Über die Wahrheit der Orte im Blick des Reisenden

Matthias Zschokke berichtet in seinem Buch "Auf Reisen" von Begegnungen mit Orten und Menschen. Die mitgenommenen Reiseführer schlägt er glücklicherweise nicht oft auf

Von Karen RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Reisende macht früher oder später dieselbe Erfahrung: Man hat sich vorher über den Ort seiner Wahl informiert, weiß etwas über seine Geschichte, über dessen Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten. Man hat vielleicht sogar eine Liste von demjenigen angelegt, was man unbedingt gesehen haben möchte, man hat eine Auswahl treffen müssen, denn Urlaubstage sind ein knappes Gut und die Möglichkeit, unbeschränkt viel Zeit zu haben, ist eine Seltenheit. Man hält einige Äußerlichkeiten für die heimische Kaffeetafel mit der Kamera fest. Man fährt schließlich wieder weg im vollen Bewusstsein, Ascona kennen gelernt zu haben oder Budapest. Doch schon beim Betrachten der wackligen Fotos der Fischerbastei stellt sich merkwürdiges Erstaunen ein: War ich jemals wirklich dort?

Matthias Zschokke versucht, den Städten und Landschaften, die er bereist, anders zu begegnen. Viele der in seinem neuem Buch versammelten Porträts sind zwischen 1999 und 2005 im Auftrag des Zürcher Tages-Anzeigers entstanden. Obwohl überarbeitet und teilweise verändert, merkt man diesen Passagen noch ihr ursprüngliches Medium an. Viel ist von den verschiedenen Hotels und Restaurants die Rede, manchmal zu viel: Die penible Auflistung jedes einzelnen Menüplans wirkt schnell ermüdend. Wenn Zschokke sich jedoch dem Unscheinbaren und Beiläufigen hinter und neben den bestaunenswerten Fassaden zuwendet, entstehen liebevolle Beschreibungen der fremden Alltäglichkeit. Auch Zschokke ist von den Tempeln und Grabstätten in Petra begeistert, dennoch nimmt er von diesem Ort etwas anderes mit: die alles durchdringende Stille auf den Gipfeln über der Felsenstadt.

In seinem Buch, das den Untertitel "Erzählung" trägt, setzt er die unterschiedlichsten Orte nebeneinander - megapolische Großstädte und verträumte Schweizer Almen, Orient und Okzident, neue und alte Welt. Welten, die nicht verschiedener sein können und die scheinbar nur eines gemeinsam haben: Der Autor hat sie bereist, er setzt sie in einen Zusammenhang durch die Tatsache, dass er anwesend war. Aber gerade weil er sich so selbstverständlich in allen Welten bewegt, bekommt man den Eindruck, dass sie bei aller Verschiedenheit gar nicht so unterschiedlich sein können. Ist das Verbindende größer als das Trennende? Zschokke gestaltet diese Zusammenhänge sehr bewusst. Er beendet einen Text mit der Beschreibung der Metropolitan Opera in New York und beginnt den neuen mit dem Besuch des Budapester Opernhauses.

Die stärksten Passagen sind Zschokkes Beschreibungen der jordanischen Hauptstadt Amman. Vorbehaltlos lässt er sich auf die Eigenheiten dieses Ortes ein, geht zu den westlichen Vorurteilen gegenüber dem nahen Osten auf Distanz. In seiner Art auf diese fremde Kultur zu zugehen, ähnelt Zschokkes Ton der großartigen Reiseerzählung "Die Stimmen von Marrakesch" von Elias Canetti. Zschokke will genauso wie Canetti etwas entdecken, nicht bestätigt bekommen. Immer wieder sucht er Kontakt mit Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen - einheimischen Passanten, Marktbudenbesitzern, Hotelangestellten oder Mitreisenden. Dabei gelingen ihm einfühlsame Porträts von Menschen, deren Identität ununterscheidbar mit ihrer Tätigkeit verschmolzen ist, wie die des Pfeifenmannes in einem Ammaner Kaffeehaus.

Zschokke bereist den Orient mit einer bemerkenswerten Offenheit: "Der Ausgewogenheit zuliebe müsste ich auch die Schattenseiten aufzählen [...] Dazu habe ich aber keine Lust. Schlechtes zu denken, tötet das Vergnügen und verdirbt die Laune." Man könnte dem Autor eine naive oder undifferenzierte Perspektive vorwerfen, doch gerade Zschokkes teilnehmendes Beobachten zeigt dem Leser ein ganz anderes Gesicht dieses so fremden Arabiens. Eines, das nichts mit der Achse des Bösen zu tun hat, wie es uns tagtäglich aus den Medien gezeigt wird.

Zschokkes Fazit über das Reisen als Lebensform ist die Erkenntnis, dass der Reisende zu guter Letzt immer ein Fremder bleibt und das Ziel seiner Reise ein Geheimnis: "Und wieder ist ein Tag vorbei, und wieder kam mir alles merkwürdig vertraut vor, ein Déjà-vu, gleichzeitig aber so fremd, so unbegreiflich, daß ich immer das Empfinden habe, nur Hüllen gesehen zu haben, die Wirklichkeit nur am äußersten Zipfel zu fassen bekommen zu haben, und also immer mit dem Gefühl ins Bett steige, ich würde permanent das Wichtigste verpassen."


Titelbild

Matthias Zschokke: Auf Reisen. Erzählung.
Ammann Verlag, Zürich 2008.
230 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783250601272

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