Religion und Modernisierung

Christina von Braun, Wilhelm Gräb und Johannes Zachhuber haben Heterogenes zur Säkularisierungsthese zusammengetragen

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inzwischen kann wohl als Allgemeinplatz gelten, dass nicht nur die Literatur über Säkularisierung schlechthin unübersehbar geworden ist, sondern auch keinerlei Einigkeit darüber besteht, welches Erklärungspotential dem Säkularisierungsparadigma überhaupt zugetraut werden darf. Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit erscheinen einführende Studien oder solche, die wie Giacomo Marramaos "Die Säkularisierung der westlichen Welt" (italienische Erstausgabe 1993, deutsch 1996) einen ideengeschichtlichen Überblick versuchen, zur Orientierung hilfreich. Marramao zeigt, wie sich Säkularisierung von einem Fachbegriff mit eng umrissener Bedeutung zu einem der Schlüsselbegriffe unserer Zeit gewandelt hat; einem Begriff, der in seiner Semantik zunächst auf den politisch-juristischen Bereich, dann auf den der Geschichtsphilosophie und den der Theologie sowie schließlich auf den der Ethik und der Soziologie ausgriff.

Gegenwärtig besitzen das Säkularisierungstheorem und dessen Zurückweisung eine fast allgegenwärtige Verbreitung in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen. Marramao begründet die Unmöglichkeit, den Begriff auf einen einheitlichen Bedeutungsgehalt zu beziehen, mit einer "strukturalen Bedeutungsambivalenz", aus der sich auch antithetische Auffassungen ableiteten. So habe Säkularisierung einerseits, verstanden im Sinne einer Entchristlichung (gemeint ist damit eine Zerstörung oder die moderne Profanierung der Christianitas), wie andererseits auch im Sinne einer Desakralisierung (die im Kern von Anfang an in der christlichen Heilsbotschaft enthalten sei) jeweils der christlichen und zugleich auch der antichristlichen Zivilisationskritik Argumente geliefert. Es lässt sich hinzufügen, dass der Begriff diesen grundlegenden Bedeutungsambivalenzen zweifellos seine Attraktivität verdankt. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert habe sich dann, wie Marramao ausführt, die Säkularisierung zu einer allgemeinen Kategorie verwandelt, die unauflösbar mit der neuen Vorstellung einer geschichtlichen Zeit zusammenhinge. Im 19. Jahrhundert wäre der Begriff stets durch "Verweltlichung" ausgedrückt worden, ein Begriff, der auf die in der Reformationszeit dem lateinischen Wort "saeculum" zukommende Bedeutung "Welt" zurückgehe. Marramao schließt daraus im Hinblick auf die analytischen Implikationen des Begriffs, dass zum einen der Dualismus sinnlich/übersinnlich in einem absoluten Begriff von Geschichte aufgehoben werde (wie bei Marx und Hegel), zum anderen aber gleichzeitig auch den Ausgangspunkt für eine Radikalisierung des religiösen Motivs bilde. Beispiel hierfür ist ihm das Werk des Theologen Franz Overbeck (1837-1905), der das säkularisierte Christentum angriff, dessen gesamte Geschichte er im Sinne von "Verweltlichung" als Verfallsgeschichte auffasste. Es würde zu weit führen, das ganze Argument nachzuzeichnen, mit dem Marramao den Aufstieg der Kategorie Säkularisierung zu einem der wichtigsten Schlüsselbegriffe der westlichen Moderne gerade vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Problematisierung und Relativierung universalistischer Grundbegriffe der Neuzeit entwickelt. Festzuhalten bleibt jedoch die inhärente Dialektik des Begriffs, die sich sowohl auf antichristliche Positionen als auch auf eine innerchristliche Debatte bezieht.

Auch die im letzten Jahr erschienene, auf eine Vorlesungsreihe an der Berliner Humboldt-Universität im Wintersemester 2002/03 zurückgehende Anthologie "Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These" versucht eine Evaluierung des Säkularisierungsparadigmas. Anders als für Marramao stehen jedoch weniger die begriffsgeschichtlichen Ambivalenzen im Zentrum als eine Zeitdiagnose. Die Herausgeber/innen gehen von einem in den 1990er-Jahren stark gestiegenen Interesse an Religion in Wissenschaft und Öffentlichkeit aus. Zugleich unterstellen sie eine Veränderung, die unter der Formel "Rückkehr zur Religion" nur sehr ungenau beschrieben sei und die mit einer Ungleichzeitigkeit einhergehe. Während in Deutschland und Westeuropa die traditionellen Religionsgemeinschaften nicht von dieser Konjunktur profitierten, zeige ein Blick auf weite Teile Afrikas, Asiens und Südamerikas oder auch den USA, dass es sich hier sehr wohl um eine Stärkung traditioneller Formen von Religion handle. An dieser Beschreibung ansetzend benennt das Vorwort zwei Aspekte des Erkenntnisinteresses: Erstens wird die Säkularisierungsthese hier in einem eingeschränkten Verständnis als wohl einflussreichste Theorie zur Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Modernisierung eingeführt. Im Grundsatz besage die These, dass bei fortschreitender Modernisierung von Gesellschaften die Bedeutung von Religion zurückgehe. Ein solches Verständnis von Säkularisierung sei heute jedoch nicht mehr voraussetzungsloses Paradigma, sondern müsse selbst zum Forschungsgegenstand werden, weshalb sich der Band vornimmt, nach dessen "Bilanz und Perspektiven" zu fragen. Zweitens ging ein wichtiger Impuls für die Veranstaltungsreihe von den Anschlägen des 11. September 2001 aus. Durch diese Ereignisse sei der Blick auf eine bestimmte, radikale Form gewaltbereiter Religiosität gelenkt worden. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf einer Entscheidung von Für und Wider der Säkularisierungsthese, sondern auf dem Interesse, "die gesellschaftlichen Entwicklungen, die man zu Recht oder Unrecht als Säkularisierung bezeichnet hat, und deren Ergebnisse besser zu verstehen."

Während die drei ersten Beiträge von Johannes Zachhuber, Hermann Lübbe und Richard Schröder zum Teil begriffsgeschichtlich und aus historischer (Lübbe) oder theologischer (Zachhuber, Schröder) Perspektive Grenzen und Geltung des Säkularisierungstheorems erneut ausdeuten und darin dem Titel des Bandes gerecht werden, beziehen sich die verbleibenden sieben Beiträge in zum Teil recht unterschiedlicher Intensität und Plausibilität auf die Kategorie Säkularisierung. Zachhuber verbindet in seinem Beitrag am anschaulichsten die doppelte Fragestellung des Bandes, indem er zunächst die Säkularisierungsthese in ihrer "klassischen" Gestalt vorstellt: Mit moderner Wissenschaft und einem auf Vernunftprinzipien gestellten Staat habe der christliche Westen im Zusammenspiel mit einer alle Lebensbereiche umwälzenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung eine Welt hervorgebracht, die sich weitgehend von ihren christlich-religiösen Ursprüngen gelöst habe. Es sei nun die Beobachtung, dass in vielen Teilen der Welt Entwicklungen stattgefunden hätten und stattfinden, die parallel zur europäischen Modernisierung verliefen, indem sie unter den Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft zur Ausdifferenzierung von Staat, Recht und Religion führten, ohne jedoch zwangsläufig dieselben Entwicklungen in religiöser Hinsicht zu zeitigen wie in Europa. Daher fordere das Säkularisierungsparadigma heute dazu auf, im globalen Kontext komparativ untersucht zu werden. Diesen Zusammenhang von aktuellen Entwicklungen in unterschiedlichen Ländern weltweit und einer Überprüfung des Säkularisierungsparadigmas begreift Zachhuber als das gemeinsame Anliegen aller Beiträge des Bandes. Tatsächlich setzen aber etwa die Hälfte der Beiträger/innen Säkularisierung als einen Prozess voraus, ohne die vielfältigen Implikationen des Paradigmas jeweils erneut zu reflektieren. Wenn etwa Heinz Ohme in seinem Beitrag über die aktuelle Situation der orthodoxen Kirche in Russland schreibt und dabei "von einer 70jährigen Erfahrung völliger Säkularisierung im Sinne eines totalen Säkularismus" ausgeht, bleibt seine Verwendung der Säkularisierungsthese tautologisch.

Christina von Braun, Mitherausgeberin des Bandes, verfolgt in ihrem Aufsatz mit dem Titel "Der christliche Kollektivkörper und seine 'Sleeper'" die bemerkenswerte These, der christliche Antijudaismus habe im modernen Antisemitismus ebenso säkulare und biologistische Formen angenommen, wie auch in modernen naturwissenschaftlichen Entwürfen biologisierte Selbstbilder eines "christlichen Körpers" aufschienen. Auch in ihrem Beitrag wird erklärungslos vorausgesetzt, dass ein Säkularisierungsprozess stattgefunden habe, wobei in den großen thetischen Bewegungen des Textes obendrein zentrale Kategorien wie die Differenz von Wissenschaft und Fiktion hinter einer postulierten "Ununterscheidbarkeit von science & fiction" verschwinden.

Schließlich sei noch Cornelia Wilhelms schon an anderer Stelle auf Englisch veröffentlichter einschlägiger Aufsatz zur Geschichte des B'nai B'rith erwähnt, bei dem ebenfalls die Beziehung zur Diskussion um den Säkularisierungsbegriff nicht im Zentrum steht. Sie setzt Säkularisierung im Sinne einer "absoluten Verweltlichung" als bereits feststehendes Interpretament voraus. Wenn also keineswegs alle Beiträge im Sinne Zachhubers und der Konzeption des Bandes eine Überprüfung des Säkularisierungsparadigmas im Lichte der jeweiligen Forschungsgegenstände tatsächlich leisten, so bleiben dennoch die Einzeldarstellungen mehrheitlich lesenswert, nicht zuletzt Wilhelms Untersuchung zur Entstehung und Entwicklung der Loge B'nai B'rith. Gemessen am eigenen Anspruch der Herausgeber/innen und den durch den Titel geweckten Erwartungen erscheint der gesamte Band allerdings entsprechend heterogen.


Titelbild

Christina von Braun / Wilhelm Gräb / Johannes Zachhuber (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These.
LIT Verlag, Münster 2007.
204 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783825801502

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