Moderne Märchen

Charles Lewinsky schreibt mit "Zehnundeinenacht" einen Episodenroman über die Kunst, Geschichten zu erfinden

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schöner Palast war das mal. Aber das ist nun auch schon ein Weilchen her. Jetzt ist der alte Glanz ein wenig abgeblättert. Was heißt, ein wenig: Die große Scheibe des Haupteingangs ist mit Brettern vernagelt, es gibt nur noch die alte Lieferantenpforte hinten im Hof. "Nicht leicht zu finden, aber wer hierher gehörte, kannte den Weg, und Fremde waren nicht erwünscht." In der Küche zeichnen Linien aus grünem Schimmel die Umrisse längst abtransportierter Herde an die Wand, im Speisesaal hängt das Skelett eines Kronleuchters von der Decke: "Die geschliffenen Glasprismen hatte jemand sorgfältig abgelöst. Käufer finden sich für alles." Das alte Hotel "Palace" ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

Und auch die Prinzessin hat ihre jugendliche Frische längst eingebüßt, und "wenn sie sich im Spiegel betrachtete, war ihr das eigene Gesicht nicht mehr vertraut, und doch konnte sie sich mit jedem Tag weniger davon überzeugen, dass es einmal anders gewesen war. Vielleicht lag es am Spiegel. Er hing schon lang da und hatte blinde Flecken. Vielleicht lag es auch an ihr."

So viel Besuch bekam sie auch nicht mehr, und wenn, dann wollte er nicht mehr "Aufregungen und Abenteuer, sondern Beruhigung und Trost". Den bekamen sie: "Die Prinzessin hielt sie in den Armen und half ihnen dabei, sich zu belügen. Sie erfand ihnen Wirklichkeiten, in denen sie sich zu Hause fühlen konnten. Erzählte ihnen all die Geschichten, die sie gern hören wollten." Auch ihrem Stammkunden, der sich im abgetakelten Hotel wohlfühlte: "Er hatte selber einen schlechten Ruf und war stolz darauf. Auch seine besten Zeiten waren vorbei." Ihn nannte man den König, aus Respekt und Angst, und er trug die "Bezeichnung [...] wie die Narbe einer siegreich beendeten Schlägerei."

Und so erzählt sie. Zum Beispiel die Geschichte von dem Selbstmörder, der sich vor die U-Bahn werfen wollte: Den ersten Zug ließ er noch vorbeifahren, weil er meinte, er hätte im Führerhaus eine Frau gesehen. Was kommen sollte, wollte er einer Frau nicht antun. Beim zweiten sprang er. Aber da hielt ihn plötzlich eine Hand fest: "Das hätte ein böses Unglück geben können", sagte sein Lebensretter und verschwand im Zug. Als er noch mal Anlauf nehmen wollte, stolperte der Selbstmörder über einen Aktenkoffer und fand darin Geschäftspapiere, eine Zeitung, ein Foto von Frau und Kind und ein Sandwich. Eine Adresse stand auch dabei. Und so entschloss er sich, die Aktentasche zurückzubringen. Und fiel mit großer Selbstverständlichkeit in das Leben seines Lebensretters ein.

Oder die Geschichte von dem Jungen mit den zwei Köpfen. Einer davon wurde operativ entfernt und kam in einer konservierenden Flüssigkeit in ein Glas, das auf dem Nachttisch des Jungen stand. Komischerweise wuchs der Kopf mit der Zeit, bis er, im Alter von sieben Jahren, das Glas sprengte. Und sagte: "Ah, so ist es besser. So ist es viel besser." Natürlich verrieten die beiden ihr Geheimnis niemandem. Aber schließlich wollte der Kopf auch ins Leben, wollte selber sehen, wie Mädchen aussahen, wollte was erleben.

Viele Geschichten kennt oder erfindet sie: von dem Händler, der durch Reliquienverkauf reich werden wollte und alles auf eine Karte beziehungsweise ein Skelett setzte. Vom Dschinn in der Flasche, die ein schüchterner Mann in seinem Urlaub fand und der ihm drei Wünsche erfüllen musste, der erste war, dass er ihn überhaupt verstehen konnte, denn der Dschinn redete altpersisch. Oder vom russischen Juden, der in Amerika reich geworden war und am Ende seines Lebens noch einmal seine alte Heimat sehen wollte. Und sie dann auch sah, aber anders als er dachte.

Zehnundeine, nicht tausendundeine Nacht dauert dieses Erzählen. Es sind moderne Märchen: Wie der Schüchterne plötzlich selbstbewusst wird, wie der Selbstmörder sich eine neue Familie sucht. Wie der Zauberer, der wirklich zaubern kann, sich eine wirkliche, eine richtige Liebe herzaubert, als er es gar nicht mehr für möglich gehalten hat. Denn wahre Liebe kann man nicht befehlen und auch nicht herbeizaubern. Wie die Identitäten wechseln, wie alles sich ständig ändert. Es sind fantastische und fantasievolle Geschichten, eine spielt in der Zukunft, aber die meisten in einem jetzigen Nirgendwo und Überall.

In immer neuen Wendungen schlägt diese moderne Scheherazade immer wieder die Bögen neu. Es ist ihre Möglichkeit, den Unterwelt-König abzulenken, weil er "jemanden brauchte, der sich vieles gefallen ließ". Ein bisschen sensibel ist er auch und findet es ekelhaft, wenn sie blutet, nachdem er mit ihr geschlafen und ihre Haut mit einem Metallkreuz aufgeritzt hat. Immer wieder unterbricht er sie in der Erzählung, findet sie doof, will etwas zu essen, kommentiert aus seinem Verbrecherwissen heraus die Geschichten, findet, die Leute seien Schwächlinge, unglückliche Geliebte seien Idioten, und er hätte ihnen sowieso ganz anders Bescheid gegeben. Und natürlich stimmt die Prinzessin ihm immer zu und ändert ihre Stories beim Erzählen, verbessert und ergänzt sie, wenn sie merkt, dass sie ihm nicht gefallen.

Das Buch ist ein Episodenroman über die Kunst, Geschichten zu erfinden und sie an die Zuhörer anzupassen: "Warum hör ich mir eigentlich so gern deine Geschichten an?" fragt er einmal. "Weil sie nicht wahr sind [...]. Die Wahrheit kriegst du umsonst." Und die Wahrheit ist hässlich und gefühllos, vor allem für den König, der am Ende des Buches todkrank ist. Da will er sich halt ein paar Ersatzgefühle holen, sich gruseln, wenn der Tag besonders hässlich war und er das Blut nicht vom Autopolster kriegt, will ein bisschen Kitsch hören oder gerade keinen, je nachdem. Und so geht es uns allen, uns Lesern. Wir wollen ein bisschen Wirklichkeit, aber es muss nicht unbedingt unsere wirkliche Wirklichkeit sein. Und oft geht es zu wie in diesen Geschichten, in denen sich Realität und Fantasie vermischen, dass man nicht mehr weiß, was wirklich real ist und was wirklich erfunden. Und so wird das Buch zum Schluss auch noch eine Hymne auf die Fantasie, die neue Welten erschafft und damit die Welt sogar manchmal ganz neu erschafft. Denn wer weiß schon, was die Wirklichkeit wirklich ist.


Titelbild

Charles Lewinsky: Zehnundeine Nacht.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004195

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch