Ganz ohne Worte

Shaun Tan beherrscht die Kunst der graphic novel

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste Frage für die Bewertung einer graphic novel ist, ob der Autor in Bildern erzählen kann, ob er nur die Geschichte bebildert, die er erzählen möchte, oder ob er - schlimmer noch - nur den Erzähltext neben den Sprechblasen bebildert. Im Falle von Shaun Tan kann diese Frage leicht beantwortet werden. Denn Tan kann nicht in die Verlegenheit kommen, die Erzählung an den Text zu delegieren, weil es in "Ein neues Land" ganz einfach keinen Text gibt. Und Tan gelingt seine Erzählung hervorragend.

Ein Mann packt seinen Koffer, wird von Frau und Kind zum Bahnhof gebracht und unter Tränen verabschiedet. Als sie durch die Straßen gehen, sieht man, dass über der Stadt, die nicht mehr die ihre sein kann, eine Bedrohung liegt: ein stacheliger Drachenschwanz windet sich durch die Straßen. Tans ausgeprägter Realismus in der grafischen Darstellung schreckt vor solchen Allegorien nicht zurück und verbindet sich später mit dem Fantastischen. Große Bilder wechseln sich mit Folgen kleiner Panels ab. Die Gestaltung in Schwarz-Weiß bis Sepia, der fein gestrichelte und schraffierte Realismus der Zeichnungen und der geschickte Einsatz verhaltener Beleuchtung erwecken zeitweise den Eindruck, einen alten Schwarz-Weiß-Film aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu sehen.

Der Mann emigriert, fliehend vor einer namenlosen grauenhaften politischen Gewalt, die im Heimatland herrscht. Er ist, so sehen wir, einer unter vielen, wenn der Blick vom Bullauge seiner Schiffskabine zurückzoomt auf den riesigen Bauch eines Schiffes, der mit Bullaugen übersät ist wie der Nachthimmel mit Sternen, ein Bild, das wenig später mit dem Fenster der kleinen neuen Wohnung wiederholt wird. Immer wieder trifft der Mann auch andere Flüchtlinge aus aller Herren Länder, die ihm ihre Geschichte erzählen.

Das Leben in der neuen Welt mag nicht leicht und manchmal auch nicht schön sein, es ist eine Herausforderung, aber es ist nicht gefährlich. Die Einreiseprozedur bei der Ankunft mag entwürdigend sein, weil der Emigrant wie ein Objekt nach allerlei Kriterien erfasst und klassifiziert wird, die Wohnung ist klein und anonym, die Arbeit, die er verrichtet, ist langweilig und entqualifiziert - aber die neue Welt gibt jedem eine Chance. Die Entindividualisierung der neu Angekommenen und dass sie sich selbst überlassen sind, das ist die Kehrseite großer Flüchtlingsströme, die man in Kauf nehmen muss, wenn man viele Menschen aus unterschiedlichsten Ländern aufnimmt.

Seine Überfahrt und seine Ankunft im neuen Land per Schiff ist deutlich an die Einreise in die USA über New York angelehnt. Die Veranschaulichung der Fremdheit der neuen Heimat, die noch keine ist, gelingt Tan mit einem gelungenen didaktischen Kniff: die neue Welt ist fremd, denn sie sieht aus wie ein fantastisches Reich, die Topografie und die Architektur der neuen Stadt sind wie aus einer Mischung aus Futurismus und Magie gebildet, ihre Zeichen, Geräte, Moden und Gestalten sind unvertraut. Überall gibt es bizarre Tiergestalten und Lebensmittel, von denen man nicht weiß, ob sie so gefährlich sind, wie sie zunächst aussehen, oder ob man sie überhaupt essen kann. Tan gelingt es aber, den Leser nach und nach mit der neuen Welt vertraut zu machen, so wie auch der Emigrant sich langsam einlebt. Der Autor verdeutlicht dies mit seinem sehr intelligenten künstlerischen Konzept: die Origami-Figuren des Mannes werden schließlich nicht mehr nach der Vorlage der Tiere des Herkunftlandes, sondern nach der der neuen Heimat kreiert; er erschrickt nicht mehr, wenn sein bizarres Haustier, eine Mischung aus Maus, Katze und vorderer Körperhälfte eines Hais, morgens beim Erwachen in sein Gesicht hechelt; und er weiß, wie man die merkwürdig aussehenden Früchte konsumiert.

Es stört ein wenig, dass das edle vintage-Design stellenweise dick aufgetragen ist. Die Bilder auf der Vorder- und Rückseite des Bandes sind aufgeklebte "Fotos" aus einer Zeit, als diese noch auf Glasplatten gebannt wurden; andere Fotos und Erinnerungspanels haben viele feine weiße Knicklinien; der Einband imitiert einen sich auflösenden, abgeschabten, schweren Leder-Einband. So schaltet Tan in einen Modus der Behaglichkeit, der sich mit dem Thema schlecht verträgt. Außerdem sehen seine Menschen allesamt körperlich wie seelisch so sauber aus, wirken intelligent, rechtschaffen und edel - und gleichzeitig einfach und aufgeräumt, ernst und freundlich zugleich. Seine Bilder durchzieht eine saubere Armut und eine leinerne Einfachheit, als hätte er sein Handwerk bei den Zeugen Jehovas gelernt. Aber immerhin beherrscht er es und nutzt es nicht, um Bibelkitsch zu produzieren.


Titelbild

Shaun Tan: Ein neues Land.
Carlsen Verlag, Hamburg 2008.
128 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783551734310

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