Wider den Schein der Alternativlosigkeit

Tatjana Freytag untersucht in ihrer Studie "Der unternommene Mensch" Eindimensionalitätsprozesse in der Gesellschaft

Von Moshe ZuckermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Moshe Zuckermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurze Zeit nach Zusammenbruch des russischen Sowjetregimes und der Auflösung des Ostblocks sagte ein renommierter Kollege, der Sozialismus und der Kommunismus hätten sich nun welthistorisch endgültig erledigt. Es sei an der Zeit, sich theoretisch wie akademisch neu zu orientieren und den Marxismus ad acta zu legen. Das war natürlich barer Unsinn. Denn erstens soll man sich nie voreilig als selbstgewisser Geschichtsprophet aufspielen, zweitens muss man recht borniert sein, um zu meinen, der Sowjetkommunismus hätte geschichtstheoretisch wie realhistorisch etwas mit dem von Marx anvisierten Sozialismus oder Kommunismus zu tun gehabt und drittens war ja die fundamentale Frage- und Problemstellung, um die es beim Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung gegangen war, nicht schon an sich aus der Welt geschafft, weil die kommod Enttäuschten lebensgeschichtlich beschlossen, sie eben mal links liegen zu lassen.

Ähnliches (und in nämlichem Zusammenhang) widerfuhr der klassischen Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz. In den 1960er-Jahren zu beachtlichem theoretischen, politischen und kulturellen Höhenflug gelangt, verblasste in den folgenden Jahrzehnten ihr Ruhm. Das Adorno-Jahr 2003 mutete gerade wegen der überspannten Befeierung des Frankfurter Philosophen wie die endgültige, mithin aufatmende Grablegung seines Denkens an, so als hätten sich die in den Thesen zum autoritären Charakter und zur Kulturindustrie aufgezeigten realen Probleme des Spätkapitalismus (um nur die beiden anzuführen) in Wohlgefallen aufgelöst. Das hatte einiges mit der objektiv veränderten Weltlage nach besagtem Zusammenbruch des Kommunismus zu tun, mit der neoliberal ideologisierten Neuaufladung des Kapitalismus und nicht zuletzt aber auch mit pseudotheoretischen Absegnungen durch den fröhliche Urständ feierenden Postmodernismus. Ein neuer Zeitgeist verlieh den alten Strukturen ihre schlecht renovierte politische, ökonomische wie kulturelle Raison d'être.

Nun hat die in Hildesheim lehrende Hannoveraner Soziologin Tatjana Freytag, die 2005 im von Rezensenten damals geleiteten Tel-Aviver Institut für deutsche Geschichte als Forschungsstipendiantin zu Gast war, einen Band vorgelegt, der in brillanter Weise die verblendete Vorstellung, die "alten" Strukturprobleme hätten sich endgültig überlebt und seien als Anachronismen ins sozialwissenschaftliche Theoriemuseum zu stellen, ihres Ideologischen überführt, um zugleich aber auch empirisch darzulegen, in welcher neuen Gestalt besagte Probleme real fortbestehen und die heutige Gesellschaft weiterhin durchsetzend beherrschen. Schon der blendende von Freytag für den Buchtitel erfundene Neologismus "Der unternommene Mensch" darf als paradigmatisch gelten. Denn nicht nur verdichtet sich in ihm die Grunddiagnose eines im neoliberalen Spätkapitalismus zum wehrlosen Objekt des ökonomisch Unternehmerischen degradierten Menschen, sondern das Unternehmerische selbst wird als Matrix gewaltiger Eindimensionalisierungsprozesse der neu-alten Zeit gezeichnet. Dass sich Freytag dabei der schon klassisch anmutenden Marcuse'schen Kategorie der Eindimensionalität verschreibt, mag auf den ersten Blick irritieren: Haben sich die letzten Jahrzehnte nicht gerade durch zunehemende Diversität, Pluralisierung und der (im Akdemischen modisch gewordenen) Multitude ausgezeichnet? Hat sich Marcuses schwarze Vision nicht historisch als unbegründet erwiesen?

Die Autorin macht sich in diesem Punkt das Leben nicht leicht. Sie begibt sich auf eine Erkundungsreise des Dimensionsbegriffs in der Wissenschaftsgeschichte, rekonstruiert dann kritisch den Begriff der Eindimensionalität bei Marcuse, um schließlich mit geschärftem Blick und konzeptueller Verve darzulegen, woran es festzuhalten gelte, nicht zuletzt, weil "trotz der vielfältigen und verschiedenartigen Entwicklungsbahnen (Trajektorien) der Geo-Regionen, die im gegenwärtigen Globalisierungsprozess realisiert werden, [...] all diese Prozesse an die Einheit der aktuellen Geo-Ökonomie in der Konkurrenz gebunden [bleiben]". Die der strukturellen, freilich oberflächlich nicht immer wahrnehmbaren Vereinheitlichung unterworfene Vielfalt, erweist sich so besehen als Ideologie, gerade weil sie sich normativ einer Pluralität (Konkurrenz, Individualität et cetera) rühmt, die sie objektiv gar nicht wahrt. Man mag demgegenüber einwenden, dass so wie in der Nacht all Katzen grau seien, erscheinen auch Heterogenitäten aus abstrakter Vogelflugperspektive stets als homogen, und dass es doch darum ginge, die Dinge im einzelnen konkret anzuvisieren, um ihre Diversität ausmachen zu können. Dieses beherzigenswerten Einwands wird sich auch Tatjana Freytag bewußt gewesen sein, als sie beschloß den gesamten zweiten Teil ihrer Studie der "Physognomie von Eindimensionalität heute" im konkreten Detail zu widmen.

Drei Ebenen der Untersuchung hat sie sich hierfür ausgesucht, die des Sozialen, des Politischen und der Bildung, wobei sie auch in diesem Zusammenhang auf präzise Durchdringung des Begriffs der verschiedenen Ebenen achtet, um sich dann kraft der jeweils erarbeiteten Konzeptualisierung einer akribischen Analyse der empirischen Bestände in jedem Bereich zu widmen. Allgemeine Fragen, die den Sozialstaat und die fortschreitende Vergesellschaftung betreffen, interessieren sie dabei auf der sozialen Ebene nicht minder als etwa die Rahmenkonzeption der unter dem Vorsitz Meinhard Miegels 1995 berufenen "Zukunftskommission". Identitätspolitik und die damit einhergehende Kulturalisierung des Politischen beschäftigen sie unter anderem auf der politischen Ebene; und von der Einrichtung einer "enterprise culture" in den Schulen bis hin zur Standardisierung der Hochschulen im Bologna-Prozess reichen ihre scharfsichtigen Analysen und fundierten Erörterungen im Bildungsbereich. Man hätte sich bloß gewünscht, dass noch weitere Bereiche, wie etwa die der Kultur, des Sports und der Medienwelt mit ins diskursive Visier genommen worden wären. Aber das lässt hoffen, dass weitere Studien in ebendiesem ideologiekritischen Denkduktus folgen werden.

In seinem begeisterten Vorwort zum Band schreibt Oskar Negt: "Den suggestiven Schein der Alternativlosigkeit, in den sich Eindimensionalität kleidet, aufzubrechen, ist Voraussetzung für wirklich befreiendes Handeln. Die Studie Tatajana Freytags vermittelt am Ende doch Hoffnung auf ein Gelingen, wie das schon ihre Lehrmeister vorgedacht haben". Dem kann nur beigepflichtet werden. Aber die Leistung der Studie geht noch darüber hinaus: Sie beweist, was sich alles noch in den "alten" Kategorien leisten lässt, wenn man sie nur fachgerecht und adäquat einzusetzen versteht, vor allem aber, dass die Realität, zur deren kritischen Durchdringung diese Kategorien erarbeitet worden waren, historisch mitnichten überwunden ist, sondern als Struktur spätkapitalistischer Vergangenheit in der Gegenwart fortlebt.


Titelbild

Tatjana Freytag: Der unternommene Mensch. Eindimensionalitätsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2008.
207 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783938808443

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