An der Baumgrenze

In den kanadischen Nationalparks geht die Angst vor Grizzlies und Schwarzbären um. Die richtige Reiselektüre bringt den Hiker bei seiner Spurensuche auf andere Gedanken - oder auch nicht

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.

Pascal, Pensée 206

Im westlichen Kanada ist schon seit längerer Zeit der Bär los. Im Kambrium, circa 550 Millionen Jahre vor dem Auftauchen des Menschen auf der Erde, waren die heutigen Landesteile British Columbia und Alberta zu Großteilen unter Wasser. Dort regte sich wimmelndes urzeitliches Leben wirbelloser Wesen. Im vorigen Jahrhundert entdeckte man in der Nähe des Emerald Lake Fossilien ausgestorbener Meerestiere, die die Evolutionsgeschichtsschreibung revolutionierten.

Mittlerweile steht jedoch der Mensch am Ende der Nahrungskette - sollte man zumindest meinen. Die so genannten Stoney Indians, die hier jahrtausendelang im behutsamen Einklang mit der Natur lebten und keine wilden Tiere ausrotteten, sind längst in triste Reservate in der Region der Million-Stadt Calgary verbannt worden. Dies geschah bereits, nachdem die Kolonisatoren das Terrain seit den 1890er-Jahren mit den Pacific Railways nach und nach als eines der ersten Bergsteiger-Eldorados der Welt erschlossen. Allerdings erklärte man die Gegenden nördlich von Calgary bereits damals nach und nach zu Naturschutzgebieten. Und wer sich in die Nationalparks von Banff, Yoho und Jasper auf Hiking-Tour begibt, muss deshalb auch heute noch zur Kenntnis nehmen, dass man hier auf Schritt und Tritt wilden Grizzlies und Schwarzbären begegnen kann - von Pumas, Wölfen und anderen Fleischfressern einmal abgesehen.

"Neulich erst wurde eine junge Frau beim Joggen gefressen", warnte uns vor unserer Abreise in Deutschland eine Bekannte aus Cranbrook in British Columbia. Wir sollten jedoch die Aktualisierung eines deutschsprachigen Hiking-Führers für die kanadischen Rocky Mountains besorgen. Die Wildnis rief. Was tun?

Die Bären-Benimm-Fibel

Zunächst einmal da nachschlagen, wo die Deutschen seit jeher ihr Nordamerika-Wissen beziehen: bei Karl May. In "Winnetou I" wird man schnell fündig: "'Ein Bär, ein gewaltiger Bär, ein grauer Grizzlybär!' keuchte er, indem er an mir vorüberrannte. Zu gleicher Zeit schrie eine zeternde Stimme: 'Zu Hilfe, zu Hilfe! Er hat mich fest! Oh, oh!'" Old Shatterhand weiß: "In dieser Weise konnte ein Mensch nur dann brüllen, wenn er den offenen Rachen des Todes vor sich gähnen sah. Der Mann befand sich jedenfalls in der äußersten Gefahr; es mußte ihm Hilfe werden. Aber wie?"

Tja: "Ich hatte mein Gewehr beim Zelte gelassen, weil es mich bei der Arbeit hinderte. [...] Wollte ich erst nach dem Zelte laufen, so wurde der Mann, ehe ich zurückkam, von dem Bären zerrissen; ich mußte also hin zu ihm, so wie ich war; ich hatte nur das Messer und die beiden Revolver im Gürtel. [...] Was sind aber das für Waffen gegen einen Grizzlybären! Der Grizzly ist ein naher Verwandter des ausgestorbenen Höhlenbären und gehört eigentlich mehr der Urzeit als der Gegenwart an. Er wird bis neun Fuß lang, und ich habe Exemplare erlegt, welche ebenso viel Zentner schwer waren. Seine Muskelkraft ist so riesig, daß er, einen Hirsch, ein Fohlen oder eine Bisonfärse im Rachen, mit Leichtigkeit davontrabt. Ein Reiter kann ihm nur dann entfliehen, wenn er ein sehr kräftiges und ausdauerndes Pferd besitzt, sonst holt ihn der graue Bär sicher ein. Bei der riesigen Stärke, der absoluten Furchtlosigkeit und nie ermüdenden Ausdauer des Grizzlybären gilt seine Erlegung unter den Indianern natürlich für eine ungeheuer kühne Tat."

Kann man doch damit wirklich seine liebe Not haben: "Ich [...] versetzte dem Bären aus allen mir zu Gebote stehenden Kräften einen Kolbenhieb gegen den Schädel. Lächerlich! Das Gewehr zerplitterte wie Glas in meinen Händen; so einem Schädel ist nicht einmal mit einem Schlachtbeile beizukommen; aber ich hatte doch den Erfolg, den Grizzly von seinem Opfer abzulenken. Er drehte den Kopf nach mir um, nicht etwa schnell, wie es bei einem katzen- oder hundeartigen Raubtiere der Fall gewesen wäre, sondern langsam, als ob er über meinen dummen Angriff ganz verwundert sei. Mich mit seinen kleinen Augen messend, schien er zu überlegen, ob er bei seinem bisherigen Opfer bleiben oder mich anpacken solle; diese wenige [wenigen] Augenblicke retteten mir das Leben, denn es kam mir ein Gedanke, der einzige, der mir in der Lage, in welcher ich mich befand, Hilfe bringen konnte. Ich riß den einen Revolver heraus, sprang ganz nahe zu dem Bären heran, welcher mir zwar seinen Kopf, sonst aber den Rücken zukehrte, und schoß ihn ein-, zwei-, drei-, viermal in die Augen [...]. Dies geschah natürlich so schnell, wie es mir möglich war; dann sprang ich weit zur Seite und blieb da beobachtend stehen, indem ich nun das Bowiemesser zog."

Okay. Weiterlesen hat hier keinen Zweck. Denn weder werden wir ein "Bowiemesser" noch irgendwelche Knarren bei uns haben! Und das alles wird sogar noch besorgniserregender: Denn je mehr man anderswo nach verlässlichen Informationen weitersucht, desto unübersichtlicher wird der Fragenkatalog. Im Internet recherchierte Verhaltensregeln, Ratschläge in kanadischen Fachbüchern oder auch wohlmeinende Tipps von erfahrenen Bekannten ergeben nichts als ein Knäuel abstruser Widersprüche. Mal soll man den Bären anschreien, mal im ruhig zumurmeln, "um ihm zu zeigen, daß man ein Mensch ist und damit seine Neugierde zu befriedigen" (Campingbroschüre in Lake Louise); mal soll man sich gar flach auf den Boden legen und tot stellen (was allerdings meist Eingriffe der plastischen Chirurgi nötig mache). Mal soll man die Hände heben, um "groß" zu erscheinen - oder am besten gleich auf den nächsten Baum klettern. Dann aber sieht man im nächsten Reiseführer schon wieder ein Foto von einem gemütlichen Meister Petz, der einer Frau seelenruhig an einem dünnen Birkenstamm nachklettert. Ein befreundeter "konkret"-Autor rät sogar, er habe "irgendwo mal gehört", dann solle den Bären in jedem Fall ansehen - aber nicht direkt in die Augen, denn dies könne ihn wiederum "verärgern".

Am Ende bleibt einem nur noch die Möglichkeit der Wahl zwischen zwei lächerlichen Placebo-Talismanen, die man auf den Hikes bei sich tragen kann: am Gürtel zu befestigende Metallglöckchen und "Bear Spray". Erstere Maßnahme folgt dem Ratschlag, man solle auf dem Trail stets Krach machen, um auf dem Weg befindliche Tiere zu warnen und vorsorglich zu verscheuchen. Die beim Laufen lächerlich leise bimmelnden Glöckchen sollen dies quasi en passant erledigen, ohne dass man dauernd laut herumschreien muss. Wir entscheiden uns jedoch - gut deutsch - für die martialischer wirkende Option, für die man im Laden immerhin sogar ein kanadisches Waffenschein-Formular ausfüllen muss: das Pfefferspray. Ob allerdings der Wind nicht zufällig aus der Gegenrichtung kommt, wenn man die Sprühdose im entscheidenden Moment auf den ungleichen Gegner richtet - und ob man es in dem panischen Augenblick überhaupt schaffen würde, die Plastik-Abzugssicherung abzuziehen: das alles erscheint doch mehr als fraglich.

Das alles ist schön zusammengefasst in dem Witz, den uns ein professioneller isländischer Hiker erzählt, den wir auf einer gemeinsamen Wanderung zum Sentinel Pass (2.611 m) am Mount Temple (3.543 m) kennenlernen, wo man gesetzlich zu der Vorsichtsmaßnahme verpflichtet ist, mindestens zu viert zu Wandern, da es sich bei dem Gebiet um den Moraine Laks um einen veritablen Grizzly-Hotspot handelt: "Woran erkennt man, daß der verdächtige Kot auf dem Weg von Bären stammt? Na, daran, dass Glöckchen drin sind und er nach Pfefferspray riecht!"

Gefährliche Begegnungen

Kaum in Calgary gelandet und im Banff-Nationalpark angekommen, lässt die erste Bären-Konfrontation auch nicht mehr lange auf sich warten. Der Schwarzbär Jake, den wir im Informationszentrum des Mini-Städchens Field am Kicking Horse River treffen, ist allerdings mausetot - und ausgestopft.

Jake war aus menschlicher Sicht ungezogen. Hatte er doch herausgefunden, dass es eine Alternative zur mühsamen Nahrungssuche in der kargen Natur der Rockies gab: In Städte vorzudringen, unter anderem Autos zu knacken und darin nach verpacktem Essbaren zu fahnden. Wer einmal im Schweiße seines Angesichts den Cory Pass bei Banff abgelaufen ist und auf dem bereits im Hochgebirge gelegenen Scheitelpunkt des Weges ein schlichtes Brot mit einigen Scheiben frischen Cheddar-Cheeses genossen und schätzen gelernt hat, kann das gut verstehen.

Die Einwohner von Field und Lake Louise nahmen es Jake dennoch übel. Zwar hatten sie mit ihm mehr Geduld als die Deutschen mit ihrem sensationellerweise nach Bayern vorgedrungenen "Problembär Bruno" - aber als man Jake bereits mehrmals eingefangen, ganz woanders ausgesetzt und dann schließlich dennoch immer wieder an bekannten Stellen auf frischer Tat ertappt hatte, schoss man ihn 1999 ab.

Bald darauf bewegen wir uns aber auch schon selbst inmitten der heißen Kampfzone. Einer der auratischsten Wanderorte der kanadischen Rockies, Lake O' Hara, wird für drei Tage unser Zuhause. Der unglaublich malerisch gelegene Gebirgssee ist schwer zugänglich. Hier gibt es nur eine kleine Lodge und einen noch kleineren, spartanischen Campground, auf dem man allenfalls mit Glück einen Platz reservieren kann. Man erreicht das Terrain mit einem dieser hier typischen, gelben "Nigthmare on Elm Street"-Busse, die auf einem abseits des Icefield Parkways gelegenen Parkplatz viermal am Tag die 11 km hinauf zum Lake O' Hara fahren.

Ist es einem gelungen, sich auf die Liste eines solchen Transfers setzen zu lassen, gehört man für die gebuchte Zeit zu einer kleinen, verschworenen internationalen Gemeinde rabiater Traveler und Outdoor-Freaks, die in ihrer Sammlung weltweiter Hike-Erfahrungen nur das Allerabgefahrenste gelten lassen. Hier treffen wir beispielsweise jenen drahtigen, weißhaarigen Alten aus Halifax, der um sieben Uhr Morgens bei minus zwei Grad auf seinem ultratrickreichen Jet-Boil-Apparat stoisch frische kanadische Pfannekuchen gart und dabei lässig erzählt, er liebe es, täglich im Eismeer zu surfen. Solche Typen, die noch mit 65 eine Sixpack-Bauchmuskulatur vorzuweisen haben und sich gebärden, als wären sie 25, interessiert letztendlich nur eines: Kletterrekorde, Höhenangaben, sensationelle Geschichten von harten Hikes wo auch immer.

"So where do you folks come from?" - diese unerbittliche Frage lässt bei den redseligen Kanadiern und US-Touristen nie lange auf sich warten. Das ist dann immer der bittere Moment, in dem man bedauernd "Germany!" sagen muss. Entgegen schlägt einem jedoch prompt ein euphorischer Sturm der Begeisterung mit Beifall erheischenden Bekenntnissen wie: "Are you from Bavaria? I was at Schloss Neuschwanstein and in Garmisch-Partenkirchen!" Eine US-Amerikanerin verrät uns mit einem irren Leuchten in den Augen, was sie am meisten aus Deutschland vermisse, seien "Beer, Spätzle and Spaghetti-Ice".

An diesem Morgen habe ich allerdings auch eine aufsehenerregende Geschichte zu erzählen, die die Gesichter aus Australien, North Carolina, Großbritannien und Neufundland vor Schreck erblassen lässt: "Listen, I only know one thing. Last night some beasts ate my socks!" Beim Anziehen musste ich nämlich feststellen, dass uns hier oben nicht nur Bären Böses wollen. Eine meiner speziellen Wandersocken, von denen ich insgesamt nur drei Paar dabei habe, ist über Nacht im Zelt zur Hälfte verspeist worden, von wem und was auch immer.

Wilde Nagetiere aller Art, von Stachelschweinen (Porcupines) über Murmeltiere (Marmots) bis hin zu Eichhörnchen (Squirrels), sind hier Legion, begegnen einem auf Schritt und Tritt und legen dabei eine Furchtlosigkeit, ja Frechheit an den Tag, die schlicht atemberaubend ist. Verschlossene Auto-Kofferräume mit Essen, hermetische Zelte, abschreckende Gebärden: nichts hält diese putzigen Biester davon ab, uns und unsere Utensilien interessiert zu begutachten und gegebenenfalls anzufressen.

Überhaupt: Auf den gottverlassenen und in der Regel allein von den Campern bewohnten Zeltplätzen - Verwaltungspersonal oder ähnliches gibt es nur in den seltensten Fällen - lernt man, seinen Überlebensalltag mindestens so pedantisch zu organisieren, wie der Oberlangweiler Freiherr von Risach in Adalbert Stifters noch langweiligerem Roman "Der Nachsommer" (1857). Obwohl es hier an sanitären Anlagen nur eine Latrine und einen Wasserhahn gibt, aus dem stoßweise gechlortes Trinkwasser schwappt, lernt man sich so umsichtig zu benehmen, als befände man sich auf einer Intensivstation einer Klinik oder in einer Raumkapsel der NASA. Jedes einzelne "Ding" hat seinen Ort, muss in verschließbaren Plastikhüllen luftdicht geschützt, sorgfältig verborgen und gewissenhaft verstaut werden.

Der Hauptgrund hierfür sind einmal mehr die drohenden Attacken der Bären. Zwar hören diese Tiere nur ungefähr so gut wie wir Menschen, doch ihre Nasen wittern alles Essbare auf Kilometer und ziehen sie - wie Jake - magisch an. Essensgerüche müssen deshalb auf dem Campground um des lieben Überlebens willen auf ein äußerstes Minimum beschränkt und an einem einzigen Ort konzentriert werden: den unmittelbaren Umkreis stählerner Schränke, der so genannten Food Storage Boxes. Wie übrigens selbst die öffentlichen Mülltonnen von 'größeren' Städten wie Banff, Lake Louise oder Jasper sind diese darüber hinaus mit einem kindersicherungsartigen Verschluss versehen. Essbare Utensilien oder auch beim Kochen getragene Kleidung, die hinterher nach Mahlzeiten riecht oder riechen könnte, aber auch Deos, Zahnpasta oder Duschgel - all dies ist hier nach Gebrauch umgehend zu verstauen und wegzuschließen. Nur wer unbedingt scharf darauf ist, nachts mit einer Bärentatze auf der Brust oder einem gigantischen Gebiss im Nacken aus seinen süßen Träumen zu erwachen, bewahrt solche Sachen aus Faulheit in seinem Zelt auf.

Das unheimliche Schweigen ewiger Wälder

"Keine Spur von Menschenhand, jungfräuliches Schweigen", raunt der - hier wie gesagt irgendwie passende - Stichwortgeber Adalbert Stifter in seiner Erzählung "Der Hochwald" (aus den "Studien, 1844-1850"). "Ein dichter Anflug junger Fichten nimmt uns nach einer Stunde Wanderung auf, und von dem schwarzen Samte seines Grundes herausgetreten, steht man an der noch schwärzeren Seefläche." So ungefähr, wie in den unendlich wirkenden Wäldern Böhmens vor hunderten von Jahren, in denen Stifters Text angesiedelt ist, fühlt man sich auch, wenn man erstmals am Lake O' Hara steht - nur dass der See nicht tiefschwarz, sondern wie alle kanadischen Gewässer kristallklar und deswegen in allen nur erdenklichen Blau- und Grünschattierungen schillernd daliegt.

"Ein Gefühl der tiefen Einsamkeit überkam mich jedesmal unbesieglich, sooft und gern ich zu dem mächenhaften See hinaufstieg. Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte, liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von dichtem Fichtenbestande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt wie eine einzelne altertümliche Säule." Stifter zu zitieren ergibt auch deshalb Sinn, weil die bereits zu seiner Zeit in Europa untergegangene Natur, die er im "Hochwald" einerseits sehnsuchtsvoll, andererseits aber auch vor ihrer dämonischen Erhabenheit erschaudernd beschreibt, in Kanada noch heute existiert. Hier stehen die Tannen tatsächlich immer noch wie eine Eins, tote Baumstämme liegen wild umher wie silber gebleichte Gerippe - und stille Seen überraschen uns hinter jeder zweiten Felsecke. Dort "ruht das Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen und der Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus wie aus einem ungeheuren schwarzen Glasspiegel" (Stifter).

Dem Misanthrop Arno Schmidt, der von dieser frühen Prosa Stifters lange fasziniert war und meinte, sie sei bei James Fennimore Cooper abgekupfert - einem weiteren Schriftsteller, der menschenleere nordamerikanische Landschaften favorisierte -, hätte es hier sicher gefallen, wäre er nicht so sehr gegen Berge und für das platte Land gewesen: "Ich begreife mindestens ebenso gut wie STIFTER (der COOPER im ,Hochwald' begeistert plagiiert hat) schlechthin Alles: die ,Grands Arbres›' seiner Wälder; das ,Siebzehn sind zu viel!' (nämlich Nachbarn); vor allem aber die endlosen Haide=Weiten eben dieser just neugebackenen ,Prärie' - ah, Flachland & Nachschlagewerke; da kriegt man doch noch Luft!", frohlockt Schmidt in seinem Text "Schutzrede für ein graues Neutrum" (1964).

In den kanadischen Rocky Mountains begibt man sich tatsächlich direkt hinein in die versunken geglaubten Sehnsuchtswelten Stifters und Coopers - letztere beiden sind laut Schmidt Autoren, denen "gleichermaßen Chlorophyll in den Adern floß" (Nachwort zu Coopers "Conanchet", 1962). "Jedesmal, wenn er drüben am Ufer des Otsego Lake ein neues Blockhaus sah, schnitt er eine Kerbe in die Douglasfichte und sprach einen Fluch dazu", heißt es im Cooper-Funk-Essay "Siebzehn sind zuviel" (1958); "als es 17 waren, ertrug es sein Herz nicht länger; er schulterte Killdeer, pfiff seinem gleichermaßen zähen Hundegreis, und trabte angewidert weiter, nach dem leeren Westen: der 'Lederstrumpf'."

Auf den Trails um Lake O' Hara und die anderen Gletscherseen, auf die man dort immer wieder stößt, wird man tatsächlich von einer Stille begrüßt, die uns, sonst im Alltag von unzähligen Geräuschkulissen bis zur gehörstürzenden Besinnungslosigkeit zugedröhnt, fast schon unwirklich erscheint. Hier regiert jene ewig schweigende Einsamkeit ausgedehnter Weiten, die Grizzly-Bären brauchen, um frei leben zu können. Was Stifter im "Hochwald" Mitte des 19. Jahrhunderts über Böhmen schreibt, hat hier noch immer (eine fragile) Gültigkeit: "Es sind noch heutzutage ausgebreitete Wälder und Forste um das Quellgebiet der Moldau, daß ein Bär keine Seltenheit ist und wohl auch noch Luchse getroffen werden; aber in der Zeit unserer Erzählung waren diese Wälder über all jene bergigen Landstriche gedeckt [...]. Wohl acht bis zehn Wegestunden gingen sie damals in die Breite, ihre Länge beträgt noch heute viele Tagesreisen."

Was in den kanadischen Rocky Mountains außerdem auffällt, sind viele neue Gerüche: vanilleartige Harz- und Tannennadelaromen, nie wahrgenommene Gewürz- und Kräuterodeurs - aber auch fast schon fäkalienartige Ausdünstungen, die ebenfalls von irgendeiner Pflanze zu stammen scheinen, die auf den Wegen immer wieder ganze Wiesen damit einhüllt. Auch Pilze gibt es hier in riesiger Hülle und Fülle, in allen nur erdenklichen Formen, Gruppierungen und vor allem den aberwitzigsten Farben.

Schlaflos am Takakkaw Fall

Schön und gut - doch um in derartigen Gegenden zu weilen, muss man auch viel Unangenehmes in Kauf nehmen. Zum Beispiel: zu zelten. Am Takakkaw Fall-Campground, direkt unterhalb des Waputik Icefields mit seinen Gletscherausläufern und dem eindrucksvollem Wasserfall, verbringen wir die vierte Nacht in Folge. Es gibt keine Duschen und kein Trinkwasser. Aus der einzigen vorhandenen Handpumpe plätschert eine bräunliche Eisenbrühe, die man abkochen sollte, bevor man sie zu sich nimmt. Zum nächsten Gletscherfluss sind es allerdings "nur" zehn Minuten Fußweg. Heute haben uns die letzten Menschen, die zufällig mit uns ihr Lager aufgeschlagen hatten, verlassen - und ausgerechnet an dem Morgen ist hier ein Bär aufgetaucht. In der Nähe des Flusses soll er nah an ihr Zelt gekommen sein, alarmieren uns zwei US-Amerikanerinnen mit Baby, bevor sie Hals über Kopf davonfahren.

Auf unserer beschwerlichen 20-km-Wanderung, hoch oben um den Emerald Lake, der wie ein grüner Smaragd unten in den weiten Tannenwäldern des Yoho National Parks liegt, haben wir außerdem mehr Spuren der gefährlichen Waldbewohner gefunden als sonst - nur ein Tal weiter. Aus Angst sind wir längst zu veritablen Trappern mutiert, die die Spuren mindestens ebensogut zu lesen wissen wie Old Shatterhand: zum Beispiel Baumstämme, an denen Bären die Rinde abgekratzt haben, um ihre Krallen zu wetzen. Wir erkennen aber auch ihren charakteristischen Cranberry-Geruch und - last but not least, ihre frische "Losung".

In der folgenden Nacht kann ich, wie so oft, nicht schlafen. Es wird aufgrund der nahen Gletscherzungen, die uns hier in allen Himmelsrichtungen umzingeln, empfindlich kalt. Die Temperaturen sinken unter Null. Wie eine Wurst in meinem Mumienschlafsack gepresst, wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Liege ich auf der linken, schmerzt meine Hüfte. Das ist der Horror.

Außerdem fange ich jetzt an, noch mehr auf die knackenden Geräusche aus dem nahen, dunklen Wald zu hören, und bekomme so nur noch mehr Angst vor dem - womöglich immer noch irgendwo da draußen umherschleichenden - Bär von heute morgen, als ich sowieso schon habe.

Da hilft es noch nicht einmal, sich die legendäre 1955er-Einspielung der 32 Bach'schen Goldbergvariationen durch den kanadischen Pianisten Glenn Gould ins Gehör zurückzurufen. Zu allem Unglück habe ich nämlich am Abend angefangen, Mark Z. Danielewskis 800-seitigen Meta-Schauerroman "Das Haus - House of Leaves" zu lesen. Ein grausiges Buch, in dem es kurz gesagt um den Raum geht und alles, was damit zu tun hat. Genauer: Tödliche, unendliche Räume, die man besser nicht herausfordert, indem man sich anmaßt, sie zu betreten, um sie zu erforschen. Danielewskis suggestives Buch fantasiert gewissermaßen das aus, was Thomas Bernhard in seinem Kurzprosatext "Höhlenforscher" aus der Sammlung "Der Stimmenimitator" (1978) auf einer einzigen lakonischen Seite komprimiert hat: Dort geht es um eine österreichische Grotte bei Salzburg, in die nacheinander drei immer besser ausgerüstete Höhlenforscherteams eindringen, um sie zu untersuchen beziehungsweise die bereits darin verschwundenen Kollegen zu retten. Nachdem auch die dritte Gruppe spurlos verschwunden bleibt, lässt die Landesregierung die Höhle kurzerhand zumauern. Aus.

Die Architektur und eben auch Landschaften wie dieses Yoho Valley, in dem ich hier herumliege, denke ich, existieren eben nur durch das in unserem Gehirn konstruierte Raumerleben, gefärbt durch unseren individuellen psychischen Hintergund - unsere Assoziationen, Traumata, unsere Furcht oder unsere ureigenen Wünsche. Und so wie deshalb den Figuren bei Danielewski das labyrinthische Haus auf unterschiedliche Weise als undurschaubarer, endlos auswachsender Alptraum begegnet, weil sie womöglich irgendwelche prägenden Kindheitsverletzungen verdrängt haben, fühle ich mich jetzt im sinistren Yoho Valley verloren, sage ich mir - mit seinen in der Ferne dräuenden Gletschern als gigantischen, Unwetter magnetisch anziehenden Himmelskühlaggregaten und dem tosend rauschenden Wasserfall in unmittelbarer Nähe.

Diese rührenden Rationalisierungsversuche scheitern allerdings schon im Ansatz. Meine Freundin und ich liegen jetzt ganz allein da, umgeben von den Lovecraft'schen "Bergen des Wahnsinns". Wir sind vollkommen schutzlos jenen dunklen Kreaturen auf dem Silbertablett serviert, die da gerade ganz in der Nähe lauern und - aus irgend einem perfiden Grund - ihren tödlichen Angriff noch ein wenig hinauszögern!

In der Höhe

Meistens übernachten und wandern wir in circa 2.000 Metern Höhe. "An der Baumgrenze" also, um eine weitere Erzählung Thomas Bernhards aus dem Jahr 1969 zu zitieren, in der dort übrigens ein junges Paar umkommt. Unter anderem ist da nebenbei die Rede von einem "entsprungenen Häftling, der, in Häftlingskleidung, in dem Hochwald über einen Baumstamm gestürzt und an einer tiefen Kopfwunde verblutet und, von Füchsen angefressen, [...] aufgefunden worden ist." Den Liebhaber der jungen Frau, die sich am Ende in einer abgelegenen Hütte aus unerfindlichen Gründen mit Tabletten umbringt, findet man "knapp unterhalb der Baumgrenze [...] erfroren und mit zwei von ihm erschlagenen schweren Gemsen zugedeckt."

Manchmal vergesse ich unterwegs trotz solcher literarischer Assoziationen sogar kurz, dass unser "Job" in den kanadischen Rockies eben wirklich auch nicht so ganz ohne ist. Auf dem Wilcox Pass (2.376 m) gegegenüber dem riesenhaften Athabasca Glacier, der vom noch viel größeren Columbia Icefield (325 km² auf der Höhe von circa 3.000 m, mindestens 8.000 Jahre alt) abzweigt und den jährlich Millionen Menschen vom Highway aus besichtigen, denke ich gerade, dass dort ja wohl auch der letzte Dummkopf begreifen müsse, was es mit dem weltweiten Klimawandel auf sich habe. Unten am Athabasca Glacier wird nämlich mit Hinweisschildern die von Jahr zu Jahr verringerte Gletscher-Ausdehnung seit 1915 in etwa 10-Jahresabständen markiert. So kann man die beschleunigte Schrumpfung der Eismassen, die bereits ein ganzes Tal von Geröll und Schutt freigegeben haben, abschreiten.

In diesem Moment raschelt es plötzlich neben mir. Fünf oder sechs große Big Horn Sheep heben ihre drohenden Köpfe mit circa 20, 30 Zentimeter langen Hörnern - und kommen bereits aus unmittelbarer Nähe angriffslustig auf mich zu. Vor lauter Konzentration auf die albernen Bären, die alle paranoiden Gespräche unserer Reise wie Phantome oder fixe Ideen begleitet haben, habe ich von diesen unerwarteten Tieren noch überhaupt nichts gehört, gelesen oder gesehen! Später erzählt mir eine kanadische Wanderführerin am Icefield Campground, diese Viecher griffen mit ihren furchteinflößenden, massiven Hörnern sogar Autos an, ohne zu zögern. In diesem Moment befinde ich mich allerdings auf einem nur knapp 50 cm breiten Trail am Abgrund eines tundraartigen Höhengrads, auf dem mir die Tiere bereits entschlossen entgegen traben. Es gelingt mir, noch schnell ein Foto zu machen, bevor ich zusehe, dass ich Land gewinne: nicht hektisch, aber doch zügig zurückgehend. Irgendwann drehen die Böcke ab.

Die andere Seite

Die tatsächliche Perversität des Bergsteigertums sollte man sich immer wieder, auch wenn man sich ihr in schwachen Momenten selbst hingibt, vor Augen halten. Der Weg nach oben ist in Wirklichkeit ein Weg hinab in karge und lebensfeindliche Zonen des Todes, in denen wir, nüchtern betrachtet, überhaupt nichts zu suchen haben.

Bergsteiger sind Todessucher und gleichzeitig ideologische Mortifizierer der Natur. Nicht von ungefähr waren die Nationalsozialisten vom Bergsteigen, war Leni Riefenstahl vom Gebirge begeistert. Einer der genialsten Texte zu diesem Phänomen, jener reinheitsfanatischen Suche nach "unberührter Natur" und "Ruhe" ist Thomas Bernhards Text "Wiedersehen" von 1982: "Schon die Vorbereitung unserer Eltern auf die Berge hatte uns gegen sie und dadurch gegen die Berge aufgebracht, gegen die frische Luft und gegen die von unseren Eltern ununterbrochen herbeigesehnte Ruhe, die sie in den Bergen und nur in den Bergen zu finden glaubten", heißt es da. "Nie habe ich die Welt bedrohlicher und verletzender gesehen, als auf einem Bergipfel. Während mein Vater ein paarmal sagte, was für eine Ruhe hier auf dem Gipfel herrsche, eine majestätische Ruhe, sagte er, hielt er es im Grunde vor lauter Unruhe nicht mehr aus, denn die Unruhe ist dort, wo man die Ruhe am absolutesten [...] erwartet, [...] und er peinigte sich mehrere Male mit der Äußerung, daß er jetzt in der größten Ruhe sei, wir alle seien auf einmal in der größten Ruhe [...]; er forderte meine Mutter fortwährend auf, zu sagen und zuzugeben, daß wir jetzt in der größten und absoluten Ruhe seien und die Mutter sagte auch ein paarmal, daß wir in der größten und absoluten Ruhe seien, wie still, wie ruhig es hier ist, sagte sie, die allergrößte Ruhe ist hier. [...] Der Aufstieg hatte acht Stunden gedauert. Die Eltern hatten sich in dem Felswinkel aneinander gedrückt und am ganzen Leib gezittert. Der Sturm war so laut, daß ich kaum etwas verstand, wie der Vater sagte: was für eine Ruhe hier herrscht."

Diese absurde Suche nach "Ruhe", die in den kanadischen Nationalparks heute sogar tatsächlich noch belohnt wird - jedenfalls wenn man sich nicht so komödiantisch gebärdet wie Bernhards Figuren und einfach einmal die Klappe hält - sieht ihrem unweigerlichen Aussterben entgegen, weil so viele nach ihr fahnden. In Jasper erzählt uns ein Kanadier von Vancouver Island, der komischerweise genau wie Wim Wenders aussieht, auf der größtenteils von nordischem Regenwald bedeckten Insel an der Westküste Kanadas platze der Wohn- und Bauraum bereits aus allen Nähten.

Niederschmetternd wirkt auch das vielgelobte Plateau der Sunshine Meadows (2.200 m). Denn diese einst sicher idyllische Landschaft ist bereits unheilbar von jener großen Plage unserer Zeit befallen, die sie im Winter zu einem Gaudi-Zentrum abertausender Besucher macht: dem Ski-Tourismus. Elfriede Jelinek, die sich in Texten wie ihrem Drama "In den Alpen" (2002) schon seit Längerem auf dieses Kulturphänomen eingeschossen hat, hätte auch an dieser Landschaft ihre wahre Freude: Überall im spätsommerlich verwaisten Tal stehen die bunten Gondel- und Sessellifte herum. Selbst jetzt im gleißenden Sonnenschein dröhnen riesige Generatoren. Unzählige Schneefahrzeuge liegen auf dem Trockenen, die die Region schon in wenigen Monaten in eine einzige dröhnende Motorhölle verwandeln werden. Ganze Bergrücken sind hier bereits, wie jetzt gut zu erkennen ist, von den Ski-Loipen in kahle Abraumhalden verwandelt worden, die man im Ruhrgebiet nicht weniger gut besichtigen könnte.

Bei diesem Anblick wird uns einmal mehr bewusst, dass wir hier als organisatorische Vorhut der mindestens zweitgrößten Plage unserer Zeit unterwegs sind: des Alpinismus. Kurz: Auch wir sind hier zuviel. Mit dieser Gewissenslast treten wir schließlich den Heimweg an. Zurück nach Europa. Übrigens, ohne auch nur einen Bären gesehen zu haben.

Unabdingbare Reiselektüre:

Mark Z. Danielewski: Das Haus - House of Leaves. Stuttgart 2007.

Thomas Bernhard: An der Baumgrenze und ders.: Höhlenforscher. In: Werke 14: Erzählungen, Kurzprosa. Frankfurt am Main 2003.

Elfriede Jelinek: In den Alpen. In: Theater heute 11/02.

Howard Phillip Lovecraft: Die Berge des Wahnsinns. Frankfurt am Main 1997.

Arno Schmidt: Schutzrede für ein graues Neutrum. Bargfelder Ausgabe (BA). Hrsg. von der Arno Schmidt-Stiftung, Bargfeld. Zürich, 1986 ff., Band III/4.

Ders.: Nachwort zu Coopers "Conanchet". BA III/4.

Ders.: Siebzehn sind zuviel! BA III/3.

Karl May: Winnetou I. Freiburg 1909.

Adalbert Stifter: Der Hochwald. Berlin und Weimar 1966.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Leipzig 1988.

Soundtrack:

J.S. Bach: Goldberg Variationen BMW 988. The Historic 1955 Debut Recording. Glenn Gould, piano. Sony Classical 1992.