Minutiöses über Maladien

Über Thomas Hübeners detailverliebte Studie zu Michel Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone"

Von Alexander PreisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Preisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob der angeregte Kapitalismus 2.0 (trend 11/2008) oder gleich das vielbeschworene Ende des Kapitalismus (wespennest 08/2008) im Zuge der Finanzkrise wirklich stattfinden werden, mag man bezweifeln. Von eindeutig ungebrochener Aktualität ist aber zweifelsohne die Kritik am Neoliberalismus und damit auch eines der zentralen Themen des französischen Skandalautors Michel Houellebecq. Zu dessen Debütroman aus dem Jahre 1994 - "Ausweitung der Kampfzone" - ist nun eine detaillierte Studie von Thomas Hübener erschienen. Ein Werk, das jedem Diplomanden/Dissertanten nur Mut machen kann: Aus den 170 Seiten des Primärtextes schöpft Thomas Hübener rund 480 Seiten an Interpretation.

Die Romanhandlung des Houellebecq'schen Werkes sei kurz skizziert: Geschildert wird der Roman aus der Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers, ein Pariser Informatiker, der auf eine Dienstreise im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums geschickt wird. Der Blick des Erzählers, der langsam aber sicher in seiner Depression versinkt, stellt sich als Superlativ von Kultur- und Konsumkritik, Schuldzuweisungen und grenzenlosem Selbstmitleid dar. Scheinbar krank an der Gesellschaft, leitet er seinen Firmenkollegen Tisserand zum Mord an, der schließlich aber in einem Selbstmord mündet. Der Held verliert wenig später seinen Job und wird Patient einer Psychiatrie. Letzte Kräfte mobilisiert er für eine erhoffte, wie Hübener schreibt, unio mystica, inmitten der Natur, die jedoch nicht eintritt: "[D]as Lebensziel ist verfehlt. Es ist zwei Uhr nachmittags."

Vom nötigen Erklärungsbedarf des an etlichen Stellen schwer zugänglichen Houellebecq'schen Textes geben die Rezensionen ein beredtes Zeugnis. Es wundert nicht, wenn die Kritiken zuweilen nicht nur objektiv-feststellbare Fehler enthalten, sondern auch den Roman in deutlich redundanter Weise lesen, nicht selten mit jenem interpretatorischen Blick, der Erzähler und Autor gleichsetzt. Ausgehend vom unzureichenden Forschungsstand grenzt sich Hübeners "textanalytisch fundierte [...] Aufräumarbeit" von jeglicher Bezugnahme auf die Autorenintention deutlich ab und greift vorwiegend zu stärker objektivierbaren Analysemethoden aus dem Fundus der Semiotik, der Erzähltheorie, der Textanalyse und der Diskursanalyse. Wer allerdings Kapitel sucht, in denen der Autor explizit seine Methodologie und Herangehensweise darlegt, sucht vergebens. Hübener - und dies hebt seine Arbeit einerseits wohltuend von vielen theorielastigen germanistischen Arbeiten der Gegenwart ab - beschäftigt sich direkt und ausschließlich mit dem Primärtext. Dennoch, und dies ist die andere Seite der Theorielosigkeit, bleiben hinsichtlich der Methodik einige Fragen offen.

Die Studie ist in drei große Abschnitte gegliedert: Der breiteste Raum wird der Charakterisierung der oftmals widersprüchlichen Romanfigur gewidmet. Das Verhalten des namenlosen Helden, so belegt Hübener in seiner detailverliebten Arbeit, zeigt vermehrt die pathologischen Symptome eines Depressiven. Davon zu trennen sind die "charakterlichen Inkongruenzen", die nicht auf die Krankheit zurückzuführen sind. Diese für den Leser besonders verwirrenden Inkonsequenzen im Denken und Handeln des Protagonisten bestehen für Hübener in den Dichotomien von Einsamkeitsleid und Gesellschaftsflucht, in der Verurteilung der Liebesunfähigkeit der Welt, obwohl der Erzähler selbst liebesunfähig ist. Des Weiteren in der Mediokrität, dem Gefühl des Auserwähltseins und letztlich in seinem gespaltenen Verhältnis zur Natur. In einer minutiösen Detailarbeit am Text, und dies gilt für das ganze Werk generell, legt der Autor plausibel und durch viele Zitate nachvollziehbar die Widersprüchlichkeiten des Erzählers dar und führt sie dem Leser deutlich vor Augen: Dass der Romanheld keineswegs einem gesellschaftlichen Fatalismus und Determinismus unterworfen ist, sondern vielmehr selber dem Zwang einer "vorauseilender Resignation" unterworfen ist. Nach der Lektüre dieser Kapitel wird jedenfalls deutlich, dass vielen Kritikern und Rezensenten, die dem Helden die Opferrolle an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugeschrieben haben, die Pointe der Erzählperspektive entgangen ist. Zweifelsohne ist die geschilderte Welt der Romanfigur "tatsächlich" keine angenehme, aber die noch immer vorhandenen Entscheidungsmöglichkeiten des Helden (etwa die Episode rund um Lechardoy, der Kollegin aus dem Landwirtschaftsministerium) schlichtweg zu übersehen, ist ein schwerwiegender Fehler. Der Blick des Helden entpuppt sich jedenfalls als ontologisierend, pessimistisch, stark verallgemeinernd und liebesunfähig, kurzum: Der Held sieht sich selbst gern in der Opferrolle und scheitert eher an der "Unerträglichkeit der Freiheit" als an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Ansonsten spannt dieser erste Abschnitt den Bogen vom Zynismus des Erzählers, dessen gescheiterten mystischen Vereinigung bis hin zu Parallelen zwischen Büchners "Lenz" und dem Houellebecq'schen Roman.

Hübener widmet sich weiterhin den zeitdiagnostischen Aspekten, die unter das Motto des "Unbehagen in der Postmoderne" gestellt wird. Dominant thematisiert werden, so der Autor, der "Kollaps der religiösen Sinnstiftung", der entfremdete Tod, die "vermasste Individualtität" und die "sexuelle Marktwirtschaft". Dieses Panorama des Kulturpessimismus arbeitet der Autor akribisch ab, der Schwerpunkt liegt vor allem auf dem bekannten Themenkomplex Marktwirtschaft und Sexualität.

Schließlich unterzieht der Autor den Primärtext und dessen Übersetzung einer akribischen Analyse, die wiederum plausibel und durch die vielen Zitate nachvollziehbar ist. Hübener arbeitet drei "Tonhöhen" des Romans heraus: Da ist einerseits der Ton der "narrativen Nüchternheit", der Stil der kalten Wissenschaftlichkeit und eine Ebene der, an den Dichter Lautréamont erinnernde, "arabeskale[n] Hysterie".

"Maladien für Millionen" zeichnet sich durch einen gut lesbaren und pointierten Text aus, der an etlichen Stellen allerdings stark dem Manieristischen zuneigt und mit einer Vielzahl an Fremdwörtern und Fachvokabular aufwartet. Hübener weist mit einer Fülle von Detailinterpretationen auf, die von der Satz- bis hinunter zur Wortebene vieles berücksichtigt und sich auch mit dem Verhältnis von Originaltext und Übersetzung auseinandersetzt.

Der Nachteil der Theorielosigkeit und die Konzeption der Arbeit als klassisch germanistische Untersuchung führen dem Leser aber auch wissenschaftstheoretische Mängel vor Auge, die unter dem Stichwort "Krise der Germanistik" Hochkonjunktur haben. Dazu zählt etwa eine gewisse Beliebigkeit beim Zitieren: Zitate von Martin Heidegger, Günther Anders, Arthur Schopenhauer, Peter Sloterdijk und diversen griechischen Philosophen sind über das Werk verstreut und zeugen von der Pragmatik des Autors. Zweifelsohne lässt sich aber nach längerem Suchen für jedes Werk der passende Philosoph finden. Genauso wissenschaftstheoretisch fragwürdig scheinen Teile der komparatistischen Kapitel zu sein: Mögen die intertextuellen Hinweise zwischen der "Ausweitung der Kampfzone" und Albert Camus "Der Fremde" eindeutig sein, so beruht der "Lenz"-Abschnitt bloß auf der Wahrscheinlichkeit, dass Houellebecq mit dem "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Berührung gekommen ist und daher Georg Büchners Werk kennt. Es stellt sich die Frage, welchen Gewinn der Leser aus solchen literarischen Vergleichen zieht, wenn kein direkter Hinweis auf einen Autorenbezug vorliegt. Zweifelsohne lässt sich jeder Roman mit jedem anderen unter irgendeiner Hinsicht vergleichen.

Interessant wäre es etwa gewesen, rund um die "Kampfzone" nachzuforschen, sprich den (Neo)liberalismus stärker ins Zentrum zu rücken. Hier hätte sich eine stilistische Untersuchung im Werk von Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman und seine Entsprechung, etwa durch das biologistisch gefärbte Vokabular, die Kampfmetaphorik und so weiter in der "Ausweitung der Kampfzone" angeboten. Außerdem bringt die klassisch-germanistische Interpretation noch mit sich, dass sich der Autor bemüßigt fühlt, Themen anzuschneiden und abzuhandeln, die für Wissenschafter der einzelnen Disziplinen allein schon dissertationsfüllend wären. So steht etwa das Kapitel über die Krise der religiösen Sinnstiftung theoretisch auf schwachen Beinen, bleibt oberflächlich und kaum empirisch gesichert. Andere Teile gleiten zu stark ins erzählerische oder essayistische ab oder wirken überinterpretiert.

Dennoch: Mit Hübeners "Maladien für Millionen" liegt eine grundsolide, über weite Strecken überzeugende und nachvollziehbare Arbeit vor, die durch ihren Detailreichtum und ihre Akribie besticht. Sie stellt eine - soweit man in Zusammenhang mit Literatur überhaupt davon sprechen kann - umfassende Textanalyse und damit einen wertvollen und grundlegenden Beitrag zum Erstlingswerk von Michel Houellebecq dar.


Titelbild

Thomas Hübener: Maladien für Millionen. Eine Studie zu Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2007.
482 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783865250643

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