So kam der Mensch auf den Hund

Marion Poschmann auf den Spuren von Konrad Lorenz

Von Dorothea DieckmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Dieckmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wollte man heute in einer Umfrage die Bedeutung von "Hundstage" ermitteln, so würde man wohl das Aussterben dieses schönen Begriffs registrieren. Die apokalyptische Stimmung von wilder Faulheit und delirierender Betäubung, die mit der Hitzeperiode assoziiert ist, gehört einer verflossenen Moderne an. Bevor die Klimaveränderung die meteorologischen Standards aufweichte, bevor TUI & Co. die Regie übernahmen, war der Hochsommer die Zeit, in der der Mensch - statt ihn in die Hundepension zu geben - auf den Hund kam. Und so kommen wir auf Konrad Lorenz' soziologisch, aber auch literarisch unübertroffene Schilderung dieses Ausnahmezustands: "Mögen die Hundstage der Herkunft nach mit den Griechen und mit dem Sirius verknüpft sein, ich nehme sie wörtlich. Wenn man nämlich die geistige Arbeit 'bis daher hat',[...] dann komme ich auf den Hund [...] Wenn ich an einem heißen Sommertage über die Donau schwimme und dann [...] im Schlamm liege, in einer Urlandschaft, in der nicht das geringste Anzeichen auf die Existenz menschlicher Zivilisation deutet, gelingt es mir manchmal, ein Wunder zu vollbringen, das die orientalischen Weisen als höchstes Ziel anstreben: Ohne daß ich etwa einschliefe, löst sich mein Denken in der umgebenden Natur auf, die Zeit steht still, sie bedeutet nichts mehr, und wenn die Sonne sinkt [...], weiß ich nicht, ob Sekunden oder Jahre vergangen sind. Dieses animalische Nirwana ist [...] ein wahrer Balsam für die wundgeriebenen Stellen an der Seele des abgehetzten modernen Menschen. Am leichtesten gelingt mir diese Einkehr in das vormenschliche Paradies in Gesellschaft eines Wesens, das seiner noch von Rechts wegen teilhaftig ist - in der eines Hundes [...], der aussieht wie ein wildes Tier, das die wilde Landschaft nicht durch ein zivilisiertes Aussehen verdirbt."

"So kam der Mensch auf den Hund": Bis ins Detail erscheint diese Passage als Vorlage von Marion Poschmanns "Hundenovelle". "Ich saß auf den Eingangsstufen einer verrammelten Baracke", beginnt sie. Hier läuft der Erzählerin ein verwahrloster Hund zu, dessen Schönheit sie gleichwohl anzieht. Es ist Juli, es ist heiß. Das Tier folgt ihr nach Hause, es diktiert ihren Tagesablauf, und sie lässt sich eher von ihm spazierenführen denn umgekehrt. Kurz, der Hund wird ihr Herr, er zieht sie unwiderstehlich in jenes "animalische Nirwana", in dem Ich und Welt, Mensch und Landschaft verschmelzen. Nach und nach durchquert die Erzählung das Alphabet des "vormenschlichen Paradieses", von Natursehnsucht bis Zivilisationsekel, von Erlösungswunsch bis Todesangst - eine hochromantische Ambivalenz, deren düsterer Pol ausführlich beschworen wird, bevor ahnungsweise Erleuchtung aufscheint.

Selbst aus dem "Funkeln" Joesph von Eichendorffs und E.T.A. Hoffmanns wird im Titel des zweiten Kapitels ein "Leeres Funkeln". Für den Verfall findet Marion Poschmann unzählige Bilder, die der Rezensentenjargon gemeinhin mit dem Adjektiv "betörend" belohnt. "Brachland" heißt das erste Kapitel programmatisch: Minutiös fächert es den von der Trümmerliteratur bis zu Franz Josef Degenhardt durchdeklinierten Topos von der hitzeflimmernden Leere einer renaturalisierenden Peripherie auf (wie denn auch bei Lorenz Bahnunterführung und Brennesseldickicht nicht fehlen): Kläranlagen, Gewerbehöfe und Tankstellen, Müllkippen und Industriekanäle, Stadtwildnis mit Beifuß und Berberitzen. Erschöpfend wird die Artenvielfalt von Schrott und Pflanzen geschildert.

Auf der nächsten Stufe der "Einkehr" baden Frau und Hund im Schlammteich eines tristen Naturschutzgebietes. Wasserbilder werden aufgereiht, das klassische Verschmelzungsmotiv, bis hin zur Dissoziierung des Bewusstseins in der Nasszelle: "Ich aber glitzerte wie wahnsinnig, wie Wasser [...] Glitzernde Tropfen, alles ich. Ich-Sprenkel, das Wir der Kaiser und Könige, das mir auf einmal für mich passend erschien, warum nicht." Kurz darauf setzt die Erzählerin das Tier aus, um schließlich der Verführung ganz zu erliegen und selbst zu verwildern. Am Ende stehen die Sternbilder des Kleinen und des Großen Hundes mit dem Sirius im Maul, nicht ohne Anspielungen auf die überlieferte Sternenmythologie: "In Ägypten stieg der Nil über die Ufer. In Rom erreichte der Sommer seinen Höhepunkt" - und den Gebildeten mag der schwarze Hund als Wiederkehr des ägyptischen Totengottes Anubis einleuchten.

Es ist die präzise Komposition, die neben der geschliffenen, "glitzernd" polierten Sprache dieser Prosa besticht. Trotz allzu fleißiger Aufzählungswut herrscht ein kontrolliertes Gleichgewicht. Droht eine Überdosis sinnlicher Beschreibung, folgt lakonischer Witz, droht Kitsch, werden Reflexionen und Legenden eingeschoben - darunter jene von dem Mönch, der Gott in der Natur nahekam und nach tausend Jahren erwachte. Woher dann der Eindruck einer angestrengten Etüde, die mit viel Aufwand nur ein fein abgeschmecktes Stimmungsbild erzeugt?

Die "Hundenovelle" ist keine Novelle, sondern ein diszipliniertes, durchweg konventionelles Durchexerzieren eines tradierten Leitmotivs. Entsprechend hergeholt wirkt der karge erzählerische Anteil, eine Vorgeschichte, in der das Ich mit der todkranken Mutter im Ehebett schlief, bevor es sich freiwillig in die Hartz-IV-Einsamkeit zurückzog. Das sind gesuchte Rechtfertigungen für ein lyrisches Exerzitium. Marion Poschmanns Meditation über die wilde Natur des Menschen wirkt bei, ja wegen allem Kunstwillen gezähmt - ganz im Gegensatz zu der lebendigen Souveränität des alten Konrad Lorenz.

Anmerkung der Redaktion: Eine stark gekürzte Fassung dieser Rezension erschien bereits in der "Zeit" vom 9. 10. 2008.


Titelbild

Marion Poschmann: Hundenovelle.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2008.
126 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783627001490

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