Ein gekränkter Mann

Anmerkungen zu Martin Walsers artifiziellem Goethe-Roman

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Walser ist ein hochgradig verletzbarer Autor. Trotz aller Erfolge ließ er sich durch mehr oder weniger berechtigte Kritik an ihm immer wieder zu öffentlichen Reaktionen hinreißen, angesichts derer man an seinem politischen Verstand ebenso wie an seiner sozialen Sensibilität zweifeln musste. Seine fatale Rede von 1998 in der Paulskirche war nicht zuletzt eine Antwort auf die (ungerechten) Vorwürfe im "Literarischen Quartett" gegen den autobiographischen Roman "Ein springender Brunnen". Und der so misslungene wie gehässige Roman "Der Tod eines Kritikers", nach dem ich meine langjährige, ziemlich kontinuierliche Walser-Lektüre vorläufig abgebrochen habe, lässt sich nicht zuletzt als eine grotesk maskierte Rache an Reich-Ranickis Ausführungen in "Mein Leben" über Walsers Rede verstehen.

Mit "Ein liebender Mann" präsentiert sich ein ganz anderer, gewandelter Walser, so scheint es zunächst. Zwar kennt man die Konstellation 'Alter Mann liebt junges Mädchen' aus früheren Romanen. Aber sie allein ist ohnehin nicht sonderlich reizvoll. Und spannend ist sie in diesem Goethe-Fall erst Recht nicht, weil man als Leser den Ausgang des Geschehens schon von Beginn an ungefähr kennt. Aber wie Walser mit dem Stoff umgeht, ist trotz mancher sprachlichen Entgleisungen und erzählperspektivischen Ungereimtheiten schon bewundernswert, ja aufregend - wenn man erstmal bemerkt, dass Alterserotik und Alterssexualität für diesen Roman längst nicht die Bedeutung haben, die viele in ihn hineinlesen wollen. Es geht um anderes weit mehr: um die Beziehung zwischen Kunst und Leben, Literatur und Musik, Schreiben und Lesen, Sehen und Hören, Maskenspiel und Authentizität, Komik, Ernst und Tragik, Fiktion, Wahn und Wirklichkeit, Lüge, Verstellung, Sprache und Wahrheit. Es geht um Kämpfe um Selbstbehauptungen, vor allem gegenüber Ansprüchen anderer, Ängste vor psychischen Verletzungen oder um Bedingungen des Glücks und des Leidens, um Paradies und Hölle. All diese Themen werden aufgegriffen, fallengelassen, leitmotivartig wiederholt, variiert, kombiniert und einander entgegengesetzt.

Der Roman ist so artifiziell und mit einem so dichten Geflecht von Korrespondenzen, Kontrasten und Anspielungen durchkomponiert, dass einige ihn zu Recht mit einem lyrischen Text verglichen haben. Neben Farbmotiven, die auch der Buchumschlag der Tochter Alissa Walser aufnimmt, offen kommentierenden oder bloß anspielenden Bezügen zu diversen literarischen Werken oder auch Mythen sind es beispielsweise Wahrnehmungen der Leichtigkeit und Schwere, die sich durch den ganzen Text ziehen. "Sie ging, als gehe sie aufwärts. Aber völlig mühelos. Sie war ungeheuer leicht." Und mehr als hundert Seiten später: "Sie war so leicht, ihre Glieder flogen ihr wie von selbst voraus, es war eine Pracht, sie gehen zu sehen, aber Schritt zu halten mit ihr fiel ihm schwer. Er war ein schwererer Mensch als sie." Ulrike von Levetzow gleicht darin Goethes neuer Kutsche, einem "Wunderwerk der Leichtigkeit", einer, so später, "vierrädrigen Leichtigkeit". Gegen Ende, in einem todesähnlichen Zustand "erlöst" vom Willen zum Leben, empfindet Walsers Goethe eine neue Leichtigkeit, eine "göttliche Schwere", eine "Leichtigkeitsschwere", in der das "verlorene Gleichgewicht" wieder hergestellt zu sein scheint.

"Leichtigkeitsschwere" in einem anderen Sinn ist auch eine treffende Bezeichnung für Walsers Schreiben, für diese Mischung aus Komik und Ernst, Spielfreude und existentiellem Pathos. Wer ein anschauliches Beispiel für eklatante literarische Qualitätsunterschiede im Umgang mit demselben Stoff sucht, vergleiche dieses Werk Walsers einmal mit Joachim Fernaus 1982 erschienenem Roman "War es schön in Marienbad. Goethes letzte Liebe", vergleiche zum Beispiel Walsers erste Sätze über das Wiedersehen in Marienbad mit den entsprechenden Sätzen von Fernau: "Ulrike Levetzow entdeckte ihn schon von weitem und kam ihm entgegengelaufen, ungestüm, dass die Röcke flogen. Er zog das schöne Mädchen einen Augenblick an sich, wobei er sehr erregt schien..." Schon ein paar Seiten später fällt Fernaus Goethe mit der Tür ins Haus: "Wie wäre es, wenn ich um die Hand Ihrer Tochter anhielte." Am Ende des Romans, nach dem Abschiedskuss und dem "Adieu" an einen "schönen Spätsommertag", verwandelt die Sonne Goethes "wehendes Haar zu einem flimmernden, goldenen Kranz".

Es mag sein, dass Walser aus Fernaus Roman einige Anregungen erhalten hat. Doch solchem Klassikerheldenverklärungskitsch aus der Tradition des 19. Jahrhunderts steht er denkbar fern. Walser, der über Kafka promoviert hat, ist ein Autor der literarischen Moderne, ein Autor des 20. und 21. Jahrhunderts. Und mit der Erdichtung seines Goethe setzt er die in der Moderne spätestens seit Kafka etablierte Reihe der vielen narzisstisch gekränkten und in geradezu pathologischem Ausmaß kränkbaren, durch Konkurrenzkämpfe und Machthierarchien geschädigten Figuren fort, die auch für seine eigenen Werke schon lange typisch sind. Und typisch sind sie auch für die Selbstinszenierungen des Autors in der Öffentlichkeit. Die Grenzen zwischen Figuren- und Selbstdarstellung sind bei Walser ohnehin fließend. Noch bevor der Roman überhaupt beginnt, mit der Widmung, und dann den ganzen Roman hindurch betreibt der Autor ein schon in früheren Romanen inszeniertes Rätselspiel mit dem Leser. Die Widmung lautet: "Für Ulrike von Egloff-Colombier". Wer das wohl sein mag? Eine reale Person? Oder eine den Gleichklang mit Ulrike von Levetzow oder auch mit den im Roman erwähnten Schwestern Caroline und Julie von Egloffstein suchende Erfindung? Auf was aber spielt dann "Colombier" an?

Dass Walser seinen Goethe einen Roman mit dem Titel "Ein liebender Mann" schreiben lässt, gehört zu den zahlreichen Signalen, die den Lesern dazu anhalten, Walser mit seinem Goethe zu identifizieren. Zugleich enthält Walsers Roman jedoch Warnungen vor solchen Gleichsetzungen, wie sie schon im Hinblick auf Goethe und seine Romanfiguren von den Lesern so gerne vorgenommen wurden. "Ach, Ulrike! Wie das jetzt ausdrücken, dass es Lotte nicht gegeben hat. Dass er Lotte war, wie er Werther war. Dass es eine Liebesgeschichte mit sich selbst war. Eine Krankengeschichte."

Eine Krankengeschichte ist auch Walsers Roman. Der liebende Mann ist ein kranker, ein liebeskranker Mann. "Ich bin krank", bekennt Walsers Goethe in einem Brief an Ulrike. "Aus Liebe. Zu Ihnen." Wie schon die pathologische Eifersucht auf den Herrn de Ror, der Ulrike beim Walzer in seinen Armen fliegen lässt, sind die sonstigen Leiden des alten Goethe keine spezifischen Alterskrankheiten. In unterschiedlicher Ausprägung treten ihre Symptome mit siebzehn Jahren ähnlich auf wie mit siebenunddreißig oder siebenundsiebzig, und zwar bei Männern wie bei Frauen. In Walsers Roman finden sie sich bei Goethe wie bei Frau Berlepsch, die von ihrer unerwiderten Liebe zu ihm gequält wird. Und auch die Schwiegertochter Ottilie leidet unter ihnen. Die Ursache ihrer Krankheit ist nach der Diagnose des Arztes Goethe mit seiner Liebe zu Ulrike.

Martin Walsers literarische Liebes- und Leidensphilosophie hat einen umfassenden Anspruch. Der Autor kann es allerdings auch in diesem Roman nicht ganz lassen, seine persönliche Gekränktheit in den öffentlichen Auseinandersetzungen um ihn deutlich kundzutun. Auch dieser Roman ist stellenweise eine Antwort auf Kritik, die an Walser geübt wurde und die er als eine Art Verschwörung verstand - wie in seinem Roman Goethe: "Ich nenne inzwischen dieses Zusammenwirken aller Hochlegitimen gegen mich Dramaturgie. Das ist eine Veranstaltung, bei der alle sich nicht mit einander verabreden müssen und doch zusammenwirken, auf ein Ziel hin: Das Ziel bin ich beziehungsweise der Nachweis meiner Unmöglichkeit." Es ist nichts weniger als ein "Krieg", der gegen ihn geführt wird, "ein Kampf auf Leben und Tod". Ottilie hält Goethe in diesem Krieg vor, was nach dem Erscheinen des Romans "Angstblüte", wenn auch längst nicht so drastisch, dem Autor Walser vorgeworfen wurde. Er müsse sich, schreibt Goethe an Ulrike, von Ottilie "niederschreien lassen als Lustgreis, Herumscharwenzler, Mädchenbetatscher, Kindermissbraucher und noch Schlimmeres. Auch Unmensch bin ich jetzt."

Walsers Versuch, im Namen Goethes die Selbstverteidigung im Kampf um die veröffentlichte Meinung zu übernehmen, und sei es nur mit dem Anspruch, das Recht zur Anklage der eigenen Person sich selbst vorzubehalten, erstreckt sich eher beiläufig, aber doch deutlich erkennbar auch auf politische und soziale Problembereiche. So ganz sicher kann man als Leser nicht sein, ob etwa in einem inneren Monolog Goethes dessen Überlegungen zur Französischen Revolution als politische Verlautbarungen Walsers zu verstehen sind: "Dann diese törichte Revolution mit ihren Beglückungsphrasen, die nur die Phrasenmacher selbst beglückten, die Menschen aber auf Hoffnungswege schickte, die ins Unglück führten ..." Neben Goethes Verhältnis zur Französischen Revolution und zu Napoleon oder studentischen Protesten gegen ihn kommen seine Vermeidungsstrategien im Umgang mit dem Unglück anderer zur Sprache. Jemand schildert ihm die "entsetzliche Hungersnot im Erzgebirge". "Goethe hatte sich ein teilnahmsvolles Gesicht abverlangt. Was denn, wie denn, die Welt ein Grauen, bitte, ja, aber was nützt es, teilzunehmen." Als auf jener Kutschenfahrt, während der Goethe, ganz mit sich selbst und dem Schreiben seiner "Marienbader Elegie" beschäftigt, die Nachricht von einer Brandkatastrophe in Hof erhält, befiehlt er sofort den "größtmöglichen Umweg um Hof herum". Von Besorgnis um die Menschen in Hof keine Spur. "Schlimm genug, dass die vorausgeschickte Lastfuhre mit fünf Kisten Mineralien und sechs Kisten Kreuzbrunnen gerade in Hof sein musste, vielleicht in Brandpanik gekippt, Mineralien-Kisten und Kreuzbrunnen-Flaschen verloren. Er zog die Vorhänge vor. Er wollte zur Elegie."

Das erinnert an die Selbstschutzmechanismen, die Walser in seiner Paulskirchenrede zu rechtfertigen versuchte und die ihm als programmatische Mentalität des Wegschauens vorgeworfen wurden. Es ist nicht recht klar, welche Funktion diese Goethe-Passagen in dem Roman haben. Suchen sie beim Leser um Verständnis für Goethes und für die eigene Egozentrik. Oder sind das Ansätze zur Goethe- und zur Selbstkritik?

Martin Walser ist schwer zu fassen. Auch in diesem Roman. Goethe debattiert mit Ulrike wiederholt über einleuchtend formulierte Sätze, deren wohlformulierte Sinnverkehrungen genauso einleuchtend bleiben. Walser selbst vollzieht solche Zurücknahmen von kühnen Sentenzen durch gegenteilige Aussagen immer wieder. Auch da, wo es um das thematische Zentrum des Romans geht: um die Liebe. "Alle Übel der Welt sind entstanden aus Liebesmangel", lässt er Goethe an einer Stelle schreiben. An zwei anderen Stellen erfindet er die Geschichte von Moses, der, vom Aufstieg auf den Gesetzgebungsberg erschöpft, das allererste Gebot Gottes überhört, welches Goethe hingegen begriffen habe: "Du sollst nicht lieben." Der Ursprung jeder Tragödie sei immer die Liebe gewesen. Wozu Liebe? "Dass wir merken, wir leben nicht mehr im Paradies. Dass kein menschliches Leben ohne Leiden bleibe."

Welcher der beiden gegensätzlichen Positionen gibt der Roman Recht? Das bleibt unentschieden. Martin Walser ist ein Spieler, der mal alles auf Rot, mal alles auf Schwarz setzt. Das macht einen Teil seiner Fragwürdigkeit, aber auch seiner literarischen Vitalität aus. Seine Protagonisten sind in der Regel notorische Verlierer. Aus der Identifikation mit ihnen ging der Autor Walser bislang meist als Gewinner hervor. Mit "Ein liebender Mann" hat er das verdient.

Der Artikel entspricht zum größten Teil dem Beitrag, den der Verfasser für den FAZ-"Reading Room" (http://readingroom.faz.net/walser/) zu Walsers Roman geschrieben hat. Wer sich genauer über Ulrike von Levetzow und ihre Beziehung zu Goethe informieren möchte, dem sei das 2005 in der Insel-Bücherei erschienene Bändchen "Goethes späte Liebe. Die Geschichte der Ulrike von Levetzow" von Dagmar von Gersdorff empfohlen. Walser hat es vermutlich benutzt. Das vorletzte Kapitel berichtet unter der Überschrift "Krankheit des Herzens" von Goethes schwerer Erkrankung im November 1823 und zitiert aus einem Brief von Schillers Frau an Caroline von Humboldt: "Sein Übel scheint nicht bloß physischer Art zu sein. Es scheint vielmehr, daß die leidenschaftliche Neigung, die er diesen Sommer in Marienbad zu einer jungen Dame gefaßt hat und die er jetzt zu bekämpfen sucht, als Hauptursache seiner jetzigen Krankheit zu betrachten ist."


Titelbild

Dagmar von Gersdorff: Goethes späte Liebe. Die Geschichte der Ulrike von Levetzow.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
116 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3458192654
ISBN-13: 9783458192657

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Martin Walser: Ein liebender Mann. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498073633

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