"Ist Auschwitz fotogen?"

Georges Didi-Huberman verteidigt die Auseinandersetzung mit Bildern aus Vernichtungslagern

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bildwissenschaften sind ein weites und nach wie vor kaum einzugrenzendes Forschungsfeld. Manchmal kommen sie einem vor wie eine Wissenschaft von, nun ja, fast allem, und da kann man der Grenze zwischen Neuerung und Plattitüde gelegentlich gefährlich nahe kommen.

Hin und wieder trifft man aber auf Analysen, die exemplarisch vorführen, was eine bildwissenschaftliche Argumentation ohne disziplinäre Scheuklappen zu leisten im Stande ist: eine genaue Analyse ihres Materials, die Verteidigung des Bildes als Dokument einerseits und mediales Artefakt andererseits, sowie der Eingriff in zeitgenössische Debatten. "Bilder trotz allem", das letzte Buch des französischen Kunsthistorikers und Philosophen Georges Didi-Huberman, ist so eines.

Didi-Huberman beschäftigt sich mit einer Sequenz von vier Fotografien, die im August 1944 in Auschwitz-Birkenau von Häftlingen aufgenommen wurden. Die Häftlinge gehörten dem "Sonderkommando" an, das von der SS eingesetzt wurde, um die Verbrennung der in den Gaskammern ermordeten Juden durchzuführen.

Zwei der Fotos sind durch die offen stehende Tür einer Gaskammer aufgenommen und zeigen Häftlinge des Sonderkommandos beim Verbrennen von Leichen. Ein weiteres Foto zeigt eine Gruppe entkleideter Frauen, die kurz danach in die Gaskammern geführt wurden. Das vierte Foto zeigt einen verschwommenen Blick in einige Baumwipfel.

Für Didi-Huberman stellen diese Bilder in mehrfacher Hinsicht einen Extremfall dar, den er als Historiker, Philosoph und Bildwissenschaftler ausleuchtet. In dieser Hinsicht verdichtet der Titel "Bilder trotz allem" schlagwortartig das argumentative Ziel des Autors: Er präsentiert die Fotos als Bilder trotz allem, aufgenommen als Akt des Widerstands gegen eine unvorstellbare Vernichtungsaktion, und andererseits als Bilder trotz allem, also der Analyse zugängliche Zeugnisse eines geschichtlichen Moments aus einem bestimmten Blickwinkel. Der Autor wird nicht müde, dies immer wieder in den Text einzuflechten, was gelegentlich redundant wirkt.

Der erste Teil des Buches gibt einen Essay wieder, den Didi-Huberman 2000 für den Katalog der Ausstellung "Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d'extermination nazis (1933-1999)" verfasste. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den heftigen Reaktionen, die dieser Essay ausgelöst hat. Namentlich geht Didi-Huberman auf die Vorwürfe von Gérard Wajcman, Elisabeth Pagnoux und dem Regisseur des neunstündigen Dokumentarfilms "Shoah" Claude Lanzmann ein, die sich vor allem um das Postulat der Undarstellbarkeit der Shoah drehen.

Die Auseinandersetzung setzt an dem Charakter der Fotos als Bilder an. Die Aufnahmen sind dermaßen fest in ihren ungeheuerlichen historischen Kontext eingebunden, dass es sich bereits als Problem erwies, sie überhaupt einer Betrachtung zugänglich zu machen und damit - scheinbar - die Gefahr heraufzubeschwören, sie auf ihren Bildcharakter zu reduzieren. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass sie außer dem Baumwipfel-Foto seit 1945 bekannt waren und - häufig manipuliert - wiederholt publiziert und ausgestellt wurden.

Auf den Bildcharakter zielt ein weiteres Argument. Die Frage ist, ob es aussagefähige Bilder von der Shoah überhaupt geben kann. Die Fotos wurden in einer gemeinsamen Aktion von Häftlingen aufgenommen, um ein Paradox zu unternehmen, nämlich das Unvorstellbare zu bezeugen, Bilder für etwas zu finden und von etwas zu erstellen, das die Vorstellungskraft nicht nur der Beteiligten, sondern auch der adressierten Öffentlichkeit überstieg.

Die Fotos bezeugen aber nicht nur die Existenz von etwas noch nie Dagewesenem. Sie zeigen etwas, von dem es nach dem Willen der Nationalsozialisten keine Zeugnisse geben durfte. Die Ausrottung der Juden sollte in jeglicher Hinsicht erfolgen, es sollte kein Beweis ihrer Existenz übrigbleiben. Es war, wie Hannah Arendt später sagte, das erste Mal, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen von einer anderen vollständig ausgelöscht werden sollte: Sie sollten nicht nur aufhören zu existieren, sie sollten nie existiert haben.

Die Häftlinge handelten unter extremer Lebensgefahr, worauf die Fotos als zentralen Aspekt ihrer Entstehungsbedingungen verweisen: Der Schatten des Türrahmens der Gaskammer, in der sich der Fotograf - bekannt ist nur, dass es ein griechischer Häftling namens Alex war - für die beiden Bilder von der Leichenverbrennung verborgen hatte, um nicht entdeckt zu werden; die verwackelte und schiefe Perspektive der beiden anderen Bilder, die im Vorübergehen aufgenommen werden mussten, ohne dass der Fotograf sicher sein konnte, ob überhaupt etwas Relevantes auf ihnen zu sehen sein würde.

An der historischen Bedingtheit und dem ästhetischen Charakter der Fotos, also ihrer Ausschnitthaftigkeit, Unschärfe und ihrer darauf basierenden Aussagekraft setzen auch die Gegner von Didi-Hubermans Betrachtungsweise an. Gérard Wajcman wirft ihm eine fetischistische Bilderverehrung vor, eine "Perversion", die nichts anderes sei als "Voyeurismus". "Ist Auschwitz fotogen?" fragt er rhetorisch. Für Wajcman können Bilder nur lügen, sie vernichten und verfälschen das Gedächtnis der Shoah, weil sie nur Bruchstücke und nicht das "ganze Bild" der Shoah zeigen können.

Für Didi-Huberman zwingt aber gerade die Unmöglichkeit der Gesamtschau dazu, sich die - durchaus zahlreichen - fragmentarischen Zeugnisse umso genauer anzusehen. Sie sind für ihn "Augenblicke der Wahrheit". Die Fotografien "richten sich an das Unvorstellbare und zugleich widerlegen sie es". Wenn die Häftlinge einer unvorstellbaren Realität "ein Bild zu entreißen" suchten, dann auch, weil sie die verordnete Isolation überwinden wollten, obwohl sie sich der Unmöglichkeit des Unterfangens bewusst waren, die Wirklichkeit der Vernichtungslager verständlich zu machen - auch deshalb spricht Didi-Huberman von "Bildern trotz allem". Diese Unmöglichkeit dürfe nicht mit der Unzulässigkeit eines Bildes aus dem Inneren der Shoah verwechselt werden, denn dies hieße letztlich, die Politik des Schweigens fortzusetzen und die Auseinandersetzung mit Auschwitz in einer Art "heiligem Entsetzen" erstarren zu lassen. Eine Ästhetik des Unvorstellbaren belässt die Dinge im Unbegreiflichen.

Gegen Claude Lanzmanns Postulat der grundsätzlichen Undarstellbarkeit von Auschwitz und seiner Reduzierung von Bildern auf tote Artefakte führt Didi-Huberman die Vielfalt der Bezüge an, in denen ein Bild immer steht. Er spricht von einer "zweifachen Ordnung der Bilder", die Historiker noch immer irritiere, jedenfalls wenn es sich um Fotografien handelt. Dabei stehen der Unmittelbarkeit und Wahrheit der Aufnahme die Komplexität der Montage und die Intransparenz (die Subjektivität und Ungenauigkeit des Standpunkts des fotografierenden Subjekts, die Problematik der Entstehungsbedingungen, die Unangemessenheit des Bildes gegenüber dem einzufangenden Geschehen) gegenüber. Diese zweifache Ordnung erzwingt eine Annäherung an die Perspektive der Bilder, die in erster Linie durch eine möglichst genaue Rekonstruktion ihrer Entstehungsbedingungen und ein genaues Hinsehen gewährleistet werden kann. Nur durch eine derartige Kontextualisierung der Bilder lasse sich ihre anthropologische Dimension erschließen. Damit begegnet er auch Lanzmanns Argument, die Bilder verfügten über keinerlei Einbildungskraft.

Die "zweifache Ordnung der Bilder" scheint jedoch auf Fotografien zugeschnitten zu sein, ohne dass Didi-Huberman ihr Verhältnis zu anderen bildlichen Darstellungen präzisiert. Insofern erhebt sich die interessante Frage, wie es darüber hinaus um ihre Tragfähigkeit als bildwissenschaftliches Argument bestellt ist.

Didi-Huberman führt das Argument der Kontextualisierung mit dem Konzept der Montage weiter. Das Bild ist kein Einzelbild, zumal es sich hier um vier Fotografien handelt. Es tritt immer schon in einen Diskurs ein, der von vorhandenem historischem Wissen, anderen schriftlichen und bildlichen Zeugnissen jeglicher Art und den subjektiven Perspektiven der Diskursteilnehmer bestimmt wird. Das Bild überschreitet sich immer selbst, es ist eine Montage; schon deshalb ist die Isolierung des Bildes, wie sie Wajcman und Lanzmann vornehmen, eine Verkennung seiner Wirklichkeit. Folgerichtig landet Didi-Huberman über die Idee der Montage dann einerseits bei der Idee des Archivs und andererseits - über Lanzmann - beim Kino: in beiden Fällen entsteht aus der Kombination verschiedener Elemente eine neue Gesamtschau.

Die Kontextualisierung hätte man durchaus noch weiter treiben können. Didi-Huberman bleibt im direkten Umfeld der Fotos, er analysiert ihren Entstehungsprozess und die Funktionen des Sonderkommandos, geht aber weder auf die weiteren Aktivitäten des Widerstands in Auschwitz ein noch auf die Geschichte des Lagers. Auch für die Rezeptionsgeschichte der Fotos werden nur die Manipulationen der Bilder in den Präsentationen nach 1945 angeführt.

Ein weiteres, wahrnehmungstheoretisches Argument scheint zwar immer wieder durch, wird aber seltsamerweise nicht direkt ins Feld geführt: Ein Bild wird in einem Augenblick erfasst, es gibt - scheinbar! - seinen Gehalt sofort preis, während man sich einen Text sukzessive erschließen und deshalb angeblich mehr geistige Arbeit leisten muss. Dieser Umstand ist ja maßgeblich daran beteiligt, dass Bilder für suggestiver und irrationaler gehalten werden als Texte, denen immer noch gerne eine größere Rationalität und Authentizität unterstellt wird. Dieses Vorurteil lässt Wajcman besonders massiv erkennen.

Diese Einwände schmälern aber die Qualität des anregenden und gut geschriebenen Buches nur unwesentlich. Es ist Didi-Huberman gelungen, eine extrem sensible Materie angemessen und verständlich aufzubereiten.


Titelbild

Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem.
Übersetzt aus dem Französischen von Peter Geimer.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
260 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770540204

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