Diagnose: Zeitläufte
Über Norbert Niemanns Roman "Willkommen neue Träume" und warum er trotz des optimistischen Titels nicht lebensbejahend ist
Von Monika Stranakova
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEins steht fest: Norbert Niemann hat sein Thema gefunden und variiert es seit einem Jahrzehnt äußerst erfolgreich. Dass uns die immer weiter verflachende Medienwelt in ihren Fängen hält, unsere Seelen formiert und deformiert, hat er dem Leser schon in den Romanen "Wie man's nimmt" (1998) und "Schule der Gewalt" (2003) einprägsam beigebracht. Mit "Willkommen neue Träume" legt er nun einen weiteren zeitdiagnostischen Roman vor. Schade nur, dass das Erzählerische gerade an dem gewaltigen Aufgebot an gesellschaftlich Relevantem lahmt.
Dabei fängt das Ganze so vielversprechend an. Der vierzigseitige Prolog - die Beschreibung der hektischen Großstadt Berlin am Ende eines hektischen Tages - ist brillant und reißt mit, so dass man vom arbeitsmüden, suchend herumstolpernden Fotografen Liebl, der nach Jahren der Täuschung endlich das "versteckte Leben" auf Film bannen möchte, vorerst kaum Notiz nimmt. Der Mikrokosmos des Bahnhofs mit seinen Schienensträngen, flirrenden Lichtfäden, stockend fließenden Menschenmassen, deren Stimmengewirr von Dach und Wänden widerhallt, fasziniert en gros und en détail. Zu dem an der eigenen Kunst Krankenden wird man in Gedanken sowieso immer wieder zurückkehren müssen. Das ahnt man schon.
Im Zentrum dieses literarischen Wimmelbildes steht Asger Weidenfeldt, Kulturjournalist von Rang, noch jung, aber nicht mehr dynamisch. Er ist auf dem Weg in das heimatliche Vössen, zurück in den Schoß der Mutter und in eine Vergangenheit, die eine großartige Zukunft verhieß, vom Schein wieder zurück zum Sein. Obwohl er sich hinter einem vergilbten Pappdeckel verschanzt und Gedichte mit dem vielsagenden Titel "Das Zeitalter der Angst" liest, wird er von einem Ehepaar, dem noch die Behäbigkeit des gerade absolvierten Bulgarien-Urlaubs anhaftet, und einem desillusionierten Berufssoldaten ("Wir leben mitten im Krieg") in ein Gespräch verwickelt. Unwillig plaudernd tuckert er nun dem unverfälschten Leben entgegen. Oder sitzt er doch schon mittendrin?
Ausgerechnet dort, wo er es sucht, wird er nicht fündig. Das Dorf Vössen, die noble Altersresidenz seiner Mutter Clara, ist kein Ort des hermetischen Zaubers, die gesellschaftlichen Veränderungen haben es längst erfasst. Zwar bemüht man sich noch - auch mit einem nach allen Regeln der Partykunst komponierten Gartenfest zur Feier der Rückkehr des verlorenen Sohnes -, die Illusion einer heilen Welt aufrechtzuerhalten, doch die Zersetzung der gewachsenen Gemeindestrukturen schreitet unaufhaltsam voran. Die neuen Zusammenhänge zu erkennen und zu deuten, das vermögen nur wenige. Eine Meinung darüber, was geschieht, hat trotzdem jeder.
Und so wird "Willkommen neue Träume" über weite Strecken zu einem Gesprächsroman, indem Niemann unser gegenwärtiges, von Konsum und Kommerz geprägtes Leben und dessen fragwürdige Erscheinungsformen quer durch alle Schichten kommentieren lässt. Da ist der vom Modernisierungsdruck geplagte Bürgermeister Stegmüller, Lebensgefährte Claras, der die Launen der mondänen Filmdiva jahrelang mit Würde ertrug, in der letzten Zeit aber den Kopf von "Entwicklungskonzepten", "sanftem Tourismus" und "Gewerbeparks" nicht freibekommt. Eine gelungene Figur, die sowohl in seiner Unfähigkeit, den Wandel mitzugestalten, als auch durch ihre innere Wandlung glaubwürdig erscheint. Da ist Wenzel Poßmann, Archivar und Familienvater, somit Sinnbild für Weidenfeldts Sehnsüchte nach dem eigentlichen Leben, in dem Beruf und Privates noch in Balance sind. Dass der ehemalige Schulfreund das eigene (Spießer-)Leben als ein "Dahindämmern im Mittelmaß" empfindet und deswegen die Herausforderung des intellektuellen Gesprächs als Gast (gerade) in einer Fernsehdebatte wagt (und erwartungsgemäß scheitert), will er nicht wahrhaben.
Leider bleibt der geistige Standort des Autors dem Leser verborgen. Da der desillusionierte Weidenfeldt in der Diskussion mit seinem jeweiligen Gegenüber nicht, wie Hans Castorp im "Zauberberg" (mit dem Niemanns Roman gelegentlich verglichen wird), nach einem gangbaren Weg sucht, die bestehenden Gegensätze miteinander zu versöhnen und dem Erzählten auch sonst keine eindeutige Richtung gibt, ist "Willkommen neue Träume" kein Roman eines ausgezeichneten Einzelnen, der finanziell abgesichert, die bestehenden Strukturen überwinden will.
Zwar neigt der Leser, auch angesichts des Optimismus suggerierenden Titels, für den die dargestellten Lebensgeschichten letztendlich keinen Anlass geben, dem Autor eine ironische Erzählhaltung zuzusprechen, doch die Stärke des Romans ist sie nicht. Die unverkennbare Leistung von Niemanns großangelegtem Gesellschaftsroman liegt vielmehr darin, die Wirklichkeit als komplexe Formation erfahrbar gemacht zu haben. Dies gelingt trotz blasser Hauptfigur.
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