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Zu "Karl Jaspers - Philosophie und Psychopathologie"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1883 in Oldenburg geborene Karl Jaspers stellt einen Glücksfall in der Philosophie des 20. Jahrhunderts dar. Als studierter Mediziner war er ein philosophischer Quereinsteiger und konnte somit der verknöcherten Kathederphilosophie eine lebendige, am Leben orientierte Philosophie entgegen setzen. Die Aktualität seines Denkens widerzuspiegeln sowie der Struktur seiner Persönlichkeit als strenger Wissenschaftler und Philosoph gerecht zu werden, ist der Anspruch dieses im Universitätsverlag Winter erschienenen Buches. Es enthält die Texte der Vorträge - eingeteilt in die vier Abschnitte "Grundlagen", "Geschichte", "Methode" und "Psychopathologie und Therapie" - die auf dem Russisch-deutschen Symposium, veranstaltet von der Russisch-Staatlich-Sozialwissenschaftlichen Universität Moskau, der Hochschule Heidelberg des SRH-Konzerns sowie der Baseler Karl-Jaspers-Stiftung, in Moskau vom 1. bis 3. Juni 2005 gehalten wurden.

Die unter der Überschrift "Grundlagen" subsumierten Beiträge beleuchten bereits wesentliche Aspekte seines Denkens, wovon sich hier exemplarisch drei herausgreifen lassen:

1. Sein Bekenntnis zur Einheit von Wissenschaft und Philosophie: "[...] er hat darüber hinausgehend auch eine wissenschaftsfeindliche und wissenschaftskritische Einstellung grundsätzlich abgelehnt. Für ihn bilden Philosophie und Wissenschaft zusammen die unverzichtbaren Elemente aller menschlichen Bemühung um Wahrheitserkenntnis."

2. Sein komplexer Vernunftbegriff: "Die kritische und vernünftige Diskussion von gesellschaftspolitischen Problemlösungsvorschlägen in der Öffentlichkeit durch möglichst viele vernünftige Individuen und nicht die autoritäre Entscheidung aufgrund eines unkontrollierbaren Geheimwissens einzelner oder weniger Menschen, ist ein Kernbestandteil von Jaspers´ Vernunft- und Politikverständnisses."

3. Sein Einfluss auf die heutige Sozialphilosophie, beziehungsweise die Berührungspunkte seines Denkens mit ihr. Dieser Beitrag ist - zumindest was den ersten Teil des Buches betrifft - der interessanteste, denn "Karl Jaspers und die Sozialphilosophie der Gegenwart haben in der Tat sehr viel mehr miteinander gemeinsam, als es den Anschein machen mag und als es der Sozialphilosophie der Gegenwart bewusst sein dürfte". Der Autor Anton Hügli zeigt hier Berührungspunkte im Denken von Jaspers und dem kanadischen Moralphilosophen Charles Taylor, dessen Kernthese "human beings are self-interpreting animals" lautet. Der Mensch ist demnach das, als was er sich selbst sieht, und das ist "[...] unverkennbar das Motiv, das zum jasperschen Begriff der Existenz hinführen würde, zur Selbstwahl und zum ,inneren Handeln'".

Natürlich hat bei diesen Philosophen unverkennbar Sören Kierkegaard Pate gestanden, allerdings unter Aussparung der religiösen Komponente: "darin, sich zu sich selbst zu verhalten, und darin, man selbst sein zu wollen, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es gesetzt hat." Jaspers geht es wie Taylor darum, die vergessenen moralischen Quellen wieder freizulegen, die mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert verschüttet wurden.

Im weiten Kapitel "Geschichte" zeigt sich vielleicht mehr noch als im sozialphilosophischen Kontext Jaspers' Bedeutung für unsere Zeit, die durch zunehmende Globalisierung einerseits und - dazu in völligem Kontrast stehenden - Kommunikationsabbruch andererseits gekennzeichnet ist. Während es heute um den "Clash of Civilizations" (Samuel Huntington) geht, zeigt Jaspers die Gemeinsamkeiten auf und beschwört gleichzeitig die Chancen, die gerade in den Unterschieden liegen: "Das Abendland ist eine in sich zusammenhängende Welt von Babylon und Ägypten bis heute."

Und weiter: "Das Abendland hat die Polarität von Orient und Okzident nicht nur in Unterscheidung seiner selbst von dem Anderen, das außerhalb steht, sondern trägt die Polarität in sich selbst." (Karl Jaspers, "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte") Gerade diese - dem Abendland inhärente - Polarität war immer auch ein Motor des Schöpferischen und könnte es auch heute wieder sein.

Der lesbarste Beitrag aus dem dritten Kapitel "Methode" ist zweifellos "Wahrheit und Kritik" des Autors Bernd Weidmann, der die "Idee der Universität" thematisiert. Jaspers, der sein Leben in den Dienst der Universität gestellt und diese als "ausgezeichnete[n] Ort wissenschaftlicher Wahrheitssuche" verstanden hat, war Zeit seines Lebens ein Kritiker der Politisierung der Universität. Nach den düsteren Erfahrungen des Nationalsozialismus musste er seine rigide Haltung überdenken, kam auch zu neuen Ansätzen in der Beurteilung dieser Frage, blieb sich aber bis zu seinem Tode in der grundsätzlichen Haltung treu, die Universität als quasi politikfreien Raum zu sehen. Die Studentenbewegung von 1968 ließ all diese Überlegungen vorerst obsolet werden.

"Es war eine der größten Enttäuschungen 1914, dass die Universitäten, der angelsächsischen Bereiche sowohl wie der deutschen, ihr parteiisches Wort sprachen. Es war mir wie Verrat der ewigen Idee der Universität. Mir war die Universität das gewesen, was die Wahrheit bewahren konnte gegen die staatliche Realität. Aber was schon vor 1914 sichtbar, wurde nun vollendet: Man gehorchte überall in der Welt dieser staatlichen Realität und konformierte sich ihr, man rechtfertigte sie. ,Wes Brot ich ess', des Lied ich sing' war schreckliche Realität geworden. Die Verantwortung ihrer eigenen überstaatlichen und übernationalen abendländischen Instanz war verloren." (Karl Jaspers, "Philosophische Autobiographie")

Heute ist es neben der Politik wohl vor allem der Einfluss der Wirtschaft, durch die die Idee der Universität in Frage gestellt wird. Darüber hinaus beleuchtet der Artikel Jaspers' Einstellung zur universitären Lehre und seine stark von Alexander von Humboldt beeinflusste Argumentation. Durch heutige Bachelor-Studiengänge, die bestenfalls nur noch ein kurzes intellektuelles Strohfeuer erzeugen und Bildung auf den Wert ausschließlich praxisbezogenen, das heißt monetär umsetzbaren Wissens herab gestuft haben, kann auch hier ein Blick auf Jaspers durchaus fruchtbringend sein.

Das letzte, sehr spezifische Kapitel dieses Buches stellt die beiden "Jugendwerke" des Philosophen, die "Allgemeine Psychopathologie" aus dem Jahr 1913 und die "Psychologie der Weltanschauungen" von 1919 und ihre Auswirkungen auf die heutige psychopathologische Praxis in den Mittelpunkt. Jaspers stellt - und darin gründet ein Teil seiner Bedeutung - den zeitgenössischen "Somatikern" und damit dem hirnphysiologischen Reduktionismus eine ganzheitlichere Betrachtungsweise des Menschen gegenüber.

"Karl Jaspers gilt als unumstrittener Begründer der Psychopathologie als Wissenschaft mit eigenem Gegenstand und eigener Methodik. Diese Begründung basierte wesentlich auf der Zurückweisung des naturwissenschaftlichen Reduktionismus, der seelische Phänomene und Krankheitserscheinungen auf ihre eigentliche Grundlage im organischen Substrat, also im Gehirn zurückzuführen suchte." Jaspers unterscheidet, die diltheyschen Begriffe übernehmend, zwischen verstehender und erklärender Psychopathologie und erkennt, dass zum Verständnis des Psychischen auch ein geisteswissenschaftlicher Ansatz nötig ist. "Die Medizin ist nur eine der Wurzeln der Psychopathologie [...] wo immer der Gegenstand der Mensch und nicht der Mensch als eine Art der Tiere ist, da zeigt sich, dass die Psychopathologie ihrem Wesen nach nicht nur eine Gestalt der Biologie, sondern auch Geisteswissenschaft ist." (Karl Jaspers, "Allgemeine Psychopathologie")

Gerade dieser von Jaspers geforderte Primat des Verstehens ist heute wohl nötiger denn je, da sich in der psychiatrischen und neurowissenschaftlichen Forschung ein Rollback abzuzeichnen scheint. "Dem Psychischen komme nur ein symptomatischer Wert für die Wissenschaft zu; alle psychologische oder phänomenologische Erkenntnis sei nur eine vorläufige Beschreibungsweise für das eigentlich Wirksame, nämlich für die materiellen Prozesse auf neuronaler Ebene."

Wer sich bereits intensiver mit Jaspers' Philosophie beschäftigt hat, dem wird dieses Buch nicht viel Neues sagen. Für alle anderen beleuchten die darin versammelten Aufsätze wichtige Ansätze und Ausprägungen seines Denkens. Bis auf die oben genannten Ausnahmen zeigt sich leider insgesamt zu wenig, wie die Philosophie dieses bedeutenden Existenzphilosophen für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann. Viele Beiträge begnügen sich mit einer bloßen Rekapitulation der jasperschen Gedanken und vermögen es nicht, über den Status Quo seiner Erkenntnisse hinauszugehen.

Nicht zuletzt hätte ein besseres Lektorat diesem Buch sehr gut getan, denn mindestens zwei Artikel (Wassilij I. Shukow, "Das Zeitalter der Globalisierung aus der Sicht von Karl Jaspers und die Gegenwart" sowie I.A. Gobosow, "Die Achsenzeit von Jaspers") bewegen sich durch gravierende, zum Teil sinnentstellende syntaktische Fehler im speziellen, sowie mangelhaftes Deutsch im allgemeinen stellenweise an der Grenze zur Lesbarkeit. (Ein - nicht aus dem Zusammenhang gerissener - Satz wie "Die Finanz- und Informationseliten in aller Welt auch die sie bedienenden nationalen und transnationalen Bürokratien die in ihrer Effektivität nie da gewesenen Werkzeuge für die Manipulation des Verhaltens von Massenmenschen" ist nur ein Beispiel von vielen.) Da es sich in beiden Fällen um die Beiträge russischer Autoren handelt, mag das wohl an einer mangelhaften Übersetzung ins Deutsche liegen, die hier unbesehen übernommen wurde.

Alles in allem lohnt sich die Anschaffung trotzdem, da die Lektüre der einzelnen Beiträge einen immer wieder dazu zwingt, aber auch Lust darauf macht, die Primärtexte heranzuziehen, um in der Auseinandersetzung mit dem Original die jaspersche Philosophie im Licht der Gegenwart wieder lebendig werden zu lassen. Gerade auch da, wo Jaspers irrte, zu naiv war oder schlicht durch neuere Erkenntnisse widerlegt worden ist, lohnt es sich mit dem, wie es an einer Stelle im Buch heißt, anti-isolationistischen, anti-statischen, anti-dogmatischen, anti-totalistischen, anti-monistischen, anti-fundamentalistischen und anti-monopolistischen Denken dieses großen Existenzphilosophen auseinander zu setzen. Positiv formuliert ist Jaspers' Denken kommunikativ, flexibel, offen und demokratisch - und besitzt somit Eigenschaften, die man in der heutigen politischen aber auch naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung so schmerzlich vermisst. Dieses Buch kann vielleicht dazu beitragen, dieses Denken wieder ein wenig populärer zu machen.


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Knut Eming / Thomas Fuchs: Karl Jaspers. Philosophie und Psychopathologie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007.
286 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783825353520

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