Zuviele Episoden ohne Zusammenhang
In seinem Roman "Nach Hause schwimmen" traut Rolf Lappert seiner Hauptfigur leider keine eigene Geschichte zu
Von H.-Georg Lützenkirchen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Buch lässt seine Leser enttäuscht zurück. Zu viele Erwartungen sind im Verlauf der über 500seitigen Lektüre geweckt, aber nur wenige davon sind auch erfüllt worden. Das fängt bei der Hauptfigur an. Wilbur heißt der Held und das Erste, was wir von ihm erfahren, ist: "Heute ist der Tag, an dem ich sterbe."
Wer so schwergewichtig in die Geschichte seines Leben einsteigt, muss einiges zu bieten haben. Oder aber sein Autor, der weiß, dass sein Held an diesem Tage natürlich nicht sterben wird, setzt auf ein spekulatives Moment. Das verärgert. Immer wieder behauptet der Autor, dass sein Held und seine Geschichte Bedeutung haben, aber vergeblich suchen wir nach ihr.
Wilbur verliert kurz nach seiner Geburt seine Mutter. Eine Irin, die in Amerika einen Schweden traf, Wilburs Vater. Doch auch der verschwindet nach der Geburt, so dass der elternlose Wilbur zunächst von den Schwestern des Krankenhauses hochgepäppelt wird. Dann aber holen ihn seine irischen Großeltern nach Irland. Während der Junge zu seinem Großvater kein besonderes Verhältnis entwickelt, wird die Großmutter Orla zu seiner zentralen Vertrauensperson. Nur bei ihr fühlt er sich vollkommen sicher und anerkannt. Draußen aber, in der Schule, unter Gleichaltrigen bleibt Wilbur ein Außenseiter. Er fühlt sich körperlich abgewertet, weil er kleingewachsen ist. Seine schulischen und musikalischen Talente werden als streberhaft empfunden. Ausgerechnet sein einziger Freund, ein eigenbrötlerischer Junge aus der Nachbarschaft, verursacht durch eine Kette von Umständen den Unfalltot der Großmutter. Wieder ist Wilbur heimatlos. Vielleicht ist das der Grund, dass er sich auf die Suche nach seinem Vater macht. Sie bleibt lange erfolglos. Erst als er zurück nach Amerika gekommen ist, führt schließlich ein Zufall zur Entdeckung seines Vaters. Der ist durch einen Schlaganfall so beeinträchtigt, dass er seinen Sohn nicht mehr erkennt.
Um diese Geschichte ranken sich eine Fülle von Begegnungen mit anderen Menschen. Allesamt kreuzen sie den Weg Wilburs, spielen eine zeitlang eine bedeutsam prägende Rolle. Umso erstaunlicher, dass sie fast alle wieder verschwinden. Und so als hätte der Autor gespürt, dass das Verschwinden dieser Figuren beim Leser ein Gefühl der Leere hinterlässt, teilt er an anderer Stelle in pflichtgemäßer Manier mit, was aus der Figur geworden ist.
Besonders dann ist dieses Fehlen eines dramaturgischen Gefühls ärgerlich, wenn die Figuren selbst das Potential für eine starke Geschichte hätten, zumindest aber ihre Geschichte Einfluss auf Wilburs Werden haben könnte. So wie Großvater Eamon. Gerne hätte man mehr darüber erfahren, wie es zu dem Betrug an einem an der irischen Küste gestrandeten Seemann Jahre vorher hatte kommen können. Diesem Coup verdankte er seinen relativen Wohlstand. Wie wirkt sich dies auf Wilbur aus? Lappert erzählt zwar die Geschichte, aber sie dient ihm nur als Fundament für eine weitere Figur im Umfeld Wilburs. Hier hat sie nur einen Zweck zu erfüllen: sie soll Wilburs Geschichte interessanter machen.
Es ist immer misslich, wenn ein Autor der Geschichte seiner Hauptfigur nicht traut. Er fühlt sich veranlasst, immer mehr und immer ,größere' Geschichten um ihn herum zu bauen in der Annahme, die zentrale Story würde dadurch bedeutsamer. Wenn jedoch, so wie hier, keine dieser Geschichten tatsächlich ausgeführt wird, geschweige denn ein tiefergehender Bezug zur Zentrumsgeschichte hergestellt wird, bleibt die Mühe vergebens. Alles wirkt konstruiert und behauptet. Nichts entwickelt sich in Beziehung zueinander. Wäre, um beim Beispiel des Großvaters zu bleiben, dieser ,nur' ein einfacher Großvater ohne die Schuld eines lange zurückliegenden Betrugs, es hätte keine andere Bedeutung für Wilburs Entwicklung gehabt.
Eine Folge dieser Haltung ist Langeweile. Wenn man trotzdem das Buch bis zum Ende liest, dann deshalb, weil dem Autor gerade in seinen Nebenbeigeschichten zuweilen schöne Zeichnungen gelingen. Die Szenerie des Hotels der alten Männer, in das Wilbur für einige Zeit flieht, um seiner Verantwortung für den Vater zu entfliehen, ist bizzar. Es entsteht ein skurriles Panoptikum, dem ein gewisser melancholischer Zug anhängt. Das Leben der dort auftretenden Männer ist vorbei und das Hotel dient ihnen als Vorhof zum Tod. Bemerkenswert, dass Wilbur ausgerechnet hier Zuflucht zu finden glaubt. Doch auch diese bemerkenswerte Idee bleibt eine Episode, die die Hauptfigur interessant machen soll. Schade, Chance verpasst.
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