Über Juden und Muslime in Deutschland

Das Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte bietet eine Fülle von Informationen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland versteht sich als Teil des Abendlandes und definiert sich seit dem 18. Jahrhundert als Ort der Moderne, der Wissenschaft, Vernunft und Aufklärung, wo Individuen ihre persönliche Freiheit in einer demokratischen Ordnung verwirklichen können. Damit hebt es sich ab vom Orient, der einer Kultur verpflichtet ist, die uns schwer verständlich und darum bedrohlich erscheint, einer Kultur, die zwar ihre eigene Weisheit hat, aber doch als despotisch und veraltet gilt und die darum der fortschrittlichen Wahrheit und den Idealen von Universalismus und Individualismus, nach Ansicht der meisten Deutschen, weichen sollte. Das moderne Abendland ermöglicht zwar auch den bei uns lebenden Muslimen individuelle Autonomie, untergräbt aber ihre traditionellen Lebensformen.

In dem kürzlich erschienenen, von José Brunner und Shai Lavi herausgegebenen Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte analysieren internationale Wissenschaftler die Präsenz von Muslimen und Juden in Deutschland mit all ihren juristischen, politischen und kulturellen Dimensionen und stellen Parallelen und Unterschiede der beiden Minderheiten in Vergangenheit und Gegenwart deutlich heraus. Sie zeigen, wie das Anderssein dieser beiden Gruppen in ihrem eigenen Verständnis sowie im Verständnis der deutschen Mehrheit immer wieder neu definiert wird, und in welches Verhältnis es zum Selbstverständnis von Deutschland als einer abendländischen Nation gesetzt wurde und wird. Immerhin wird die sich durchweg als aufgeklärt und modern verstehende Mehrheit durch die Anwesenheit von Menschen, die ihr fremd sind, gezwungen, sich mit deren Gebräuchen, Religionen und derem Selbstverständnis auseinanderzusetzen.

Die ersten Beiträge befassen sich mit dem Konflikt, der die Begegnung der jüdischen und muslimischen Minderheiten mit der Moderne kennzeichnet. Shmuel Noah Eisenstadt sieht das Verhältnis des deutschen Staates zur jüdischen Minderheit vor dem Holocaust und zur islamischen Minderheit heute als Teil eines andauernden Prozesses, in dem Deutschland sich als moderner und liberaler Nationalstaat konstituiert und rekonstituiert. Shulamit Volkov vergleicht in ihrer Studie zur Emanzipation der Juden in Deutschland die nationalliberale Forderung an die Juden, ihre kollektive Identität aufzugeben, um als vollwertige Mitglieder der deutschen Nation anerkannt zu werden, mit der Bereitschaft, andere Gruppenidentitäten anzuerkennen, sofern die jeweiligen korporatistischen Organe aufgelöst wurden. Dabei kristallisiert sich heraus, dass der Unterschied zwischen dem Zeitalter der Emanzipation und der Ära des Multikulturalismus offensichtlich bei weitem nicht so groß ist wie oft beschrieben wird.

Elimelech (Melech) Westreich wiederum schildert, wie besonnen orthodoxe Rabbiner auf die Moderne reagiert und Konflikte mit Herrschern und Gesetzen vermieden haben, indem sie sich mit wissenschaftlichen Wahrheiten differenziert auseinandersetzten, die Einfluss auf etablierte religiöse Praktiken haben konnten.

Bekanntlich siedelten Juden bereits in der Antike auf heutigem deutschen Gebiet. Dennoch galten sie im modernen Abendland, Deutschland eingeschlossen, lange Zeit als Fremde. Erst die Gründung des Deutschen Reiches 1871 machte sie zu gleichwertigen Bürgern. Dieses Recht konnten sie allerdings nur sechzig Jahre bis zum Aufstieg der Nazis genießen. Nach der Vernichtung der jüdischen Gemeinden Deutschlands im Holocaust hat die Mehrzahl der heute in Deutschland lebenden Juden unmittelbar nur wenig mit dieser Vergangenheit zu tun. Der größte Teil von ihnen stammt nämlich aus der ehemaligen Sowjetunion und wanderte erst in den 1990er-Jahren in Deutschland ein, nicht zuletzt deshalb, weil es ihnen in Russland, nach eigener Aussage, schlecht ergangen war. Der Zentralrat der Juden in Deutschland indes hatte gehofft, dass die russischen Juden mithelfen würden, die von den Nazis zerstörten jüdischen Gemeinden wieder aufzubauen. Diese Hoffnung erfüllte sich freilich nur selten.

Andere Autoren wie Aischa Ahmed und Ursula Wokoeck befassen sich mit dem Islam in Deutschland vor 1945 und berichten, wie sich Muslime im Deutschland der Vorkriegszeit darstellten und dargestellt wurden. Die seit den 1960er-Jahren in größerer Zahl nach Deutschland eingewanderten Muslime sollten sich zunächst als Gastarbeiter nur für kurze Zeit hier aufhalten. Sie wurden daher anfangs nicht eingebürgert. Auch ihre religiöse Identität wurde von der deutschen Umwelt kaum wahrgenommen. Möglichkeiten der Einbürgerung eröffneten sich für sie erst mit dem Ausländergesetz Anfang der 1990er-Jahre im Anschluss an die deutsche Wiedervereinigung, so dass seit der Staatsbürgerschaftsreform im Jahr 2000 die in Deutschland aufgewachsenen Muslime nicht mehr als Ausländer, sondern als potentielle Bundesbürger betrachtet werden können oder sogar müssen. Vielfältige Probleme hat das Zusammenleben mit Muslimen seither mit sich gebracht, die mit Stichworten wie Religionsunterricht in Koranschulen und an staatlichen Schulen, Kopftuch, Imamausbildung, die Rolle der Frauen und Mädchen, Zwangsheiraten, das Schächten und dergleichen mehr, hier lediglich kurz angedeutet werden können und auf die säkulare muslimische Feministinnen wie Necla Kelek, Seyran Ates und andere immer wieder aufmerksam machen.

Die Rolle des modernen Staates wird ebenfalls in mehreren Beiträgen untersucht. Durchweg bezieht der Staat gegenüber fremden Lebensstilen eine duale Position, aus der er heraus Freiheit und Disziplin offeriert. Bei der Religionsfreiheit der Muslime in Deutschland geht es - wie auch bei den Juden ein Jahrhundert zuvor - weniger um ein Glaubensrecht im Sinne eines persönlichen Bekenntnisses als vielmehr um die Regulierung alltäglicher Praktiken, die die westliche Welt prägen. Verschiedene Diskurse kommen in diesem Zusammenhang zur Sprache. Die einen erläutern, wie der Staat den Anspruch verteidigt, westlich, aufgeklärt und modern zu sein. Andere beleuchten die Reaktionen von Minderheiten auf die Begegnung mit der westlichen Moderne in Deutschland.

Mitglieder der jüdischen und muslimischen Minderheit, die heute in Deutschland leben, kommen hier gleichfalls zu Wort. Im Aufeinandertreffen von Minderheiten und Mehrheiten in Deutschland geht es auch immer um Konstruktionen von imaginären Identitäten im Spannungsfeld von Orient und Okzident, Morgenland und Abendland, Realität und Fiktion, die gefördert, aufrechterhalten und bereichert werden. Während sich deutsche Muslime gelegentlich mit Juden im Holocaust identifizieren, ist diese Identifizierung in den jüdischen Gemeinden Deutschlands durch die Einwanderung russischer Juden problematisch geworden. Denn die Realität dieser Gemeinden ist oft gekennzeichnet durch interne Ungleichheit, Konflikte und Spaltungen, Widersprüche zwischen der Definition des Juden durch das jüdische Religionsgesetz und der des Staates, Überalterung und weit verbreitete Arbeitslosigkeit und nicht durch eine imaginäre jüdische Einheit, die der staatlichen Einwanderungspolitik der 1990er-Jahre zugrunde lag.

In seiner Gesamtheit illustriert und analysiert das Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte auf vielfältige Weise, wie die Wechselbeziehungen zwischen Mehrheit und Minderheiten auf beiden Seiten ein vieldeutiges Selbstverständnis schaffen, und bietet einem geschichts- und kulturwissenschaftlich interessierten Publikum eine Fülle von Informationen und Denkansätzen - doch setzt es, da nur ein Teil der Aufsätze in deutscher Sprache abgefasst ist, gute englische Sprachkenntnisse voraus.


Titelbild

José Brunner / Shai Lavi (Hg.): Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte / Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
311 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783835304079

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch