Das bisschen Öl, das einst ein Stutenherz war

Peter Adolphsens Erzählung "Das Herz des Urpferds" mischt Wissenschaft mit Poesie

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Pferdchen ist an allem schuld. Es war ein heißer Tag gewesen, ein paar Pferde stiegen zum See hinunter, darunter eine fünfjährige Stute. "Das Tier war ein Säugetier aus der Ordnung der Familie der Equidae, am besten bekannt unter dem Namen Eohippus, Morgenrotpferd, der ihm 1876 von Othniel C. March gegeben wurde; da Richard Owen ein bestimmtes Fossil aber bereits 1841 hyracotherium getauft hatte, bringen die Regeln der Taxinomie es mit sich, dass diese Bezeichnung die korrekte ist." Ja, exakt will man schon sein.

Das Pferd jedenfalls, das an allem schuld ist, erschrak, als es plötzlich donnerte, lief mit den anderen am Seeufer entlang, fiel dann in einen reißenden Bach, "kämpfte, um sich über Wasser zu halten, aber der Strom riss sie mit und hinab. Dann knallte [es] mit dem Kopf gegen einen Stein und verlor das Bewusstsein." Eine Weile kämpfte es noch, dann starb das Pferd: "Sein letzter Gedanke galt dem Geschmack von Farnsprossen." Es sank auf den Grund des Sees hinab und verwandelte sich langsam, mit vielen anderem Zeug, in Öl, das in der Erde wartete, bis man es heraufhob: "Das bisschen Öl, das einst ein Stutenherz war, befand sich jetzt einen Kilometer unter der Erdoberfläche, 13 Kilometer südlich von der Stadt Jensen" im Bundesstaat Utah in den USA. Dann wurde das Öl gefördert und verarbeitet, dann kam es in einen Autotank und später als Rußteilchen in den Körper von Clarissa Sanders, die daraufhin an Krebs starb.

Auf gerade einmal 110 Seiten erzählt Peter Adolphsen eine abstruse Geschichte, die aber doch ganz logisch ist. Es ist die gesamte Weltgeschichte, Sandpartikel, Verfallsprozesse, die Völker der Sowjetunion, Phantomschmerzen und die Geschichte einer Flucht auf dem Fahrrad von Aserbeidschan nach Iran. Viel Wissenschaft also, viel Geschichte, Schicksale und Theorien, viel Fabuliererei und, am Schluss, mit der Vision eines Depressiven, der sich in einer indianischen Schwitzhütte der Vision seines Totemtiers hingibt, eines kleinen Pferdes.

Vor allem die Sprache des Buches macht aus der kurzen Geschichte ein aufregendes Leseabenteuer. Denn Adolphsen, vermutlich an Robert Musil und Georges Perec geschult, unterlässt nichts, was seinen Erzählgang unterbrechen könnte, mischt Wissenschaftssprache mit ironischen Einsprengseln, eine ernsthafte Geschichte mit viel Humor: "Die Schlafperiode bot dem Organismus des Tiers Gelegenheit, sich auf den Heilungsprozess zu konzentrieren, der bereits Sekunden nach Entstehen der Läsionen eingeleitet worden war. Erst bemühte sich der Körper seine Wunden dadurch von Unreinheiten und totem Gewebe zu säubern, dass er weiße Blutkörperchen aus der Blutbahn ins Gewebe hinausemigrieren ließ, wo die neutrophilen Granulozyten eine Anzahl von Funktionen ausübten, u.a. die Phagozytose und das Ausscheiden von Gewebe und Bakterien zersetzenden Enzymen. Das Produkt dieses Prozesses, das inflammatorische Exsudat, hatte inzwischen damit begonnen, sich durch Angiogenese und Fibroblastproliferation in Granulationsgewebe zu verwandeln: Die Wunde bildete Schorf."

In manchmal sehr langen Sätzen beschreibt er aber auch die Erfahrungen von Menschen auf eine manchmal verblüffend sensible Art, wie die poetisch klingenden Seiten über den LSD-Trip, den der Exilrusse Dschamolidin Hasanov, der jetzt Jimmi Nash heißt, mit der Biologiestudentin Clarissa Sanders einwarf. Dabei hat ausgerechnet er diesen Tropfen gefördert, der in ihrem Tank landete und sie vergiftete: "Unser Tropfen landete über Umwege in einer Amoco-Tankstelle in Austin, Texas, wo er in einem unterirdischen, betonummantelten Behälter ein paar Tage Ruhe fand, ehe er via Zapfsäule und Schlauch im Benzintank eines Ford Pinto landete. Das geschah am 23. Juni 1975. Die Hand, die den Pumpenhebel hielt, und der Blick, der zerstreut den kleinen Zählrädern der Benzinzapfsäule folgte, gehörten einer jungen Frau namens Clarissa Saunders."

Mit einem Sinn für kleinste Dinge, mit einem Faible für das Unbedeutende beschreibt Adolphsen die Geschichte dieses Urpferdherzens, das in der Welt- und in der Wissenschaftsgeschichte eine Rolle spielt. In einem fulminanten Wechsel aus abstrakten und erzählerischen Perspektiven, aus Abenteuergeschichte und Wissenschaftsaufsatz schiebt uns der Autor durch die Welt. In einem fast buddhistischen Ansatz von Ursache und Wirkung stellt er fest, was wie wo wirkt: Der Tod des Urpferds hat den Tod von Clarissa bewirkt. Eine Phantasmagorie, die ihresgleichen sucht.


Titelbild

Peter Adolphsen: Das Herz des Urpferds. Erzählung.
Übersetzt aus dem Dänischen von Hanns Grössel.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
110 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004140

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