nothing left to lose, Nothing don't mean nothing, honey, if it ain't free, now now". Diese bekannteste Phrase aus der Ballade über den Verlust Bobby McGhees dürfte in all ihrer Dialektik ziemlich genau die Gefühlslage, das Weltempfinden, das Daseinsgefühl wohl der meisten VagabundInnen oder "Nomadischen Existenzen" treffen. So betont Walter Fähnders im Vorwort zu seinem gleichnamigen Sammelband denn auch, dass zum Nomadischen zwar einerseits eine "libertär-emanzipative Linie" führt, VagabundInnen und NomadInnen andererseits aber eben "nicht nur 'frei'" sind, "wie die 'Freisetzung' des Individuums in Migration und Prekarisierung, die keine Chancen auf Selbstbestimmung zulassen, aktuell zeigen".

Auch Gerhard Bauer dämpft in seinem Beitrag über "Sesshaftigkeitsphobien und ihre unerlässliche Dialektik" den Glauben an die "Aufbauschungen der Nestflüchter, die sich selbst Mut machen wollen". Denn "[d]ie Lust am Anderswo, an der Andersartigkeit" erweise sich bestenfalls als "halbe Wahrheit". Lieber solle man sich an die "mit eingebauten Zweifel" halten. Wie recht er hat, zeigt er auf den knapp zwanzig Seiten seines nicht ohne Erkenntnisgewinn und ob des oft nonchalanten Stils auch nicht ohne Vergnügen zu lesenden Textes.

Wie Fähnders im Vorwort mitteilt, bildete ein Symposium den Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes, der von einer Bibliografie zu Artur Streiter (1905-1936) beschlossen wird. Im Frühsommer 2007 wurde auf einer in Dortmund abgehaltenen Tagung über den Nachlass des Schriftstellers, Zeichners, Malers und Kunsthandwerkers Streiter referiert und diskutiert. Dass die in zwölf Kladden archivierten und bislang unpublizierten Tagebücher Streiters "interessantes kulturhistorisches Material" nicht nur zur Berliner Spätbohème bieten, macht ein Beitrag des Herausgebers mehr als glaubhaft.

Andere AutorInnen werfen Schlaglichter auf die Verbindung "Vagabondage und Boheme". Darüber hinaus vergegenwärtigen die Beiträge die Vagabundenkultur und -literatur insbesondere der Weimarer Republik, fokussieren unter anderem aber auch auf die Literatur des antifaschistischen Exils und die "gegenwärtige türkische Migration". So beleuchtet Tobias Lachmann "Exil als literarisches Projekt" anhand "[n]omadische[r] Diskursformen" in Klaus Manns Roman "Der Vulkan", und Walter Delabar geht "Individualisierung, Prekarisierung, Migration und Nomadisierung" als "Effekte[n] der Modernisierung" nach.

Sargut Sölçün widmet sich dem literarischen Schaffen der zweifellos bedeutendsten deutschsprachigen SchriftstellerIn mit türkischem Migrationshintergrund und geht dem "Nomadendasein in geordnetem Leben" Emin Sevgi Özdamars beziehungsweise deren Ich-Erzählerinnen nach. Gertrude Cebl-Kaufmann heftet sich auf die Fersen der von Berlin bis zum Monte Verita vagabundierenden Bohème und unternimmt mit dem Versuch der "Fixierung eines Typs des Nicht-Fixierbaren" nach eigenem Bekunden die "Quadratur des Zirkels", indem sie "den Bohemien als Klassiker der Nomadenexistenz kennzeichnen" möchte, "dies jedoch in der Verschränkung zu den auffallenden Indizien neuer Sesshaftigkeit". Eine interessante Reise. Schade, dass Wien und München nicht auf ihrem Weg liegen.


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Walter Fähnders (Hg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2007.
150 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783898618144

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