Intellektueller Grenzgänger

Zum Tod von Robert Minder

Von Uwe SchweikertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Schweikert

Vorbemerkung der Redaktion: Der Artikel erschien am 13. September 1980 in der "Frankfurter Rundschau". Wir danken dem Verfasser für die Genehmigung zur Nachpublikation.

Der französische Germanist Robert Minder, der am 10. September auf der Fahrt nach Südfrankreich im D-Zug starb, war der vielleicht letzte Vertreter seines Fachs, der weit über die engeren akademischen Kreise hinaus Anerkennung und Leser gefunden hat. 1902 im elsässischen, damals deutschen Wasselnheim, dem heutigen Wasselonne geboren (nicht weit entfernt von Zabern, wo 1913 der preußische Militärstaat sich von seiner brutalsten Seite gezeigt hatte), wuchs Robert Minder als intellektueller Grenzgänger zwischen den politischen und kulturellen Fronten Deutschlands und Frankreichs auf. Die Jugend- und Schulzeit verbrachte er in Straßburg. Nach dem Studium in Paris, nach Professuren in der Provinz, seit 1951 schließlich an der Sorbonne, erhielt er 1957 einen persönlichen Lehrstuhl für Deutsche Literatur und Kulturgeschichte am Pariser Collège de France, der universitären Elite-Akademie Frankreichs, den er bis 1974 innehatte.

Ein geistiger Bürger beider Nationen und dickköpfiger Elsässer obendrein ist Robert Minder bis zu seinem Tod geblieben. In beiden Sprachen und Literaturen gleichermaßen zu Hause, vermischten sich in seiner Person, in seinem Werk aufs wirksamste die Vorzüge der einander so lange feindlich gesonnenen Völker: aufklärerische Helle und Urbanität mit dem grüblerischen Blick der Introspektion und des Gefühls. Schon in seiner Jugend, so urteilte er selbst, habe er "Literatur als Komplizin seiner innersten Träume empfunden und sie zugleich als Trägerin kollektiver Leitbilder sehen gelernt".

Robert Minder promovierte über "Die religiöse Entwicklung von Karl Philipp Moritz aufgrund seiner autobiographischen Schriften" (unter dem Titel "Glaube, Skepsis und Rationalismus" als Suhrkamp-Taschenbuch-Wissenschaft wieder aufgelegt); er habilitierte sich mit einem in Deutschland bis heute nicht rezipierten, großen französischsprachigen Buch über Ludwig Tieck. In seinen auch sprachlich geschliffenen Essays und Porträts, die gleichermaßen der deutschen wie der französischen Literatur gelten (unter anderem über Diderot, Hebel, Jean Paul, Hölderlin, Nerval, Fontane, Brecht und Döblin), unternahm er es, lange bevor man hierzulande das Wort Literatur-Soziologie auch nur zu buchstabieren imstande war, die Literatur im "Netz der sozialen Verbindlichkeiten" zu betrachten, "Literatur an der Wirklichkeit zu messen, aber auch Wirklichkeit an der Literatur". Er lehrte Literatur gegen den Strich, gegen die gedankenlose Schlamperei einer falsch verstandenen Tradition zu lesen - Sozial- und Kulturgeschichte, Biographie und psychoanalytische Deutung schließen bei ihm zu einem Panorama, zur "hintersinnigen Wahrheit" der Literatur zusammen.

Minders wichtige Aufsätze liegen auf deutsch in drei Sammlungen vor ("Kultur und Literatur·in Deutschland und Frankreich", 1962; "Dichter in der Gesellschaft", 1966; "Wozu Literatur?", 1971), alle im Insel- beziehungsweise Suhrkamp-Verlag erschienen und inzwischen auch als Taschenbuch-Ausgaben erhältlich.

Vor knapp drei Wochen, am 23. August, seinem 78. Geburtstag, hatte Robert Minder mir noch geschrieben, wie müde er sei, die Last des Alters. Unser letztes Telefongespräch, am vergangenen Freitag, schloß er, wie immer, mit dem melodischen "Adieu" seiner leichten, hohen Stimme. Nun ist er, auf der Fahrt von Gunsbach, dem Geburtsort Albert Schweitzers, für dessen Stiftung er sich in den letzten Jahren seines Lebens unermüdlich eingesetzt hatte, nach Südfrankreich, wo er ein Ferienhaus besaß, gestorben. Die letzte Fahrt, die Fahrt in den Tod - Adieu. À dieu? Wie einsam mag er, der doch so viele Menschen kannte, liebte, sah, gewesen sein, wie einsam wird er gestorben sein?

Als ich Robert Minder im Frühsommer 1974 das erste Mal in Paris besuchte, in seinem Dienstzimmer im prunkvollen Gebäude des Collège de France - er hatte eben seine Professur niedergelegt, war beim Ausräumen seiner Bücher, die meisten Regale schon leer -, stand er auf einer hohen Leiter, Zeitschriftenbände in der Hand. Sein Aussehen - klein, zart, gebrechlich, distanzierte Höflichkeit - wollte zunächst so gar nicht zu dem Bild passen, das ich mir, als Student schon, aus seinen Büchern und Aufsätzen gemacht hatte. Scharfsinnig und wortmächtig, unbestechlich und doch leidenschaftlich werbend, kein blasser Stubengelehrter, sondern ein flammend engagierter Citoyen aus dem Geist der französischen Aufklärung: so hatte ich mir ihn vorgestellt.

Aber es war ja nur der Körper, der den Eindruck Lügen strafte. Ein aufmerksamer Gastgeber (später, in Gunsbach, sollte er uns gar im Taxi am Colmarer Bahnhof abholen), kümmerte er sich rührend und besorgt um alles, was man in Paris anzuschauen hätte, fuhr mit dem Finger den mitgebrachten Stadtplan entlang. Er hatte seinen letzten Assistenten, einen Maoisten und Nietzscheaner (welcher deutsche Ordinarius seiner Generation wäre solcher Toleranz fähig gewesen?) gebeten, uns einen Tag mit dem Auto die Stadt zu zeigen.

Abends dann eine Einladung in seine Wohnung in einem der alten, großbürgerlichen Häuser des 16. Arrondissements: zur Begrüßung Aperitif, auf einem Tablett gereicht, eine kleine Tafel, ausgesuchte Höflichkeit, ohne doch steif oder gar reaktionär zu wirken, schon im Gang Bücher bis zur Decke, im Salon auf dem Flügel ein Abguß der Totenmaske Beethovens - ich erinnerte mich, daß er als 17jähriger, noch während der Schulzeit, Klavierstunden bei Albert Schweitzer erhalten hatte, eine Begegnung, die ihn durchs Leben leiten sollte.

Später haben wir uns ein paarmal, viel zu selten - aber der Erinnerung ist alles ein Zuspät -, wiedergesehen, in Stuttgart, in Gunsbach; zuletzt in Tübingen, stummes Einverständnis beim Spaziergang durch die dichtbelaubten Neckar-Anlagen, den Hölderlin-Turm, möwenumschwirrt, im Blick: "Und immer / ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht."

Wie alle Menschen, die die Schale der Eingebundenheit in sich selbst durchstoßen haben, war er nicht auf einen Nenner zu bringen. Sein Geist, sein Herz blieben bis zuletzt hellwach, jugendlich, aber auch verletzbar, streitsam. Ich habe mich oft gefragt - denn er war nie vergeßlich, stets aufgeschlossen und neugierig, pflegte die privaten Kontakte, seine privaten Zuwendungen nicht weniger intensiv als seine öffentlichen Verpflichtungen -, wie er bei seinem Alter, seiner labilen Gesundheit das enorme Pensum, das er sich zumutete, auferlegte, noch durchhalten konnte.

Er war begeisterungsfähig, las, kommentierte alles, was ich ihm schickte. Als ein wirklicher Homme des Lettres, wie man ihn aus dem Zeitalter der Aufklärung kennt, wußte er über Politik, Musik, Malerei, Philosophie, aber auch Psychoanalyse so gut Bescheid wie über die Literatur, die doch sein berufliches, sein eigentliches Metier war.

Unvoreingenommen verfolgte er, was die Jugend schrieb. Uneitel, ohne den geringsten Anflug von Eifersucht, Neid oder gar Mißgunst ließ er andere gelten, kritisierte nur scharf jede Nachlässigkeit, warnte vor Ungeduld, vor Verhärtungen. Ich erinnere mich noch deutlich seiner Betroffenheit, seiner Erschütterung über Bernward Vespers "Reise", die er sofort noch ihrem Erscheinen las.

Geschrieben, veröffentlicht hat er in den letzten Jahren nur noch wenig. Ein biografisch-autobiografischer Essay über Albert Schweitzer, von dem er mir die Anfangskapitel einmal zu lesen gab, bei aller Verehrung durchaus skeptisch-distanziert im Blick, blieb wohl unvollendet. Ein lange geplantes Buch über seine persönlichen Begegnungen, seine Gespräche mit Alfred Döblin, scheiterte am böswilligen Einspruch der Erben, die ihm die Benutzung, Zitierung von Döblins Briefen an ihn verboten. Sein Berliner Akademie-Vortrag zu Döblins 100. Geburtstag im Sommer 1978 trug ihm gar eine Verleumdungsklage ein - ein in Wahrheit überflüssiger, anmaßender, ja skandalöser Prozeß (der nun durch seinen Tod entschieden ist, zu wessen Gunsten wird die Zeit erweisen). Seit jenen Tagen klangen seine Briefe immer pessimistischer. Wohl mehr noch, als er es selbst sich eingestehen wollte, hatte ihn dies schmutzige Schauspiel, dieses Hervorzerren und Rechtfertigen einer der großen, dauernden Freundschaften seines Lebens vor den Richtertisch, in seinem Innersten, im Herzen getroffen.

Was bleibt? Die Frage kommt wohl zu früh, geht auch zu nahe. Jedesmal, wenn ich dieses schreibe, die Vergangenheitsform wähle, stockt mir die Hand, als sei dies eine Einflüsterung, als sei es gar nicht wahr. Es bleibt die lebendige, gelebte Verpflichtung, wie Robert Minder sie von Döblin erhielt, beschrieb: "Unbestechlichkeit des Blicks war ein Grundzug an ihm, Schärfe des Wahrheitsanspruchs sein Auftrag an den Freund."