Bericht vom Ende der Welt

Simone von Sassen porträtiert Spitzbergen als Ultima Thule

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ultima Thule, so nannte man einst Spitzbergen, die nördlichste Inselgruppe im Polarmeer. Und so hieß im vergangenen Jahr auch ein Projekt der norwegischen Regierung anlässlich des Internationalen Polarjahrs, zu dem sie eine Handvoll Schriftsteller in den hohen Norden einlud. Sie sollten dort sehen, welche klimatischen und politischen Entwicklungen sich in diesem beinahe vegetationslosen und oft vergessenen Gebiet abspielen und abgespielt haben. Der fortschreitende Klimawandel und die russischen Ansprüche auf den Meeresboden unter dem Nordpol gaben Anlass genug.

Ultima, das "allerletzte, allerfernste Land am Ende der Welt, kurz bevor die wirkliche Unendlichkeit beginnt", wie der Reiseteilnehmer Cees Nooteboom in seinem begleitenden Essay schreibt, tauchte als imaginärer Ort auch schon auf der carta marina von Olaus Magnus auf. Ultima, ein mystischer Ort, nie gesehen und doch auch eine Hoffnung im Geiste eines jeden Seefahrers. Ein letzter Halt vor Utopia, diesem Morus'schen Weltenende, dem Nirgendwo, in dem ein besseres, unbeschwerteres Leben beginnt? Oder Ultima als erster irdischer Anlaufpunkt, dem Nichts entronnen.

Die raue, vom ewigen Eis geprägte Gegend bietet die Kulisse für ein Leben am Limit. Im Verlag Schirmer/Mosel liegt nun ein Bildband von Simone von Sassen vor, der die Reiseeindrücke der schreibenden Delegation bildlich festgehalten hat. Es sind meist menschenleere Bilder trostloser Einsamkeit, die von der Sinnlosigkeit der Dinge berichten. Über den unendlichen Weiten des eiskalten Meeres, das teilweise wie ein Quecksilberspiegel auf den Bildern erscheint, liegt die graue Unendlichkeit des wolkenverhangenen Himmels, den kargen Steppen schließen sich die Eismassive der arktischen Gletscher und Berge an. Ein farbloser Schrecken der Ödniss, der zugleich einfängt und in seiner Schlichtheit fasziniert. Einladend ist anders, "aber was soll man sonst von diesen grauen Steinmassen sagen, deren verwitterte graue Ausläufer ins gleichfalls graue Wasser reichen?", so Nooteboom.

Allein bei der Fotodokumentation des Besuchs der sowjetischen Siedlung Pyramiden kommt Leben in Sassens Fotografien. Gott sei Dank, möchte man fast sagen, müsste man doch sonst in die doppelte Leere der arktischen Geisterstadt schauen. Pyramiden steht seit einer Dekade völlig leer, weil die etwa 1.500 russischen Bewohner sie von einem Tag auf den anderen verlassen hatten. Nun warten ihre Ruinen im Eis, frostig konserviert in ihrer Hässlichkeit und Ödnis. Ein Mahnmal des untergangenen Industriezeitalters. "Ein kommunistisches Pompeji ohne Leichen. [...] Als ob eines Tages die Pest ausgebrochen wäre, so liegt alles da. Gebäude leer, Kulturpalast leer, der große, freie Platz mit dem Leninstandbild leer, das Schwimmbad leer", so Nootebooms Assoziationen beim Blick ins architektonische Vakuum.

Brachliegende Industrieruinen, in den Himmel ragende Stahlgerüste und längst veralteter Maschinenschrott - die letzten stillen Zeugen einer größenwahnsinnigen Zivilisation. Sassens Bilder erzählen so auch eindrucksvoll vom Ende einer Ära, die wir in ihrer konkreten Gestalt schnell aus unserem Gedächtnis radiert haben. Drohenden Götzen gleich wurden dessen Überreste abgerissen und geschliffen, ohne an deren mahnende Qualitäten zu denken. Was in Deutschland und anderswo seit langem nicht mehr steht, kann man sich mit diesem Bildband ins Gedächtnis zurückrufen. Die verlassenen Statuen von Marx und Lenin wirken dann in ihrer Unversehrtheit nachgerade metaphorisch wie eine Mischung aus Resignation, Trotz und Drohgebärde.

"Ultima Thule" ist ein endrucksvoll komponierter Band, der den Weg aus der Einöde erst in den letzten Bildern Simone von Sassens findet. Nach dem endlosen arktischen Grau taucht hier erstmals Farbe auf, die nach diesem Ausflug ins Eis kräftiger kaum sein könnte: Die Farbe warmen, Leben einhauchenden Sonnenlichts.


Titelbild

Simone von Sassen: Ultima Thule. Eine Reise nach Spitzbergen.
Mit einem Essay von Cees Nooteboom.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2008.
128 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783829603843

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