Lehrjahre des Bibliothekars

Paul Raabes Erinnerungen an "Frühe Bücherjahre"

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von der Arbeit eines Bibliothekars erfährt die literarische Öffentlichkeit zumeist nur wenig, von seinem Leben ganz zu schweigen. Anders liegt der Fall bei Paul Raabe, dem wohl bekanntesten deutschen Bibliothekar nach Gotthold Ephraim Lessing. In Marbach, Wolfenbüttel und Halle an der Saale hat er so Außerordentliches geleistet, so unermüdlich den Erhalt und Aufbau der dortigen Bibliotheken betrieben, Sponsorengelder aufgetrieben und Ausstellungen organisiert, dass ihn "Die Zeit" zum "ersten Bibliothekar Deutschlands" ernannte; und er hat über diese Stationen seines Berufsweges drei eindrucksvolle Rechenschaftsberichte vorgelegt.

Zunächst erschien mit "Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland" (1992) ein Band mit den Erinnerungen an die Jahre als Direktor der berühmten Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, darauf folgte mit "In Franckes Fußstapfen. Aufbaujahre in Halle an der Saale" (2002) der Bericht darüber, wie er an der Rettung und dem Wiederaufbau der Franckeschen Anstalten mitwirkte. Und schließlich legte er seine Erinnerungen an "Mein expressionistisches Jahrzehnt" (2004) am Deutschen Literaturarchiv in Marbach vor, in dem er den damals fast vergessenen literarischen Expressionismus zunächst für sich entdeckte und dann für dessen Rehabilitierung zu werben begann, ein Werben, das seinen Höhepunkt in der großen Expressionismusausstellung von 1960 fand.

Zu einem vollständigen Lebensbild fehlte also nur noch ein Rückblick auf Kindheit und Jugend. Diesen Rückblick hat sich der am 21. Februar 1927 in Oldenburg geborene Raabe im vergangenen Jahr zu seinem 80. Geburtstag gleichsam selbst geschenkt, und fast von selbst versteht sich, dass die im Arche-Verlag erschienenen Erinnerungen unter den Titel "Frühe Bücherjahre" gestellt sind.

Diesem Titel entsprechend erzählt Raabe, wie er seine Sammelleidenschaft entdeckte, die sich erst noch auf Steine und Glas richtete, bald aber Büchern zuwendete. Er erinnert sich, wie er im Zeichenunterricht auf der Mittelschule ein altes lateinisch-deutsches Wörterbuch abzeichnete und den erstaunten Lehrer danach fragte, ob er es nicht behalten dürfe, weil er noch keine Zeit gehabt habe, es zu studieren, und wie er in der Folge eine kleine Bibliothek aus Lexika und Sprachführern zusammenstellt und diese mit systematischem Ernst katalogisiert. Humorvoll schildert Raabe, wie nachlässig er seinen Dienst als Flakhelfer verrichtet habe und einmal sogar so tief in "Die Leiden des jungen Werthers" versunken gewesen sei, dass er erst von einem brüllenden Oberst aus der Versenkung gerissen wurde, "der mit seinem Kraftwagen über die holprigen Bohlen bis an das Geschütz herangefahren war, ohne daß ich es bemerkt hatte".

Das "Dritte Reich" spielt in diesen Erinnerungen allerdings nur eine Nebenrolle, taucht fast nur in solchen Lese-Epsioden auf: Denn Raabe geht es nicht um die Darstellung und Analyse der 'großen' Geschichte, sondern vorrangig um "die Geschichte eines jungen Menschen, für den die Bücher die Welt bedeuteten", wie er in einer Nachbemerkung betont - darum also, wie er wurde, was er ist. Diese Absicht leitet sowohl die Auswahl der biografischen Stationen als auch ihre Interpretation und erklärt die gelegentlich irritierende Gelassenheit und Distanz, mit der Raabe auf die historischen Ereignisse zurückblickt.

Geradezu selbstverständlich erscheint es dem Leser dann, dass Raabe sich gleich nach Kriegsende als Hilfsbibliothekar verdingte und bei dem Wiederaufbau einer Bibliothek inmitten des allgemeinen Chaos half. Hier und auch in den folgenden Schilderungen seiner Lehrjahre an der Landesbibliothek in Oldenburg, der Arbeit im Kubin-Archiv von Kurt Otte (wo seine Leidenschaft für den Expressionismus ihren Ursprung hatte) und seines Studiums im zerstörten Hamburg entsteht nun ein anschauliches Bild der Nachkriegswirklichkeit und namentlich des universitären Lebens der 1950er-Jahre. Neben dem Studium arbeitete der fast manisch fleißige Raabe nämlich nicht nur für den kurz nach Kriegsende nach Hamburg berufenen Adolf Beck, den er bei der Herausgabe der Briefe und Lebenszeugnisse von Friedrich Hölderlin "als mitdenkender Helfer" unterstützte, sondern auch für den Ordinarius Hans Pyritz, dem er bei der Erstellung einer kritischen Goethe-Bibliografie mehr als nur zur Hand ging. Dabei ist es bedrückend zu lesen, wie der eifrige Nachwuchswissenschaftler ausgenutzt und Pyritz mit der Zeit geradezu (größen)wahnsinnig wurde. Immerhin aber erwarb sich Raabe durch diese Arbeit ein Lob, das über seiner gesamten Laufbahn stehen kann, nämlich von "unermüdlicher Suchfreude und sicherer Findigkeit" zu sein.

Die Erinnerungen an Raabes 'frühe Bücherjahre' enden schließlich mit dem Umzug nach Marburg und schlagen so den Bogen zu dem Punkt, an dem seine drei Arbeitsberichte chronologisch einsetzten. Insgesamt liegt mit diesen vier Büchern nun ein umfassendes, gleichermaßen nüchtern faktenreich wie unterhaltsam anekdotisch vorgetragenes Porträt eines außergewöhnlich ereignis- und ertragreichen Lebens vor - und überdies geradezu eine kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik.


Titelbild

Paul Raabe: Frühe Bücherjahre. Erinnerungen.
Arche Verlag, Hamburg 2007.
234 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783716023693

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch