Kultur ist mehr als Nasepopeln?

Ein von Andreas Hüttemann herausgegebener Sammelband untersucht die "Deutungsmacht der Biowissenschaften"

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man könnte 'soziales Lernen' bei Tieren durchaus als 'Kultur' bezeichnen. Wie will man aber die Evolution von (menschlicher) Kultur verstehen, wenn der eigene Kulturbegriff ein ganz anderer ist? Ebenso sinnlos wird es, darüber zu spekulieren, ob Tiere 'auch' Kultur hätten. Zudem ist es unvermeidlich, dass nicht eingeweihte Zuhörer oder Leser beim Wort 'Kultur' an die menschliche Kultur denken, und nicht daran, ob bestimmte Affenpopulationen sich gegenseitig in der Nase popeln, und andere nicht. Wahrscheinlich ist dieser Effekt gewollt. Die geneigten Leser, die Geldgeber, die Medien interessieren sich in der Regel stärker für das Besondere, nicht das Banale."

Dies mutet an wie die zynische, dabei abgedroschene Klage, die typischerweise von Kulturwissenschaftlern oder Philosophen regelmäßig angestimmt wird - etwa angesichts neuer Ergebnisse verhaltensbiologischer Studien, die wieder einmal vorgeben zu belegen, dass es in Wirklichkeit gar keine gravierenden Unterschiede zwischen Mensch und Tier gibt. Doch es ist Julia Fischer, Primatenforscherin und Leiterin der Forschungsgruppe "Kognitive Ethologie" am "Deutschen Primatenzentrum" in Göttingen, die sich mit diesen Worten für "eine größere begriffliche Strenge" ausspricht. Sind hier Rollen vertauscht, die bis in die konkreten Thesen hinein in den Feuilleton-Debatten oft schon zementiert wirken?

Der Sammelband, in dem Fischers Artikel 'Kultivierte Tiere?' zu finden ist, bietet ein recht breites Spektrum renommierter Beiträger: vom Hirnforscher Wolf Singer über den 'Neurodidaktiker' Manfred Spitzer und den Gerontologen Paul B. Baltes bis zum Philosophen Daniel C. Dennett. Sie kommen teils mit Artikeln, teils in Interviews, die bisweilen aufgrund der wortwörtlichen Wiedergabe von Gesprochenem etwas zerfasert wirken, zu Wort. Den größeren Rahmen stecken dann (teils kommentierende) Artikel von Ehemaligen der "Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina". Diese gehören zwar auch unterschiedlichen Disziplinen an, doch die Fragestellung, welche ihrer Arbeitsgruppe "Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften", deren Abschlussbericht der Sammelband darstellt, zugrunde liegt, ist eine philosophisch-sozial- beziehungsweise kulturwissenschaftliche - denn schließlich lässt sich zur "Deutungsmacht" mit etwa genuin zoologischen Mitteln nichts sagen.

Es wird nun im Band zuerst die gegenwärtige Situation im Widerstreit der (Geltungs-)Ansprüche von sciences und humanities 'bloß' dargestellt. Das Augenmerk ist dabei gerichtet auf die ("selbstverständlich"?) affirmative Rezeption biowissenschaftlicher Deutungsangebote in sowohl anderen Disziplinen als auch dem lebensweltlichen Bereich. Inwiefern gelten jene als "letzte Erklärungen, die nicht mehr hinterfragt werden" (können)? Christoph Halbig bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: "Dass etwa der Mensch ein Container egoistischer Gene ist, bildet nicht nur ein naturwissenschaftliches Theorem, sondern ist längst in das Selbstverständnis des manifest image 'eingesickert'. So bilden die Verhaltensweisen (meist frei phantasierter) Vorfahren im Neandertal einen mittlerweile selbstverständlichen Bestandteil der Rechtfertigungsstrategie von Talkshowgästen." Die Autoren scheuen entsprechend in der Folge auch nicht davor zurück, mitunter harsche Kritik zu üben, wenn sie einige reduktionistische Naturalisierungsargumente als überzogen zurückweisen; insbesondere die Beiträge von Martin Korte und Doris Kolesch sind hier zu nennen.

Hinreichend Angriffsfläche bieten die Thesen von Singer und Spitzer allemal: Von beiden kommt wieder nur der altbekannte naiv-reduktionistische Sermon, der von Wissenschafts- und Erkenntnistheoretikern schon seit Jahren zerpflückt wird. Auf den ersten Blick belegt allein schon Singers Insistieren die Gültigkeit seiner Thesen: In seinem Gehirn hat sich offensichtlich eine Überzeugung verfestigt, der er - als 'Sklave' seiner neuronalen 'Verdrahtung' - schlichtweg ausgeliefert ist, insofern "der Gedanke neuronalen Prozessen nachgängig" sei. In den Gehirnen anderer Personen können sich hingegen aufgrund diverser Ursachen mitunter davon gänzlich verschiedene Überzeugungen manifestiert haben. Leider führt diese Sichtweise beziehungsweise Argumentation sich selbst ad absurdum, da sie schließlich die Möglichkeit von verlässlich personeninvariant gültiger Erkenntnis generell untergräbt. Es erübrigte sich dann eben - auch für Singer selbst -, überhaupt (Neuro-)Wissenschaft zu betreiben.

Auf Formulierungen wie "Wir bestrafen und belohnen das Kind in der Absicht, seine Hirnarchitektur so zu prägen, dass es später Entscheidungen treffen wird, die mit den sozialen Normen der Gesellschaft, in welche es integriert werden soll, konform sind" (Singer), oder auch: "Lernen zu verstehen heißt, das Gehirn zu verstehen" (Spitzer), entgegnet Meredith F. Small so simpel wie passend: "How does Wolf Singer run his own life?" Denn es wäre doch wohl interessant zu sehen, ob jemand, der eine "fiktive Argumentationslinie" kritisiert, welche "einen nicht sauber definierten Begriff von Freiheit mit kaum bestimmbarer Schuld in Verbindung bringt, die dann zur Bemessung des Strafmaßes herangezogen wird", nicht doch auch emotional reagierte, wenn ihm etwa das Auto gestohlen würde.

Die beiden angeführten Thesen implizieren außerdem, dass gezielte Erziehung eigentlich erst durch die Hirnforschung (das heißt das Wissen um Rolle und Funktion des Gehirns für das Denken und Verhalten) möglich wurde. Es braucht nun nicht einmal die überzeugenden kulturhistorischen Darlegungen Koleschs, um die dieser Ansicht innewohnende Absurdität und Ignoranz zu veranschaulichen; auch Kortes Polemik, dass es wohl kaum dezidierter Hirnforschung bedürfe um zu folgern, "dass man Kindern nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf hauen sollte", wird wohl dem Zweck genügen können.

Singers und Spitzers Ausführungen sind in ihrer Abstraktheit und vorgeblichen interdisziplinären Reichweite zwar publikumswirksam, aber doch sehr weit entfernt vom Alltagsgeschehen und den konkreten, üblicherweise viel zurückhaltenderen Schlussfolgerungen der empirischen biowissenschaftlichen Forschung wie auch deren Anwendungen. Während Fischer im Gegensatz dazu dankenswerterweise den Bezug zur ('tatsächlichen') Primatenforschung wiederherstellt, umreißt Andreas Hüttemann sehr genau das Erklärungsvermögen der evolutionären Psychologie: Wortwörtlich verweist er sie eben in ihre generellen wie faktischen Schranken. Felix Thiele schließlich untersucht den Bedarf nach einer sowie die Möglichkeiten für eine Reform der Rechtsprechung. Eine solche wird zwar etwa von Singer seit Jahren gefordert, Thiele weist hingegen nach, dass die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Forschung dafür weder Anlass noch Grundlage sein können.

Gerade anhand der Artikel von Kolesch und Korte lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Muster der Argumentation in diesem Themenfeld aufzeigen. Korte stellt diverse Behauptungen 'bloß' auf der empirisch-biologischen Ebene hinsichtlich Belegtheit und Aussagekraft in Frage: "Ist dies gesichert?" beziehungsweise "Was folgt daraus?" Kolesch hingegen argumentiert (teils faktisch, teils formal), dass viele Aussagen sogar falsch seien. So liege etwa den bekannten reduktionistischen Positionen "ein völlig unreflektierter, den Autoren selbst eventuell gar nicht bewusster, moderner Individualismus zu Grunde, wie er sich in westlichen Industriegesellschaften erst in den letzten circa 150 Jahren durchgesetzt" habe. Leider fehlen in ihrem Artikel an zentraler Stelle Belege, etwa die "zahlreichen guten Gründe", für die Zurückweisung angeblich überkommener Kommunikationsmodelle.

Erstere Einspruchsstrategie führt nun meist dazu, dass die Kritisierten einfach unbeirrt weitere Daten sammeln oder aber sogar nur auf zukünftig zu erwartende Erfolge verweisen. Einwände der zweiten Art werden hingegen oftmals schlicht ignoriert, bisweilen, indem explizit die Einschlägigkeit der Form des Einwandes bestritten wird. So schließt allein schon das Selbstverständnis vieler kritisierter Naturwissenschaftler es aus, nicht-naturwissenschaftliche, nicht-empirische (sondern eben formale) Einwände gelten zu lassen: "Collect some data!" Genau eine solche petitio principii demonstrierte Singer kürzlich, als er in einem "FAZ"-Artikel einen ihn mit wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Mitteln - also formal - kritisierenden Philosophen aufforderte, sich doch einmal bei ihm einer Hirnaktivitätsuntersuchung zu unterziehen.

Einen besonderen, nämlich geradezu versöhnlichen Ton schlägt Baltes in seinem Plädoyer für einen "defensiven Imperialismus und die Tugend der Sprachlosigkeit" an. Auch er glaube zwar, "dass die gegenwärtige Forschung eher den Hirnforschern [selbst] nutzt als den Verhaltenswissenschaftlern". Insgesamt aber lässt seine Konzilianz die an sich ja moderate, gut begründbare Forderung nach gegenseitiger Akzeptanz - die den jeweiligen Forscher eben bisweilen zum Schweigen verpflichte - in die Nichtigkeit abrutschen. Dennett hingegen verteidigt in seinem Beitrag insbesondere sein eigenes Fach vor Übergriffen: "I wouldn't just ask the natural scientists, because [...] they would probably shoot from the hip and say something silly". Philosophie sei gerade die Methode, sehr verlockende epistemologische Fehler, die schon längst einmal begangen wurden, zu analysieren, um sie zukünftig zu vermeiden: "When you look at a neuroscientist being an amateur philosopher, they all reinvent the classics of philosophy, but they get second rate versions of it, and they are oblivious to the fact that there are real problems with these views."

Der brillante Artikel von Halbig wiederum expliziert den zentralen epistemologischen Einwand nach einer ausführlichen Herleitung in gebotener Schärfe: "Der Versuch einer Naturalisierung des Mentalen etwa scheint dadurch an seine Grenzen zu stoßen, dass Intentionalität konstitutiv auf die wechselseitigen Rationalitätsunterstellungen von Personen angewiesen ist, deren essentielle Normativität wiederum sich Naturalisierungsversuchen notwendig entzieht." Bedauerlicherweise findet dieser (schließlich durchaus nicht neue) Einwand bei den Kritisierten seit jeher einfach kein Gehör. Vielleicht aber liegt deren wortwörtliche Unverbesserlichkeit auch gar nicht in ihrer Wahrnehmung, sondern im Mentalen begründet: hat etwa ihre Ursache in Gehirnen, die durch eine Bratpfannenbehandlung beeinträchtigt wurden?


Titelbild

Andreas Hüttemann (Hg.): Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften.
mentis Verlag, Paderborn 2008.
210 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783897855342

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