Holocaust global

Dan Diner reflektiert die Bedeutungsverschiebungen in der Erinnerung an den Zivilisationsbruch

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Zivilisationsbruch" und die "Singularität" des Holocaust, das sind die beiden Begriffe, die man mit dem Historiker Dan Diner assoziiert, und mit denen er sich erfolgreich auf dem akademischen Markt platziert hat. Weil sie immer wieder - und mitunter vielleicht auch mit Absicht - missverstanden werden, ist es hilfreich, dass Diner sie im ersten Kapitel seines Bands über "Gegenläufige Gedächtnisse" nochmals erläutert. Der Holocaust war nicht deswegen ein Zivilisationsbruch, weil er mit Gewalt, Brutalität und Vernichtung von Menschen gegen die Normen der Zivilisation verstieß: Dieser Bruch gehört zur Zivilisation, so sehr er auch ihrem Selbst- und Wunschbild widerspricht. Stattdessen zerbrach etwas, was Diner mit dem Begriff des Gefühls von "ontologischer Sicherheit" zu fassen sucht. Es zerbrachen alle Gewissheiten, die man bis zum Holocaust immerhin noch hatte, es zerbrach der Rahmen dessen, was man für möglich hielt. Dass jemand sich so verhielt, wie die Deutschen es im Nationalsozialismus taten, das hätte keiner gedacht; dass sie die Juden "ganz jenseits von Konflikt, Gegnerschaft oder politischer Feindschaft" verfolgten, vernichteten und dass sie gegen das Interesse an der eigenen Selbsterhaltung handelten, - darin wurden sie von den Juden ebenso wie von den Alliierten unterschätzt. Das kann auch heute kaum einer verstehen, wie man an den zahlreichen Versuchen von Historikern und Soziologen sehen kann, die den Holocaust ,historisieren' und verallgemeinern, also nach vertrauten Schemata interpretieren wollen.

Darin besteht also die Singularität des Holocaust, die man mit Yehuda Bauer besser als "Präzedenzlosigkeit" präzisieren sollte: der Holocaust ist singulär - aber nur bislang, und er kann wieder durchgeführt werden. Mit der Singularität taktiert zumindest manchmal eben auch der, der sie ansonsten zurückweist. Auf der einen Seite, so erkennt Diner hellsichtig, wird der Holocaust zwar nach vertrauten Schemata interpretiert, auf der anderen Seite aber wird der Holocaust zum blueprint für die Darstellung anderer Genozide.

Ist in Europa ein vorgeblich korrektes Erinnern an die Morde im Rahmen des so genannten "europäischen Bürgerkriegs" (Ernst Nolte) ein Moment der europäischen Einigung, wie Diner im zweiten Kapitel resümiert, so sieht dies an den Rändern Europas anders aus. In Algerien beteiligten sich unglaublicherweise ehemalige Mitglieder der Résistance an den Gräueln der französischen Kolonialmacht gegen die aufständische autochthone Bevölkerung. Indem diese nach und nach unterschiedslos gegen Ethnien vorging, konnten ihre Verbrechen leicht mit denen der Nazi-Deutschen gleichgesetzt werden. Diner zeigt hier erstaunlich viel Nachsicht gegenüber den Deutungsversuchen anti-imperialer Bewegungen, die nur selten vom Impetus moralischer Empörung angetrieben werden, sondern vielmehr verschiedenen politischen Strategien folgen. Indem man die Leiden des eigenen Volks mit denen der Juden während des Nationalsozialismus gleichsetzt, kann man nicht nur versuchen, die Aufmerksamkeit der Welt auf die eigenen Leiden zu ziehen. Man kann gleichzeitig auch die eigenen antisemitischen Absichten verfolgen, weil man so am angeblich weltpolitisch ,privilegierten' Status' Israels als Staat der Holocaustopfer rüttelt. Bekommt man trotzdem nicht die Aufmerksamkeit, die einem angeblich zusteht, so kann man sich anschließend noch als Opfer einer angeblichen angemaßten jüdischen/israelischen Hegemonie im Opfer-Diskurs darstellen. Die Sympathien anti-kolonialer Bewegungen für den Nationalsozialismus gingen auch nicht den Umweg, den Diner beschreibt, dass nämlich der Feind (NS-Deutschland) ihres Feindes (Frankreich) ihr Verbündeter hätte sein können. Die Rede von "Sympathien" setzt voraus, dass ein Abstand erst noch überwunden werden müsste, aber im Ressentiment gegen die Moderne wie im Antisemitismus waren sich im islamischen Raum vor allem anti-koloniale und nationalsozialistische Bewegungen schon immer sehr nahe.

Diner schreibt nichts Falsches, aber indem er sich nicht - wie sonst stets - gegen alle Seiten absichert, bekommen seine Reflexionen ab und an eine bedenkliche Schieflage.


Titelbild

Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007.
128 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783525350966

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