Der einsame Weltensammler

Natalie Zemon Davis beschreibt Leben und Werk des muslimisch-christlichen Konvertiten, Gelehrten und Reisenden Leo Africanus

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Grenzgänger in einer Schwellenepoche hat sich die US-amerikanische Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin Natalie Zemon Davis als "Helden" ihres letzten, 2006 unter dem Titel "Trickster Travels. A Sixteenth-Century Muslim Between Worlds" erschienenen Buches gewählt, das der Klaus Wagenbach Verlag vor kurzem unter dem Titel "Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident" auf Deutsch vorgelegt hat.

Dabei ist sie nicht die erste Historikerin, die dem hierzulande wenig bekannten andalusischen Reisenden, Gelehrten und Diplomaten eine längere Untersuchung widmet. In ihrer Einleitung verweist die Autorin selbst nach der Dissertation "Le Maroc dans les premierès années du 16e siècle. Tableau géographique d'après Léon l'Africain" (Algier 1906) des französischen Orientalisten Louis Massignon (1883-1962) auf zwei neuere Arbeiten, die sich mit der - historisch nur mit wenigen Angaben nachweisbaren - Figur des muslimisch-christlichen Konvertiten auseinandersetzen. Da wäre zum einen die marokkanische Wissenschaftlerin Oumelbanine Zhiri mit ihrem Buch "L'Afrique au miroir de l'Europe. Fortunes de Jean Léon l'Africain à la Renaissance" (Genf 1991). Die zweite Studie, die Zemon Davis ebenfalls ausdrücklich lobt, stammt von Daniel Rauchenberger, einem deutschen Diplomaten und Marokkokenner, und trägt den Titel "Johannes Leo der Afrikaner. Seine Beschreibung des Raumes zwischen Nil und Niger nach dem Urtext" (Wiesbaden 1999). Dass das Interesse an der Figur des Kultur-Grenzgängers zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht ein rein geschichtswissenschaftliches ist, macht schließlich der Hinweis der Autorin auf den viel gelesenen Roman "Léon l'Africain" (Paris 1986) des im Libanon geborenen Schriftstellers Amin Maalouf deutlich.

Soweit ein grober Überblick über die Forschungsliteratur zu Leo Africanus. Doch wer ist dieser Mann, von dessen Leben und Wirken trotz intensiver Recherchen nicht allzu viel gesichert ist, der aber - vielleicht gerade deshalb - ein zunehmendes Interesse auf sich zieht? Betrachtet man seine Biografie, die Zemon Davis ausführlich in den ersten drei Kapiteln ihres Buches beschreibt, so mutet sie wie die Inhaltsangabe zu einem Abenteuerroman an: Geboren zwischen 1486 und 1488 als al-Hasan ibn Muhammad ibn Ahmad al-Wazzan im multikulturellen Granada, zieht seine begüterte Familie 1492 nach der Eroberung der südlichen Spitze der iberischen Halbinsel durch die Kastilier wie andere muslimische und jüdische Flüchtlinge in den Maghreb. In Fes besucht der Sohn eines wohl gelegentlich als Eichmeisters (darauf deutet zumindest der Name "al-Wazzan" hin) und Diplomat tätigen Kaufmanns die Nachbarschaftsschule, bis er in die "madrasa", die Moscheeschule, aufgenommen wird. Dort erhält er unter anderem von zwei bedeutenden Dozenten, nämlich dem Universalgelehrten Ibn Ghazil und dem Rechtsexperten Ahmad al-Wansharisi, Unterricht in den Fächern Grammatik, Rhetorik, Glaubenslehre und "figh" (der sunnitischen Gesetzes- und Rechtslehre) - letzteres gemäß der im Maghreb vorherrschenden malekitischen Rechtsschule.

Ähnlich wie Marco Polo fängt al-Wazzan schon früh an zu reisen. Er begleitet seinen Vater oder Onkel auf ihren Handelstouren und diplomatischen Missionen. So unternimmt er mit den beiden im Auftrag von Muhammad al-Burtughali, dem damaligen Sultan von Fez, eine Reise ins Songhai-Reich südlich der Sahara, um die kommerziellen, politischen und religiösen Verhältnisse in Timbuktu und Gao auszukundschaften. Dabei erwirbt er durch die vielfältigen und weit reichenden Kontakte der Familie schon früh Grundkenntnisse in arabischen Dialekten und fremden Sprachen, möglicherweise bereits in Andalusien ein Basiswissen im Spanischen und Italienischen. Jedenfalls zeigt bereits die Darstellung der Kindheit und Jugend von al-Wazzan, so wie sie Zemon Davis vornimmt, einen hohen Grad an Mobilität und Multikulturalität, an Toleranz und Austausch von Waren, aber auch Wissensgut - und das nicht nur im europäisch-mediterranen, sondern auch im innerafrikanischen Raum.

Die aufgrund der politischen und wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Umbrüche, primär wegen der gleichzeitig regen kaufmännischen Beziehungen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen den christlichen und muslimischen Mächten in Europa, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum durchlässig gewordenen Barrieren innerhalb und zwischen beiden Seiten macht sich der junge Mann zu Nutze. So wendet er - neugierig und offen wie er ist - die bereits vorhandene große Lebenserfahrung, das vielseitige Wissen und die Mehrsprachigkeit in unterschiedlichen Funktionen an - nicht nur in der Welt der Kaufleute und Politiker, sondern auch in der der einfachen Menschen in Stadt und Land. Und schon bald wird er allein auf verschiedene Missionen geschickt. 1513 reist er nach Kairo, wo er - wenige Jahre vor der Eroberung durch die Osmanen - die Stimmungen und Strömungen am Sultanshof ausspähen soll. Exkursionen in die Gegend des heutigen Tschad und Sudan folgen. Alles in allem ein faszinierendes, wenngleich um 1500 kein ungewöhnliches Leben für einen nordafrikanischen Reisenden, Gelehrten und Diplomaten.

Einen Wendepunkt markiert jedoch der Sommer 1518, als al-Wazzan auf der Rückfahrt von Istanbul nach Tunis von christlichen Seeräubern gefangen genommen wird. Schnell erkennen die Korsaren den Wert des Gesandten und übergeben ihn in Rom den päpstlichen Beamten. Papst Leo X. interessiert sich für den Muslim, der dabei das Beste aus der Situation zu machen gewillt ist. Während seines einjährigen Aufenthaltes in der Engelsburg verbessert er seine Sprachkenntnisse im Italienischen, lernt Latein und erhält Zugang zu verschiedenen Bibliotheken. Im Gegenzug erwartet die Kurie von ihm wichtige Informationen über die islamische Welt, speziell über die Aktivitäten und Pläne der Osmanen, die die von diversen politischen und religiösen Grabenkämpfen bedrohte Einheit des christlichen Europas in den Augen des Papstes für sich zu Nutzen bestrebt sind. Ferner gehört es wahrscheinlich mit zu den Bedingungen einer wohlwollenden Behandlung des Fremden, dass sich dieser zum christlichen Glauben bekennt und konvertiert, was schließlich 1520 im Beisein von Leo X. und anderer bedeutender Taufpaten erfolgt.

Bei der Frage, weshalb der nun Giovanni Leone genannte nicht die nächstbeste Gelegenheit zur Flucht ergreift, hält es die Autorin für wahrscheinlich, dass die ungeheure Neugier des Gelehrten, seine Hoffnung, sich neue Wissensquellen zu erschließen und dadurch seinen Horizont zu erweitern, mit entscheidende Gründe dafür sind, warum er in Rom bleibt: "Man denke auch an Yuhanna al-Asads [d.i. Giovanni Leones] Umgang in Italien. Soweit wir wissen, diente er folgenden Herren: Papst Leo X., Kardinal Egidio da Viterbo, Fürst Alberto Pio von Carpi. Weitere Personen, denen er möglicherweise Dienste leistete, waren der vatikanische Bibliothekar Girolamo Aleandro und der päpstliche Kanzler Kardinal Giulio de' Medici, der später selbst Papst wurde. Unter den italienischen Humanisten, die mit ihm, wenn auch nur kurzfristig verkehrten, befanden sich Angelo Colocci, Paolo Giovio und Pierio Valeriano. Die gelehrten Ausländer, mit denen er die unbefangensten und freundschaftlichsten Beziehungen pflegte, waren der maronitische Christ Elias bar Abraham und die Juden Elia Levita und Jacob Mantino. In diesen privilegierten Kreisen hörte er viele Sprachen - Latein, Arabisch, Syrisch, Hebräisch, Jiddisch, Italienisch und Spanisch - und die Übersetzung von Wörtern, Sätzen, Ideen und Gedanken war ständiges Thema."

Einen anderen bedeutenden Grund für Leo Africanus, vorläufig nicht heimzukehren, liefert Zemon Davis noch nach: "Der Faqih [d.i. der Gelehrte], der in Nordafrika bis dahin nicht als große Autorität gegolten hatte, wurde in Italien ein gesuchter Gelehrter und schließlich ein Schriftsteller und Experte von Rang. Hier war er einzigartig. Und obwohl sich die Macht in der Hand der christlichen Elite befand, gab es in dieser vielsprachigen Welt in den Jahren um 1520 noch immer Raum für nicht-christliche Themen." So beteiligt sich Leo Africanus an einem von Jacob Mantino, einem jüdischen Juwelier und gelehrten Übersetzer, angeregten arabisch-hebräisch-lateinischen Wörterbuch, überarbeitet und kommentiert die arabische Transliteration und die lateinische Übersetzung des Korans, die Egidio aus Spanien mitgebracht hat. Schließlich verfasst er selbst einige Schriften - beispielsweise über berühmte Männer bei den Arabern und den Juden. Sein bedeutendstes Werk ist jedoch das "Buch der Kosmographie und Geographie Afrikas", das auf den Eindrücken und Erfahrungen beruht, die er auf seinen zahlreichen Reisen auf dem "schwarzen Kontinent" gesammelt hat. Seine Veröffentlichung erlebt der Autor allerdings nicht mehr. Erst 1554 erscheint der von Giovanni Battista Ramusio überarbeitete Text unter dem Titel "La Descrittione dell'Africa" in Venedig.

Den Großteil ihrer Monografie verwendet die Autorin schließlich darauf, das Afrika-Buch näher zu beleuchten und dabei zu untersuchen, worüber der Autor berichtet und wie er das Thematisierte präsentiert. Giovanni Leone, so stellt sie fest, müsse stets vorsichtig sein, weder seine neuen Herren noch seine ehemaligen Glaubensbrüder zu verletzen: "In Yuhanna al-Asads ,Kosmographie und Geographie Afrikas' gibt es ein nicht unproblematisches Oszillieren, ein Hin und Her zwischen seiner Identität als Muslim und der Identität als christlicher Konvertit. Hier kommt sein inneres Spannungsverhältnis zu seinen imaginierten Lesern, christlichen und muslimischen, am schärfsten zum Ausdruck. Sein literarischer Kunstgriff der Hila, sein Einsatz ,einfallsreicher Mittel, um sich aus einer schwierigen Lage zu befreien', war komplexer Natur. Er schrieb über beide Religionen verhältnismäßig unparteiisch, was zu seiner Zeit an sich schon ungewöhnlich war. Außerdem verfasste er einen Text, der einige muslimische Züge hatte und Wertschätzung für den Islam erkennen ließ, aber dennoch den islamischen Glauben und dessen Rhetorik nicht rundum zur Entfaltung brachte, sondern auch anderen Betrachtungsweisen Raum gab".

Leo Africanus muss lavieren - zumal er, wie die Autorin betont, nach seinem Übertritt zum Christentum an seinem muslimischen Glauben fest- und sich die Möglichkeit einer Rückkehr in seine nordafrikanische Heimat offen hält. Wahrscheinlich ist, dass der "Schelmenvogel", wie ihn Zemon Davis einmal nennt, während der "Sacco di Roma", also um 1527, als deutsche Landsknechte und spanische Söldner die Stadt plündern, Italien in Richtung Süden verlässt. Hiernach verlieren sich seine Spuren. Es findet sich zwar noch der Hinweis, dass er bis 1532 in Tunis gelebt haben soll. Danach aber verschwindet dieser frühneuzeitliche, ostwestliche Weltensammler aus den Chroniken. Was bleibt, ist sein Afrika-Buch, das nach seinem Erscheinen die um 1530 nach wie vor vorherrschende fantastische Vorstellung der Europäer von dem südlichen Kontinent relativiert, indem er ihr eine realistische, weil detailreiche Darstellung der Völker, ihrer Sitten und Gebräuche, Kulturen und Religionen vermittelt. Dabei verweise das Werk, so betont die Autorin, auf den Islam als dem einheitsstiftenden Faktor, den der Reisende an fast allen Orten vorgefunden habe, auch wenn er in seinen Augen bisweilen schlecht ausgeübt worden wäre.

Anhand der Darstellung von Leben und Werk von al-Hasan ibn Muhammad ibn Ahmad al-Wazzan alias Giovanni Leone zeigt die Historikerin Natalie Zemon Davis die vielfältigen Möglichkeiten auf, die einem neugierigen und lerneifrigen Gelehrten aus dem zwischen dem christlichen Europa und dem muslimischen Nordafrika heftig umkämpften, aber dennoch von hoher Mobilität und Multikulturalität zeugenden Mittelmeerraum während der Schwellenepoche um 1500 zur Verfügung stehen, um sich ein hohes Maß an Wissen anzueignen und auch um sich einen Namen in der Welt der Gelehrten zu machen. Gleichzeitig macht die Autorin aber auch auf die Zugeständnisse aufmerksam, die der Fremde zu machen hat, um in der anderen Umgebung angenommen zu werden. Im Falle des andalusischen Reisenden und Diplomaten ist es der Übertritt zum Christentum, den er vollziehen muss, um das Entrebillet zu der Gemeinschaft der europäischen Gelehrten zu erhalten - für die er aber trotz aller Anerkennung stets ein Außenseiter bleibt.

Ihre Biografie, der ein umfangreicher Anhang mit Anmerkungen und einer Bibliografie folgt, beendet die Autorin schließlich mit einem Vergleich zwischen Leo Africanus und dem französischen Schriftsteller François Rabelais, der sich in den 1530er-Jahren mehrere Male in Rom aufhält: "Die zwei Männer glichen einander darin, dass sie zwischen den unterschiedlichen Kulturen Brücken bauten und Elemente erkannten, die ihnen gemeinsam waren". Zemon Davis' hypothetische Frage, was geschehen wäre, wenn sich beide dort getroffen und ausgetauscht hätten, kann dabei letztlich für die gesamte Darstellung von Leben und Werk des muslimisch-christlichen Konvertiten gelten: Denn so spannend sich die abenteuerreiche Biografie von al-Wazzan auch liest, sie fußt fast ausschließlich auf den spärlichen Informationen, die der frühneuzeitliche Weltenwanderer in seinem Afrika-Buch von sich selbst gibt. Damit stehen der Autorin - zumindest, was Yuhanna al-Asads Vita betrifft - Deutungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, die es dem Rezipienten ermöglichen, die biografischen Abschnitte ihres Werks auch als Versuch einer romanhaften Annäherung zu lesen.


Titelbild

Natalie Zemon Davis: Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident.
Übersetzt aus dem Italienischen von Gennaro Ghiradelli.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.
400 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783803136275

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