Der Wille der Bilder

W.J.T. Mitchells Theorie visueller Kultur sieht das Bild als lebendiges Wesen

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Blumenberg bringt in seinem Text über "Die Lesbarkeit der Welt" "die gängigen kulturkritischen Phrasen" auf den Punkt, "das Unbehagen in der Kultur sei bestimmt von einer Enttäuschung, für die niemand angeben kann, welche Erwartungen es denn gewesen waren, die enttäuscht worden sind." Erwartungen im Rahmen einer wie auch immer gearteten Perspektive implizieren Annahmen über die Grundbestandteile dieser Kultur, die zur Quelle der Enttäuschung werden konnte.

Ent-Täuschung greift dort, wo Grundbestandteile sich als wenig tragfähig erwiesen: Die anthropomorphe Gottesvorstellung, der Wissenschaftsglaube, die Macht des geschriebenen oder gesprochenen Wortes, die Natur. Ein Grundbestandteil kultureller Entwicklung und Stabilität war von jeher: das Bild. Es lässt sich mit den genannten Bausteinen kultureller Identität verbinden und vermag diese zu befördern (in unterstützenden Darstellungen des Heiligen) oder zu hemmen, etwa durch Bilder, die Schrecken und Leiden zeigen, die dann "betrachtbar" werden - Susan Sontag hat Entsprechendes für die Darstellung krisenhafter Zustände prominent thematisiert (so in der Kriegsfotografie). Mit Blumenberg kann das Bild als Operator an der Enttäuschungszone betrachtet werden; eine "Theorie der visuellen Kultur" kann helfen, Enttäuschung in die Selbstverständlichkeit medialer Übertragungsweisen hinein zu kanalisieren. Image is everything, wird André Agassi von W.J.T. Mitchell mottohaft zitiert; eine Reklame für Canon-Kameras enthält den Imperativ moderner Kulturentwicklung, wobei image sowohl ein aufgenommenes Bild als auch eine Selbstvorstellung meinen kann.

Der an der Universität Chicago lehrende Bildtheoretiker Mitchell entwirft eine Theorie visueller Kultur, die nicht zufällig essayistisch gehalten ist - die Texte verbinden sich wie nicht ganz kontingente Pixel eines Bildes. Einzelbeobachtungen und Illustrationen werfen Schlaglichter auf eine aktuelle Diskussion, zu der es gehört, ihre konstante Aktualität zu kommunizieren: wann hat man nicht von Bildern gesprochen? Mitchells Flirt mit der, wie er konzediert, "unseriösen" Frage danach, was das Bild will, bietet einen Fächer von Antworten. Das Bild wecke im Betrachter ein doppeltes Bewusstsein: ein naiv-abergläubisches, das dem Bild magische Macht, Eigenwillen und Quasi-Subjektivität zugesteht sowie dessen rationalistische Brechung, die besagt, Bilder erhielten ihren voluntativen Charakter durch frühere schöpferische Akte, seien also nicht autonom.

Mitchell geht es um die Nachzeichnung des magischen Blicks auf Bildformen, der diesen einen eigenen Willen unterstellt. Die moderne und nachmoderne Welt sei ebenso von magischen Zuschreibungen getragen wie zu früheren Zeiten expliziter Glaubensakte. Das Bild also als Residuum von Magie im Sinne einer George Steiner'schen realen Gegenwart des Höchsten? Ist hier etwas Originelles ausgesprochen oder ein Gedanke, der an das von Blumenberg benannte Enttäuschungspotential moderner Kulturentwicklung anschließt? Die Enttäuschung wird nicht unbedingt gemildert durch den Wiedereintritt des Magischen in die Diskussion, dessen Zulassen im Diskurs eine Resemantisierung in Richtung animistischer Praxis darstellt.

Wer fragt, was das Bild will, situiert sich in einer gegebenen Kultur, die bildhaft geprägt ist. Die Antwort kann so nicht für oder gegen das Bild als Universal kultureller Progression sprechen. Es geht vielmehr auch bei Mitchell um das implizite Thema des Modus, des Wie des Bildes. Nach Roland Barthes liegt der Widerstand des Bildes gegen den Sinn in einer "vagen Vorstellung". Mitchell will diese vage Vorstellung buchstabieren und ihr ihre Vagheit nehmen: "Diese vage Vorstellung so deutlich wie möglich zu machen, die Art und Weise zu analysieren, wie Bilder lebendig werden und einen eigenen Willen zu entwickeln scheinen - das ist es, worin der Zweck dieses Buches besteht."

So ist Mitchells Absicht auf der magischen Seite, seine Durchführung der Absicht auf der rationalen Seite situiert. Gleichwohl möchte er beide Seiten des doppelten Bewusstseins der Bildbetrachter zwischen Magie (Wille der Bilder) und Ratio (ihrer Abhängigkeit von einer imaginierenden Kraft) berücksichtigen und einen dritten Weg finden. Der Autor stellt sich einen produktiven Anthropomorphismus vor und führt ihn aus. Die angenommene Lebendigkeit der Bilder stützt Mitchells Vorgehen, ist Grundannahme und Achillesferse zugleich: Wenn Bilder lebendig sind, wie kann man dann beurteilend über sie schreiben, ohne sie zu verraten? Wenn der Wille der Bilder ihnen als These unterlegt wird, dabei aber der Autor-Wille die Lebendigkeit erst unterstellen muss und kann, schreibt der Autor im Grunde genommen über sich selbst.

Es ist, neben vielen informativen Gedanken, diese Paradoxie, die sich zum doppelten Bewusstsein des Bildbetrachters, der passives und aktives Bild unterscheidet, noch addiert. Gleichwohl muss man so streng nicht sein. Das Phänomen des lebendigen Bildes ist in der Tat der "fundamentalen Ontologie des Bildes" zuzurechnen und der Bildforscher stellt diese sympathischerweise an konkreten Bildern dar: dem Klonschaf Dolly und den Zwillingstürmen im Moment ihrer Zerstörung. Sind diese Bilder selbst Ikonen in Form von millionenfach kommunizierten Signalen uneinholbarer Entwicklungen, nimmt Mitchell sie als solche: ihre Relevanz wird nicht durch Kriterien wie "Aktualität" oder "Gegenwärtigkeit" gesichert, sondern durch jene, "Enigma und Omen" zu sein, "Vorbote für unsichere Zeiten".

Sybille Krämer hat kürzlich der Figur des Boten eine große kulturwissenschaftliche Abhandlung gewidmet; Vermittlungsprozesse konstituieren Sinn oder dessen Nachwehen gerade in dieser Zeit, in der Bilder nur fluten können, weil die Kanäle ihrer Vermittlung fraglos zur Verfügung stehen (und damit ist nicht nur abstrakte "Medialität" gemeint, sondern das Tun der Übermittlung selbst, wie in der nur oberfächlich altmodischen Botenfigur).

Mitchell unterscheidet drei große Markierungen: Bilder, Objekte und Medien. Ohne spitzfindig sein zu wollen, sind Bilder auch Objekte der Wahrnehmung und Medien der Vermittlung. Zugleich ist dieser Dreiklang auch eine Entwicklungslinie, mit der Mitchell den Weg vom Objekt zum Medium nachzeichnet, den das Bild in der modernen Kulturentwicklung genommen hat. Man verehrt es nicht mehr, sondern benutzt es, wenn der Autor "auf den Spuren des Begehrens" wandelt, sind diese zumindest semantisch schon ausgetretene Pfade. Aber er befragt sie kritisch: "Ist das Begehren ein Symptom (oder zumindest ein Resultat) des Bildermachens und des Hangs der Bilder, ein eigenes Begehren zu entwickeln, sobald sie geschaffen worden sind, um ein solches dann auch in anderen hervorzurufen?" Mit Milton sei der Mensch eine Einsamkeitsverminderung Gottes. Ein lebendiges Bild mithin, Bilderfrage und Begehrensfrage sind nicht zu trennen. Narziß wird genannt, dessen Verwechslung von Bild und Begehren ihn ertrinken lässt - das Bild war er selbst.

Zu Recht wendet sich Mitchell gegen den unreflektiert angenommenen "Zeugungskreislauf, in dem das Begehren Bilder erzeugt und die Bilder Begehren hervorrufen." Ein Kreislauf übersähe das Poietisch-Gemachte des Bildes, legt zwingende zyklische Natürlichkeit nahe; gerade der poietische Charakter des Bildes ermöglicht es aber, auf den Spuren seiner Herstellung wieder aus ihm herauszutreten. Dieser Herstellungsprozeß war nach Mitchell früher etwas, das den Willen der Bilder freisetzte, er ist poetisch beschrieben in dem Gedicht J.M.W. Turners "The Origin of Vermillion, or the Loves of Painting and Music". Wenn der berühmte englische Maler Turner hier die Seite vom Maler zum Schriftsteller wechselt, ereignet sich zugleich ein Aspektwechsel, bei dem etwas deutlich wird: Malerei fühlt sich von einem Objekt angezogen. Das ist in der europäischen Geisteslandschaft der Poesie nicht ungewöhnlich. Charles Baudelaires Gegenstände (und auch Naturformen) sind zu Geisteshaltungen fähig, Echos davon gibt es bei Franz Kafka, Rainer Maria Rilke oder Eduard von Keyserling. Es ist vielleicht die mit dem Virulentwerden des Bildes aufkommende Gewissheit, dass Bilder als Gegenstände den Betrachter anziehen und etwas von ihm verlangen, die Mitchell hier in Erinnerung ruft.

Vom phantasmatisch-immateriellen Punkt der Bilder im ersten Teil des Buches, der lakonisch mit "Bilder" betitelt ist und damit das Programm mitteilt, Bilder in ihrer Ursprungsform als der Materialität des Kunstwerks gegenübergestellte Imaginationsweisen zu verstehen, geht Mitchell im zweiten großen Teil zu den "Objekten" über. Mit Melanie Klein und anderen einschlägigen Zeugen wird über die Verbindung von Objekt und Bild nachgedacht - "wenn es keine Bilder ohne Objekte (als materielle Grundlage oder referenzielles Ziel) gibt, gibt es auch keine Objekte ohne Bilder." Wohl wahr. Und doch: Umkehrrelationen hinterlassen ein Gefühl nahender Manipulation. Hat man wirklich beide Aussagen akzeptiert? Sind zwingende Verbindungen nicht auch nur Mythologien des Kausalnexus, der sowohl in die eine als auch in die andere Richtung funktioniert? Ludwig Wittgenstein nannte dies Aberglauben.

In der Geschichte wurden Bilder zerstört, die ihren Betrachter zerstörten, ihm Leid zufügten. Der Ikonoklasmus stürmt das Bild, das beleidigt. Mitchells Kollektion "anstößiger Bilder" kulminiert in Chris Ofilis "The Holy Virgin Mary" (1995): Eine plakative Collage unter der Verwendung von Elefantenmist. Dies führte (oder schien logisch zu führen) zum Angriff auf das kränkende Bild durch Dennis Heiner. Er protestierte auf besondere Art und schlug das Bild mit bildeigenen Mitteln: der sorgfältigen Übermalung mit weißer Farbe. So stellte er den Reinheitsanspruch der Marienfigur wieder her und löste ihn ein. Ein Angriff auf Mimikry-Art, gleichsam das Camouflieren des auffällig Anstößigen durch die Wiederherstellung eines "Eigentlichen" im Brooklyn Museum. Als Typen von Beziehungen zu Bildern nennt der Autor: Totemismus, Fetischismus und Idolatrie. Dasselbe Objekt kann Totem, Fetisch oder Idol sein: Das "Kalb" etwa als Bild Gottes (Idol), als Bild eines Stammes (Totem) oder zusammengeschmolzenes Gemenge von Teilobjekten (Ohrringe und Goldschmuck), das die Israeliten aus Ägypten mitbrachten (Fetisch).

Mitchell stellt diese Überlegungen nun explizit in den eben genannten Begriffshorizont von Wittgensteins "Aspektsehen" und seinem H/E-Kopf - einer aus der Gestaltpsychologie stammenden Zeichnung, auf der eine Figur mal als Hase, mal als Ente erscheint. Das "Leben" von Kippfiguren ist einer der deutlichsten Fälle vom wollenden Bild. Allerdings wird die temporäre Bedeutung der Kippfigur vom Blick des Betrachters gesteuert; ein Untersuchungsfeld tut sich auf, das sprachphilosophische und wahrnehmungstheoretische Implikationen verbindet. Gelegentlich hat man den Eindruck, Mitchell springe von einem Gedanken zum anderen, was mit der Darreichungsform seiner Überlegungen als Kompilation vorher schon gehaltener Vorträge beziehungsweise geschriebener Aufsätze zu tun hat. Manche dieser Gedanken überlagern sich in Anspielungsreichtum; mitunter kann der Leser selber Brücken bauen, die auch von Mitchell gebaut werden. Die Engführung der anschaulich verstreuten Thesen erfolgt im dritten Teil des Buches (seine ganze Einteilung erscheint aufgrund der vorverfertigten Textgrundlagen post rem) unter dem Titel: "Medien".

Aufschlussreich und eine wichtige Pointe am Wegesrand ist das Motto dieses Teiles: "So etwas wie ein glückliches Medium gibt es nicht" (Anonymus). Es ist wenig überraschend, aber plausibel, zuletzt die ethische Prägung des Medialen perspektivierend zu nutzen. Auch in der Abwesenheit von Glück und der Verneinung eines medialen Glücksversprechens ist wieder die Zuschreibung des Unglücks auf das Medium selbst wichtig, das zu Geisteshaltungen fähig ist. Das Medium sei glücklich oder unglücklich (bei Mitchell in feiner litotischer Ausdrucksweise), nicht das Ergebnis seiner Übertragungsleistung.

Alles in allem präsentiert sich die vorliegende Theorie der visuellen Kultur eher als loser Zusammenhang theoretischer "Brocken" (mit Søren Kierkegaard zu sprechen). Allerdings ist der deutsche Titel insofern bescheiden: nicht "die", sondern "eine" Theorie der visuellen Kultur wird geboten, was die Anschließbarkeit weiterer theoretischer Entwürfe nahelegt. Ein McLuhan'scher Optimismus gewinnt noch dem strengen Luhmann-Diagramm aus Mitchells Feder etwas Humoristisches ab. Der Kommentar lautet: "Die Form verhält sich zum Medium wie das System zur Umwelt, wie der Organismus zum Lebensraum". Mithin sind Grenzen zu sichern unter der Möglichkeit von re-entries. Mitchell selbst tritt in seinem Buch als starke Stimme auf, die in stilistischer Direktheit den vielgestaltigen Raum beschreibt, in dem Erscheinungs- mit Übermittlungsmedien konkurrieren.

Am Ende ist der mit Blumenberg anfänglich ausgemachte Enttäuschungsraum moderner Kulturentwicklung an mancher Stelle belichtet. Mitchells medientheoretische Überlegungen sollen nicht über, sondern inmitten der Medien stehen und mit ihnen in ein Gespräch eintreten. Dieser hermeneutisch-dialogische Grundzug, der sich mit der Annahme vom Bild als lebendigem Wesen kombiniert, führt dazu, dass Bilder nicht als Universal der Enttäuschung wahrgenommen werden. Sie sind vielmehr als Medien grundsätzlich kulturstiftend und nicht erst in Massenkulturen relevant. Architektur, Bildhauerei und Malerei sind frühe Vorläufer von Fernsehen, Kino und Internet - so stehen Mitchells zitierte Filmstills von "Der Stadtneurotiker" bis zu "Jurassic Park" für die Fortdauer eines Diskurses, der gelegentlich wie auf seine Beispiele verpflichtet wirkt. "Alles wird lebendig" ist Mitchells abschließendes "Epitheton unserer Zeit". Visuelle Kultur wird als Agentin von Indizien des Lebendigen lesbar; die unglücklichen Medien schweigen.


Titelbild

W. J. T. Mitchell: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur.
Mit einem Vorwort von Hans Belting.
Übersetzt aus dem Englischen von Achim Eschbach und Mark Halawa.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
262 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406573590

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