Alfred Döblin und Robert Minder

Über eine Freundschaft

Von Manfred BeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Beyer

Die Freundschaft, die Alfred Döblin mit Robert Minder verband, kann als ein seltenes Faktum gelten. Dass ein sehr renommierter deutscher Exilschriftsteller mit einem um vieles jüngeren und noch am Anfang seiner akademischen Karriere stehenden französischen Germanisten bekannt wurde, bedurfte nur eines Anlasses; dass die daraus erwachsende denkwürdige Freundschaft beider Männer dann zwei Jahrzehnte andauern sollte - und wenn man die Zeit hinzunimmt, die der knapp fünfundzwanzig Jahre jüngere Minder den Freund überlebte und in der er nicht müde wurde, dessen großartiges Werk vor dem drohenden Vergessen zu bewahren, so sind gar vier Jahrzehnte ins Auge zu fassen - verlangt nach einer Erklärung. Sie soll im folgenden versucht werden.

Den Anstoß zur ersten persönlichen Begegnung zwischen dem im Pariser Exil lebenden Alfred Döblin und dem in Nancy lehrenden Robert Minder gibt dessen Aufsatz "Marxisme et psychanalyse chez Alfred Döblin. Apropos de son dernier roman: Pardon wird nicht gegeben", der im Mai 1937 in der "Revue de l'enseignement des langues vivantes" erschienen war und seit kurzem auch in deutsch vorliegt. Zwei Jahre zuvor bei Querido in Amsterdam veröffentlicht, hatte der Roman in der internationalen Presse kaum Aufmerksamkeit gefunden. Nur Klaus Manns Sammlung hatte eine etwas ausführlichere Würdigung gebracht. Minders zwölf Druckseiten langer Aufsatz war die erste Analyse von Gewicht, und sie sollte es auch für 25 Jahre bleiben. "Es ist doch eine merkwürdige Freude für einen Autor, sich so ernst betrachtet zu sehen", schrieb Döblin unter dem 8. Juni 1937 an Minder, "man schreibt die leisen und flüchtigen Dinge hin, die einem kommen und die man gerade erwischt, man haut so oft vorbei, und nun wird es da ausgebreitet, hat einen Grund, hat Beziehung nach vorn, rechts, links, merkwürdig. Ich kann Ihnen nur für Ihren eindringenden Blick und die Vorsicht, mit der Sie mit mir umgehen, danken. Darf ich Ihnen als Autor von innen einiges Material zu dem Buch geben?" (Zitat von Robert Minder: Begegnungen mit Alfred Döblin in Frankreich. In: TEXT + KRITIK. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Nr. 13/14. Alfred Döblin. Juni 1966, S.57.)

Dazu kam es im September 1937 in Döblins damaliger Pariser Wohnung, 5 Square Henri-Delormel, nahe der Place Denfert-Rocherau. Als Döblin - nach eigener Aussage - den Roman in sechs Monaten niederschrieb, wohnte die Familie noch in Maisons-Laffitte in einem kleinen Häuschen mit Garten. Paris hatte bei seiner Ankunft auf ihn, den Großstädter, furchtauslösend gewirkt. Die Stadt war für ihn zu sehr "die Fremde". Erst Ende 1934 hatte der Umzug nach Paris stattgefunden, der es dem Schriftsteller erlaubte, mit den jetzt zahlreich in der Stadt lebenden deutschen Exilanten in Kontakt zu treten, am Internationalen Kongress zur Verteidigung der Kultur teilzunehmen, sich im Schutzverband deutscher Schriftsteller und in der jüdischen Freilandbewegung zu engagieren. Zu seinen wichtigsten Gesprächspartnern gehörten Manes Sperber und Arthur Köstler, Hermann Kesten und Joseph Roth, auch Claire und Yvan Goll und Kurt Kersten. Man konnte seit 1935 sicher sein, Döblin in der Bibliotheque Nationale anzutreffen, über Atlanten gebeugt, am "Amazonas" arbeitend, später sich in Søren Kierkegaard und Johannes Tauler versenkend. Er traf dort einen anderen deutschen Exilanten: Walter Benjamin, der an seinem Passagenwerk und an seinem Baudelaire-Buch schrieb. Zwei deutsche jüdische Schriftsteller, die sich in der Bibliothek gegenübersaßen und nicht miteinander sprachen. Dabei hatte Benjamin "Berlin Alexanderplatz" eine vorzügliche Kritik gewidmet. Als er nach seiner Freilassung aus dem Lager Nevers im November 1939 aus Schutzgründen um Aufnahme in den deutschen PEN-Club im Exil nachsuchte, bestätigte Döblin lapidar, er sei "ein Mann, der seine Gedanken und seine Schreibweise" habe.

Minder fand Döblin im Herbst 1937 in einer relativ guten Verfassung vor. Das von kleinen Leuten bewohnte Viertel mochte den Romancier an Berlin erinnern. Seine Diskutier- und Streitlust war zurückgekehrt, und er genoss es, in seiner Wohnung oder in den Cafés im Quartier Latin über die politische Situation und die Probleme des Exils zu debattieren. Wer am Montparnasse über die Einrichtung der Welt räsoniert, sitzt mit Lenin, Leo Trotzki und anderen Weltverbesserern am Tisch.

Der französische Germanist hatte in seiner Untersuchung von "Pardon wird nicht gegeben" die Verbindung von Psycho- und Sozialanalyse ins Zentrum gerückt. Er hatte den Roman gelesen als eine Geschichte des Verrats und als einen Fall von Verdrängung, als eine Demaskierung jenes Führertyps, den die letzten Jahre in Deutschland und anderen europäischen Ländern hervorgebracht hatten. Der Einfluss von Alfred Adler und wohl auch von Ernst Kretschmer schien dem Kritiker stärker gewesen zu sein als der von Sigmund Freud, und die sozialökonomische Theorie von Karl Marx mochte eher schematisch angewandt worden sein. Minder machte keinen Hehl daraus, dass das Buch als erzählerische Leistung entschieden hinter den vorangegangenen Werken des Autors zurückblieb.

Die erste Begegnung beider Männer hat auf Minder starken Eindruck gemacht. Er habe einen feinen kultivierten Mann kennengelernt, berichtete er dem Freund Wolf Bergmann am 18. Oktober 1937 - durchaus nicht aggressiv, wie seine Romane hätten vermuten lassen. Schon ein Jahr später schrieb er, mit Alfred Döblin sehr befreundet zu sein und oft mit ihm zusammenzusitzen.

Was hatte Robert Minder auf diese Freundschaft zu dem knapp 25 Jahre älteren Alfred Döblin vorbereitet? Gebürtiger Elsässer, hatte er am protestantischen Jean-Sturm-Gymnasium in Strasbourg sein Abitur gemacht und von Albert Schweitzer Klavier- und Philosophieunterricht erhalten. Aus dem Schüler war bald ein Mitarbeiter, später ein Freund und Bewahrer des geistigen Erbes von Schweitzer geworden. Minder gehörte zu den ersten elsässischen Studenten, die nach dem Krieg wieder an der École Normale Supérieure aufgenommen wurden. Hier, in der rue d'Ulm, prägten zwei herausragende Persönlichkeiten seine geistige Entwicklung und seine Lebenshaltung: Lucien Herr, der sich in Frankreich als erster Intellektueller in der Dreyfus-Affäre engagierte und von großem geistigen Einfluss auf führende französische Sozialisten wie Jean Jaurès und Léon Blum wurde, und Charles Andler, auch er ein Sozialist, der von Pierre-Joseph Proudhon herkam und der sich den Verdienst erwarb, die Germanistik aus ihrer Einengung nur auf die Sprache und Literatur Deutschlands zu befreien und die politische und soziale Geschichte so gut wie die Kunst, die Philosophie und die Psychologie in den Horizont des Germanisten einzuschließen. Welch geistigen Zuschnitts diese Lehrer Minders waren, zu denen auch der große Germanist Henri Lichtenberger und Minders Vorgänger an der Sorbonne Edmond Vermeil zählten, hat er 1973 in seiner Abschiedsvorlesung vom Collège de France eindrucksvoll dargestellt.

Während seiner Studienjahre an der ENS und der Sorbonne gründete er zusammen mit dem späteren Philosophen und Soziologen Georges Friedmann und mit Henri Jourdan, der später das Institut Francais in Berlin leitete, eine Gruppe, die europäische und besonders deutsche Schriftsteller zu Gast bat und sich nach dem Krieg für die Verständigung einsetzte. Hugo von Hofmannsthal und Kurt Tucholsky, Heinrich Mann und Walter Mehring, Thomas Mann und Ernst Robert Curtius folgten ihrer Einladung. Diese Initiative stand wie der Besuch des Studenten in Pontigny am Anfang von Minders Wirken für das gegenseitige Verständnis der Deutschen und Franzosen. 1926 begann für ihn dann der Marsch durch die akademischen Institutionen. Grenoble, Strasbourg, Nancy waren die Stationen, Gymnasialprofessor, Universitätslektor, Privatdozent die Karrierestufen. Nach zehnjährigen Recherchen lag 1936 die Habilitationsschrift vor, eine Monografie über den oft genannten und kaum gekannten Ludwig Tieck, unorthodox im Aufbau und herausfordernd in der Methode. Minder hat in seiner Arbeit den Riss in Tiecks Persönlichkeit - sein Bedürfnis nach Maß und Harmonie war durch panische Angst und trostlose Verzweiflung immer erneut in Frage gestellt worden - im Anschluss an die Typenlehre von Ernst Kretschmer, an C. G. Jung und Erich Jaensch auf bestimmte psycho-physische Voraussetzungen des Dichters zurückgeführt. Er besaß gründliche Kenntnisse der psychoanalytischen Theorie und hatte sich selbst dreimal einer Analyse unterzogen - einmal bei einem Schüler Adlers, ein anderes Mal bei einem Freudianer und schließlich bei einem Anhänger Jungs. Als Alfred Adler, der Entdecker des Minderwertigkeitskomplexes, 1925 nach Paris kam, war Minder ihm persönlich begegnet und hatte eine seiner Vorlesungen an der Sorbonne übersetzt.

Indessen: Das Interesse Robert Minders an Tieck war vorrangig ein Interesse am modernen Deutschland, daran, welchen Anteil die deutsche Romantik an der Herausbildung einer Vorstellungswelt und Empfindungsweise hatte, die er im Denken und Fühlen der heutigen Deutschen lebendig sah. Und auch die Ergänzungsthese zur Tieck-Arbeit, die Karl Philipp Moritz und seinem "Anton Reiser" gewidmet war und zur Wiederentdeckung eines zu Unrecht beinahe vergessenen psychologischen Schriftstellers führte, wurde von einem Erkenntnisinteresse geleitet, das in der Gegenwart wurzelte: Das Werk von Moritz gibt in Minders Sicht wertvolle Aufschlüsse über die philosophischen und religiösen Wurzeln einer spezifischen Ausprägung deutscher Innerlichkeit, die, sobald sie eine politische Haltung begründet, etwas tief Problematisches hat.

Hält man sich diese Forschungsintention Minders vor Augen, dann verliert die Hinwendung des eben noch mit der deutschen Literatur, Religion und Philosophie des 18. Jahrhunderts so eindringlich befassten französischen Germanisten zum Werk des exilierten Berliner Arztes und Schriftstellers Alfred Döblin alles Zufällige. Durchaus vertraut mit den großen Erzählwerken des Autors seit dem "Wang-lun", fand er in "Berlin Alexanderplatz" und in "Pardon wird nicht gegeben" so gut wie in den jüngsten Essaybänden und in der politischen Publizistik Döblins Aufdeckendes darüber, unter welchen Umständen psychische, soziale und geschichtliche Faktoren eine das Denken, Empfinden und Handeln einzelner wie großer Volksgruppen leitende Mentalität hervorbringen. Die politischen Ereignisse in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, hatten solchen Fragen eine bedrängende Aktualität verliehen.

Döblin, seit Ende der zwanziger Jahre als Erzähler von europäischem Rang angesehen, war in Frankreich weithin ein Unbekannter geblieben. Jetzt, im Studienjahr 1937/38 stand "Berlin Alexanderplatz" auf dem Lektüreprogramm der französischen Germanistikstudenten für die Agrégation. Neben Döblins Roman hatte man Franz Werfels "Barbara oder die Frömmigkeit" und Ernst von Salomons "Die Geächteten" gesetzt und damit eine Wahl getroffen, die unverkennbar auf die jüngste politische Entwicklung jenseits des Rheins Bezug nahm. Man darf in Henri Lichtenberger einen Fürsprecher dieser Titelnominierung vermuten. Er lud Döblin auch ein, am 18. Dezember 1937 in der Société des Études Germaniques "Literarische und politische Erinnerungen aus Berlin" vorzutragen. Die literarischen galten den "Sturm-Jahren" im Kreis um Herwarth WaIden, die politischen den Geschehnissen, die zum Scheitern der Novemberrevolution, zu Friedrich Ebert, Gustav Noske und Wilhelm Groener und vierzehn Jahre später zum Sieg der politischen Reaktion in Deutschland führten.

Anfang Mai 1938 reiste Döblin dann in Begleitung Minders nach Nancy, wo dieser soeben ordentlicher Professor geworden war, und zu Albert Fuchs nach Strasbourg, um über "Berlin Alexanderplatz" zu referieren. Er nutzte den Besuch im Elsass, vorzüglich in Haguenau, um sich der Örtlichkeiten zu versichern, an denen er 1918 den Ausbruch der Revolution erlebt hatte und die den Schauplatz des ersten Bandes seiner Revolutionstetralogie abgeben sollten, an dem er zu arbeiten begonnen hatte.

Die nachgeholten Geburtstagsfeiern zum 60., die der Bund Neues Deutschland und später der Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil veranstalteten, wurden für Döblin mit Reden von Heinrich Mann und Anna Seghers, von Arnold Zweig und Ludwig Marcuse und mit eigenen Auftritten zu glanzvollen Ehrungen. Er erhielt Einladungen zu Vorträgen und Diskussionen, und er entfaltete vielfältige Aktivitäten. Sie können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Döblin die Sprachbarriere nie überwinden konnte und dass alle Versuche von Lichtenberger, Minder und anderen Franzosen, Kontakte zu Jean-Paul Sartre, zu Simone de Beauvoir, zu Jean Wahl oder zu James Joyce aufzubauen, daran scheiterten.

In den Jahren zwischen 1937 und 1939 sahen sich Döblin und Minder oft, vom Oktober 1939 bis zum 10. Juni 1940 trafen sie sich beinahe täglich. Édouard Daladier hatte die vertrackte Idee gehabt, den hochkultivierten und sensiblen Jean Giraudoux zum Staatssekretär zu berufen und mit einer Gruppe französischer Germanisten unter Hinzuziehung exilierter Schriftsteller und Journalisten mit der französischen Gegenpropaganda zu beauftragen. Minder hat sich verschiedenenorts, am ausführlichsten in "Doeblin en France", und immer ironisch über diesen unglücklichen Versuch geäußert, der massiven Macht der Goebbels-Propaganda zu begegnen und die von Sieg zu Sieg eilende Hitler-Wehrmacht durch Texte, Lieder und Argumentationen zu destabilisieren, die von Intellektuellen, Normaliens wie den Germanisten Ernest Tonnelat, Albert Fuchs, Edmond Vermeil, Pierre Bertaux und Robert Minder entworfen worden waren. Auch die von Minder veranlasste Mitarbeit von Alfred Döblin oder das Engagement von Kurt Wolff und Paul Landsberg konnten die Erfolgschancen dieser Aufklärungsarbeit nicht erhöhen. Ehe die vorrückenden deutschen Truppen auch die Mitarbeiter des französischen Informationsbüros zur Flucht zwangen, gelang es mit Minders Hilfe, Döblins Mobiliar und Teile seiner Bibliothek unterzustellen sowie seine Manuskripte dank der Unterstützung einer Cousine Minders in der Bibliothek der Sorbonne zu deponieren.

Fraglos haben die gemeinsam erfahrene Bedrohungssituation, ihre Teilnahme am Widerstand gegen den Faschismus, das Erlebnis der Flucht und die Hilfe des Jüngeren für den Älteren die Freundschaft zwischen Döblin und Minder menschlich und politisch vertieft. Als sie sich am 19. Juni 1940 in Cahors trennen mussten, ahnten sie nicht, dass es auf fünf Jahre sein würde.

Am 18. Oktober 1945 traf Döblin, aus dem Exil in den USA zurückkehrend, wieder in Paris ein. Er fand mit seiner Frau Aufnahme bei Ernest Tonnelat, der ihm Wochen zuvor den Vorschlag gemacht hatte, eine Anstellung bei der französischen Besatzungsbehörde in Deutschland anzunehmen. Schon am 9. November - für ihn ein denkwürdiges Datum - reiste Döblin über Strasbourg nach Baden-Baden, um einige Tage darauf seinen Dienst als Chargé de mission à la Direction de l'Éducation Publique anzutreten. Von den Schriftstellern seiner Generation gewiss einer der zivilsten, trug er nun die Uniform eines französischen Offiziers. Das war nicht seine Entscheidung, sondern war an seine Anstellung geknüpft, und es vertrug sich durchaus mit seiner Einstellung gegenüber solchen deutschen Schriftstellern, die sich mit den Nazis arrangiert hatten oder ihnen gar willfährig gewesen waren. Aus seinen Tagebüchern ist zu erfahren, unter welch erbärmlichen Umständen der 67jährige in Baden-Baden hausen musste und dass er, viele Stunden des Tages mit der Lektüre und Zensur zum Druck vorgesehener Werke beschäftigt, keine wirkliche Entscheidungsbefugnis besaß.

Minder hatte dem Freund abgeraten, als Angehöriger der französischen Besatzungsmacht nach Deutschland zurückzukehren. Seine Ahnungen trügten ihn nicht, dass man dem aus dem Exil Heimkehrenden in Nachkriegsdeutschland mit tiefsitzenden Aversionen begegnen würde. Er hatte aber auch verstanden, dass Döblin, einem pädagogischen Impetus folgend, der zu seiner preußischen Mitgift zählte, an der Umerziehung der Deutschen mitwirken wollte.

Nach der Flucht aus Paris hatte Minder eine Professorenstelle an der Universität Grenoble erhalten. Im Herbst 1943 begann die Gestapo, sich für ihn zu interessieren, so dass er in dem kleinen Dorf Cérilly Unterschlupf suchte. Hier begann er mit den Vorarbeiten zu seiner Geschichte des Gefühlslebens der Deutschen, die 1948 als kulturhistorischer Essay von bald 500 Seiten unter dem Titel "Allemagne et Allemands" in Paris erschien. Ganz unter dem Eindruck des gewaltsamen Ausbruchs des deutschen Nationalismus entworfen, untersucht das Buch die Wandlungen, die die Vorstellungswelt der Deutschen in bestimmten Zeitpunkten der nationalen Geschichte erfuhr. Die Untersuchung holt weit aus, vom "Nibelungenlied" bis zu Hans Grimm, streift die Architektur- und Religionsgeschichte, die Sozial- und die Ideologiegeschichte und zeigt, wie Kultur, Landschaft und Historie die Mentalität der Bewohner einer Region prägen - im Konkreten die Bewohner des Rheinlandes. In einem im gleichen Jahr veröffentlichten Essay über "Mythen und Aggressionskomplexe im modernen Deutschland" gibt der französische Germanist eine komprimierte Fassung seiner Einsichten, die er aus der Analyse literarischer Mythen für die Erklärung massenpsychologischer Verhaltensweisen in bestimmten historischen Situationen gewonnen hatte.

Döblin und Minder hatten Deutschland und die Deutschen nicht aus einem akademischen oder artistischen Interesse zu ihrem Thema gemacht. Es war die Herrschaft der Nazis in Deutschland und der von ihnen geführte Krieg, die sie fragen ließen, welche Bereitschaft im kollektiven Unterbewusstsein zahlloser Deutscher vorhanden gewesen war, in einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisensituation, wie sie in den Endjahren der Weimarer Republik gegeben war, den Losungen der Nazis und der herrschenden politischen Klasse zu folgen. Döblin gab eine Antwort darauf in seinem Roman "November 1918"; Minder gab die seine in den genannten und in bald folgenden Arbeiten.

Er hatte nach Kriegsende seine Stelle an der Universität Nancy wieder eingenommen und sah Döblin, wenn dieser auf Urlaub in Paris weilte. So wenig Befriedigung ihm seine Baden-Badener Mission auch brachte - eine große Genugtuung blieb Döblin: Er hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass am 9. Juli 1949 in Worms die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur gegründet wurde. Sie verstand sich als Nachfolgerin der Preußischen Akademie der Wissenschaften, deren Sektion für Dichtkunst einst mit Döblins Namen verbunden gewesen war. Nun gab er der Literaturklasse der Mainzer Akademie ein Programm, das sich an seine Berliner Initiativen anschloss. Mit Walter von Molo, Wilhelm Hausenstein, Hans Henny Jahnn, Hermann Kasack und Annette Kolb traten Schriftsteller an seine Seite, die dieses Programm mitzutragen bereit waren; mit Ernst Kreuder, Hans Erich Nossack, Wilhelm Lehmann und Reinhold Schneider kamen bald andere hinzu, die sich die Verehrung für den nun schon über 70jährigen SchriftsteIler teilten; seit 1951 gehörten der Akademie auch ausländische Schriftsteller und Gelehrte an, darunter Robert Minder und Walter Muschg, Jean Cocteau und André Malraux.

Minders Abhandlungen und Essays "Das Wesen der Gemeinschaft in der deutschen und französischen Literatur"; "Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Gottfried Benn; Kadettenhaus, Gruppendynamik" und "Stilwandel von Wildenbruch bis Rilke und Musil" und "Paris in der neueren französischen Literatur (1770-1890)" sind ursprünglich Vorträge in der Mainzer Akademie gewesen, vorbereitet durch Vorlesungen zu diesen Themen an der Sorbonne und am Collège de France. Diese Arbeiten vor allem sind es, die Minder in Deutschland hohe Anerkennung verschafften, dazu seine Studie zur "Soziologie der deutschen und der französischen Lesebücher", die erst 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung in Döblins "Minotaurus" in Deutschland breite Resonanz fand, weil es erst jetzt eine Sensibilität der Gesellschaft dafür gab, welche langandauernde und tiefsitzende Wirkung von Schule und Lesebuch auf die Vorstellungswelt und auf das Wertebewusstsein junger Menschen ausgehen.

In einer Region aufgewachsen, in der sich zwei Sprachen und Kulturen, zwei Denk- und Gefühlsweisen begegnen und die von jedem Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich zuerst betroffen ist, wurde Robert Minder seit Anfang der 1950er-Jahre zu einem redlichen Mittler zwischen den Kulturen beider Länder. Hans Mayer hat ihn als einen Klassiker der deutsch-französischen Koexistenz bezeichnet und darauf hingewiesen, dass er seinen Verständigungswillen auch zornig und streitbar verfocht und am schärfsten gegen Meßkirch als geistige Lebensform.

Über Döblins letzten Lebensjahren lagen tiefe Schatten. Nach dem altersbedingten Ausscheiden aus dem Amt fühlte er sich überflüssig und als Autor gescheitert. Von der Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und der Sowjetunion tief beunruhigt, stießen ihn die restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik ab. Ende April 1953 verließ er mit seiner Frau Deutschland und kehrte nach Paris zurück. Er hat diesen Entschluss in dem bekannten Brief an Theodor Heuss, seinen Kollegen aus dem Schutzverband deutscher Schriftsteller, begründet.

Der 75. Geburtstag brachte ihm Ehrungen durch die Mainzer und die Hamburger Akademie, in "Allemagne d'aujourd'hui" erschien eine Hommage von Robert Minder, der über Joseph Breitbach auch den "Figaro littéraire" bewegen konnte, einen Artikel über den Jubilar zu bringen. Auch "Carrefour" reagierte, die "Temps modernes" druckten ein Kapitel aus dem "Minotaurus-Band" ab, und noch im gleichen Jahr veröffentlichten die "Cahiers du Sud" eine französische Übersetzung der frühen Erzählung "Vom Hinzel und dem wilden Lenchen" mit einem Vorwort von Minder.

Mit dem Februar 1954 begann Döblins Leidensweg durch Kliniken und Sanatorien des Schwarzwaldes und Freiburgs. Dazwischen kehrte er immer erneut nach Paris zurück, bereit, selbst nach schlimmen Krankheitskrisen lange Gespräche zu führen und sich durch Radio und Zeitungen über das Weltgeschehen zu informieren. Robert Minder, neben Wilhelm Hausenstein, dem deutschen Botschafter, noch der einzige Gesprächspartner Döblins in Paris, besuchte den Schwerkranken mitunter zwei oder drei Mal in der Woche. Er hat über den Inhalt dieser Gespräche wiederholt Auskunft gegeben, erstmals 1957. Man habe über religiöse Dinge gesprochen, da die Glaubenfrage für den Schriftsteller bis zuletzt virulent geblieben sei. Albert Schweitzer, von dem ihm sein Gesprächspartner erzählte, und der Protestantismus waren ihm fremd geblieben. Minder erinnert sich an Gespräche über Literatur, an Urteile Döblins über Johann Wolfgang von Goethe als Dichter und als Mensch, über Friedrich Hölderlin, Jeremias Gotthelf, daran, dass Döblin erst durch ihn Jean Paul entdeckte, einen Autor, mit dem er gelegentlich verglichen wurde und den Minder ähnlich wie Johann Peter Hebel in der Literaturgeschichte in eine falsche Ecke gestellt fand. Um Literatur und Leben ging es auch, wenn der um seine Lebenserwartung wissende Arzt und Schriftsteller dem Freund biografische Einzelheiten mitteilte, die ausgesprochen zu haben ihm wichtig war. Als Minder Ostern 1957 Döblin im Kurhaus Wiesneck besuchte, sollte es das letzte Zusammentreffen der Freunde werden.

Im Todesjahr Döblins erhielt Minder die Berufung ans Collège de France. Er hat mit ihr den Beginn einer zweiten Schaffensperiode angesetzt, in der er, durch Einladungen und Ehrungen beflügelt, eine erstaunliche wissenschaftliche Produktivität entfaltete und selbst zum Schriftsteller wurde. In den sechzehn Jahren, die er am Collège de France wirkte, entstanden seine Studien und Essays über Hebel und Martin Heidegger, über "Hölderlin unter den Deutschen", über "Schiller, Frankreich und die Schwabenväter", über Jean Paul und die Familie Brentano; er entwarf Porträts von Heinrich Heine und Denis Diderot, von Madame de Stael und Gérard de Nerval und kehrte in seinen Untersuchungen immer wieder zur Kulturlandschaft des alemannischen Raums und zu den affektiven Leitbildern der Deutschen und Franzosen in ihrer gemeinsamen Geschichte zurück. Diese und viele andere Arbeiten, etwa die Leitung des Günsbacher Albert Schweitzer-Archivs, haben Minder nicht daran gehindert, zwischen 1952 und 1969 in fast jedem Jahr in Wort oder Schrift auf das literarische Werk Alfred Döblins hinzuweisen.

Die erste grundlegende Darstellung erschien 1954 (Alfred Döblin. In: Deutsche Literatur im zwanzigsten Jahrhundert. Gestalten und Strukturen. Hrsg. von Hermann Friedrich und Otto Mann. Heidelberg: Rothe 1954, S. 249-268. Um wichtige Details erwitert in 5. Aufl. (2. Bd.). Bern, München: Francke 1967, S. 126-150.); grundlegend, weil sie erstmalig das gesamte bis dahin veröffentlichte Werk des Autors im Kontext der Zeit- und Lebensgeschichte behandelt und darin so verfährt, dass sich entwicklungsgeschichtliche Durchblicke mit synthetisierenden, Motive und Themen analysierenden Partien verschränken. Die Arbeit darf auch als grundlegend angesehen werden, weil sie erkennbar macht, wie eng sich Minders Interesse an Döblin mit den Grundrichtungen seiner Forschungsintentionen berühren. Er entdeckt eine sehr deutsche Linie in Döblins Romanhelden vom "Wang-lun" bis "Berlin Alexanderplatz": in Biberkopf einen deutschen Michel, machtverfallen, ausnutzbar, und von daher sehr bedrohlich, im Führer der Wu-wei-Sekte das Berserkerhafte, das Durchhalten bis zum bösen Ende, um sich dann auszulöschen. Die Bezüge, die Minder herstellt, bringen Licht in Verborgenes und erscheinen vielleicht hier oder dort kühn. Sie weisen auf Methodisches seiner Literaturbetrachtung, die Gesichtspunkte für die Interpretation literarischer Motive und Konfigurationen fruchtbar zu machen sucht, die Carl Gustav Jung und Gaston Bachelard entwickelt hatten. Minders Hommage "Doeblin en France" erschien wenige Tage nach dem Tode des Schriftstellers Ende Juni 1957. Die umfangreiche Würdigung hatte damals hohen Informationswert, denn sie machte - angefangen bei der Flucht des Schriftstellers aus Deutschland bis hin zu seinen Erfahrungen bei der Umerziehung der Deutschen nach dem Kriege - mit vielen neuen Fakten bekannt. In dieser Studie wird auch Döblins politisches Engagement an der Seite der deutschen Linken beleuchtet, sein Zerwürfnis mit ihr und das Unverständnis der alten Freunde für seine religiöse Wendung. Minder räsoniert schließlich auch über die, von einer rühmlichen Ausnahme abgesehen, schlechten französischen Übersetzungen der Romane, die Döblins Rezeption in Frankreich im Wege standen. Der später in "TEXT + KRITIK" erschienene Beitrag Minders brachte nur einzelne Ergänzungen zu der Hommage.

In den Jahren 1959 und 1967 hielt der Germanist Vorlesungen am Collège de France über Döblin und den deutschen Expressionismus. Daraus dürfte die umfangreiche Studie über Döblins Novelle "Die Segelfahrt" hervorgewachsen sein, die 1969 in der Festschrift für Fritz Martini herauskam.("Die Segelfahrt" von Alfred Döblin. Struktur und Erlebnis. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Hrsg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart: Metzler 1969, S. 461-486.) Sie ist ein Spätwerk Minders und sehr charakteristisch für ihn in ihrem Aufbau. Die Leitmotive werden kurz angerissen: Meer, Liebe, Tod; mit dem Hinweis auf die "Gespräche mit Kalypso. Über die Musik" wird der Bezugsrahmen angedeutet. Dann folgt in schlanker Gestalt die Rekonstruktion des Novellentextes. Nachdem das geleistet ist, wird das Auftauchen der Motive und ihre Behandlung in der zeitgenössischen Literatur und Kunst betrachtet. Da wird Gerhart Hauptmann mit "Atlantis" und Thomas Mann mit dem "Tod in Venedig" vorgeführt sowie Gottfried Benns "Ithaka" assoziiert; von der Literatur geht es hinüber zu den Malern der Brücke, zu Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner, schließlich zu Edvard Munch. Jetzt wird Döblins eingangs zitierte Musikästhetik auf den Novellentext bezogen und die musikalische Struktur freigelegt. Also vorbereitet, wird der Text biografisch gelesen, weit ausholend und tief lotend.

Die sorgfältige Analyse des literarischen Textes, die Herausarbeitung großer, Themata und Motive verfolgender Linien der Literatur- und Kulturgeschichte, vielfältige und überraschende Assoziationen, die anscheinend nicht Zusammengehöriges in eine Verbindung bringen, aus der Funken schlagen, die Rückbindung des literarischen Werks an das Soziale und an die Biografie des Autors - daran sind die Arbeiten Minders zu erkennen, auch die über Döblin.

Sein Festvortrag zum 100. Geburtstag des Schriftstellers in der Westberliner Akademie der Künste war Minders letzte zusammenhängende Äußerung über das schwierige Werk und das schwere Leben des Freundes. Er blieb ungedruckt, zu Recht, denn er setzt sich aus Teilen zusammen, die zu einem Ganzen zu fügen Minder nicht mehr vergönnt war.(Das Vortragsmanuskript ist nicht identisch mit dem im späteren Prozess inkriminierten Artikel Minders: Beitrag zur authentischen Lebensgeschichte. Aus Gesprächen mit Alfred Döblin. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 178. 5./6. August 1978, S. 95 f. Beide Texte präzisieren und ergänzen die Informationen, die Minder bereits in: Döblin zwischen Osten und Westen. In: Dichter in der Gesellschaft, a.a.O., S. 155-190 sowie in: "Die Segelfahrt" von Alfred Döblin, a.a.O. gegeben hatte. Zur Kontroverse zwischen Claude Döblin und Robert Minder vgl.: Ein Streit um Döblin. In: Der Tagesspiegel. 29. September 1978.) Es war eine tiefe Geistesverwandtschaft, die Alfred Döblin mit Robert Minder verband. Beide waren in ihrer Gilde Außenseiter. Sie waren Großstädter, Antipoden von Heim und Herd; sie wussten genauer als andere, wie Psychisches im Sozialen wurzelt, und sie besaßen einen durchdringenden Blick für die Rolle des Geschlechtlichen im Zusammenleben der Menschen. Die Denk- und Verhaltensweise der Menschen, wie sie sich in Massenbewegungen äußert, war für sie ein Untersuchungsfeld von großer Brisanz. Ihr politisches Weltbild wurzelte im Sozialismus. Als Antifaschisten waren sie unnachgiebig in der Auseinandersetzung mit post- und paranazistischen Erscheinungen und mit dem Antisemitismus. Der Weg in die Innerlichkeit war für sie als polilitische Orientierung inakzeptabel. Beide besaßen eine tiefe Beziehung zur Musik. Natur und Landschaft waren für sie wichtige Größen; sie schrieben über sie, ohne sie betreten zu haben. Die Fantasiebegabung des Erzählers fand eine Entsprechung im Assoziationsvermögen des schreibenden Gelehrten. Sie waren genuine Polemiker, Männer von ausgeprägter Streitlust. Scharfe Ironie und schneidender Sarkasmus waren für beide mit Lustgewinn verbunden. Ihre Freundschaft war auch eine Männerfreundschaft - der Erfahrungen eingedenk, die das Leben machen ließ, und uneingedenk des Altersunterschiedes. Und sie war, was an diesem Ort nicht hoch genug geschätzt werden soll, eine in finsteren Zeiten entstandene und sie überdauernde deutsch-französische Freundschaft.

Anmerkung der Redaktion: Der Aufsatz ist ohne den von uns hinzugefügten Untertitel zuerst erschienen in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium: Paris 1993. Hg. v. Michel Grunewald. Bern u.a.: Peter Lang 1995 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongressberichte, Bd. 41), S. 53-65. Für die Genehmignung zur Nachpublikation in literaturkritik.de in einer um etliche Fußnoten gekürzten Fassung danken wir dem Verfasser.