Ökonomie als Poetologie

Der literarische Realismus des Neuen Kapitalismus

Von Alexander PreisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Preisinger

"Wenn sich zwei nicht kloppen, das ist Drama. Nur, wie erzählt man sowas?", fragt die Schriftstellerin Kathrin Röggla in "Die Presse" vom 21.3.2009 im Hinblick auf die Erzählbarkeit des Neuen Kapitalismus. Vorbei sind die Zeiten, in denen Autoren noch den Wechsel und die an ihn gebundenen Zahlungs- und Verschuldungsvorgänge als Schmiermittel narrativer Verkettung - wie etwa Gotthold Ephraim Lessing in seiner Komödie "Minna von Barnhelm" - verwenden konnten. Vorbei sind die Zeiten, in denen eine einfache Unterschrift Papiergeld durch fiktive Schätze glaubhaft decken konnte, wie die des Kaisers in Johann Wolfgang von Goethes "Faust II". Und vorbei sind auch jene Zeiten, in denen man Fabrikbesitzer und Arbeiter in direktem Antagonismus - wie etwa in Gerhard Hauptmanns "Die Weber" - einander begegnen lassen konnte. Das narrative Repertoire der klassischen Dichotomien von Zählen und Erzählen oder von Geist und Geld, wie sie etwa in Franz Grillparzers "Der arme Spielmann" oder in Thomas Manns "Buddenbrooks" so typisch verarbeitet wurden, tragen nicht mehr.

Finanzpartner, Geld und Werte sind virtuell und fiktiv geworden und mit ihnen die früher noch deutlich sichtbaren Bruchlinien zwischen Klassen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ökonomischen Gewinnern und Verlierern. Nicht nur die linke Kritik bemüht sich um ein neues kritisches Vokabular abseits von Versachlichung und Verdinglichung, auch die Gegenwartsliteratur sucht nach neuen ästhetischen Verfahren und Ausdrucksmöglichkeiten, um den Kapitalismus und seine Wirklichkeiten erzählbar zu machen: Die Räume des Kapitals sind global, Verantwortlichkeiten werden arbeitsteilig gestaltet, moralische Bedenken privatisiert und ausgelagert. Was die Literatur und den Theaterbetrieb selbst anbelangt, so sehen Kritiker im Rahmen der Realismus-Diskussion die Motiv- und Themenauswahl einer Beschäftigung mit der Realität entgegenstehend, wie Gert Ueding etwa in seinem Essay "Griff in die Zeit" deutlich zur Sprache bringt: "Es gibt heute eine unheilvolle Allianz des üblichen Stückeschreibers mit einem außer Rand und Band geratenen Theater, in dem nur die spektakuläre Introspektion noch gefragt ist und alle Konflikte in Verlängerung psychologischer Trivialitäten aus den privaten Kollisionen der hoffnungslos vereinzelten Menschen entwickelt werden." Noch einen Schritt weiter geht Gerhard Pretting im "Standard" vom 11.4.2009, der die Entsubstanzialisierung der Märkte und ihrer Finanzprodukte mit der Theaterproduktion parallelisiert: "Und wer darum kämpfte, seine Wohnung doch nicht mithilfe eines Fremdwährungskredites abzubezahlen, sondern ganz klassisch und langweilig, der kam sich vor wie ein Theaterbesucher, der anmerkt, wieder einmal ein Stück ohne Kotzen und Masturbieren sehen zu wollen - er wurde betrachtet wie ein Fossil, das den Zug der Zeit nicht verstanden hatte."

Unrealistische Wertsteigerungen und performativ-abstrakter Manierismus statt realwirtschaftlicher Investitionen und gesellschaftskritischer Intentionen? So, wie nach der Dotcom-Blase und der aktuellen Subprime-Krise die Anleger wiederum zum klassischen Sparbuch und in Staatsanleihen flüchten, so stellt sich im Anbetracht literarischer und theatralischer Darstellung die Frage, ob nicht auch hier erneut mit der gesellschaftlichen Realität zu rechnen ist. Tatsächlich beschäftigt sich Literatur seit 2000 intensiv mit ökonomischen Aspekten in unterschiedlichen Zusammenhängen und spielt damit eine wichtige Rolle als Seismograph gesellschaftlicher Entwicklung. Zurück zur Ausgangsfrage: "Wenn sich zwei nicht kloppen, das ist Drama. Nur, wie erzählt man sowas?"

"McKinsey kommt", "wir schlafen nicht", "Und was machen Sie beruflich?" - Literatur der Schönen Neuen Arbeitswelt

Aus literarhistorischer Perspektive wird im Rahmen von Konventionen erzählt, wobei jene der Gattungen wohl einen wesentlichen Einfluss auf die literarische Gestaltung eines Werkes haben. Betrachtet man Gegenwartsliteratur unter diesem Aspekt, so fällt auf, dass der Neue Kapitalismus auch mit einer spezifischen Modifikation dieser Konvention einhergeht.

Schon das literarische Figurenrepertoire deutet auf die Veränderung erzählerischer Verfahren hin, rekrutiert es sich jedoch vorwiegend aus jenen sozialen Gruppen, die arbeitsmarktstatistisch am gefährdetsten sind: Dazu gehört die "Generation Praktikum", deren literarische Mitglieder meist um die 30 sind und trotz ständig wechselnder atypischer Beschäftigungsverhältnisse wenig Aussicht auf fixe Jobs und damit stabile Biografien haben. Emblematisch sind es zwei Buchtitel, die das orientierungslose Lebensgefühl dieser Generation pointieren: "Wo, bitte, geht's zum richtigen Leben?" (Frederik Lindström) und "Wo geht's denn hier nach oben?" (Carina Klein). Die liberalen Versprechungen hinsichtlich ökonomischer Honorierung bei entsprechendem Leistungswillen werden in den Romanen als Lüge entlarvt: Die zumeist hochqualifizierten, weil akademisch-gebildeten Protagonisten, finden sich trotz Einsatzbereitschaft und Flexibilität von einer permanenten Prekariatisierung oder Arbeitslosigkeit bedroht. Diese auch nach dem Erfolgsbuch "Generation 1000 Euro" des Italieners Alessandro Rimassa benannte Gruppe arbeitet charakteristischerweise in der creative industries, also in jenen Bereichen, die von Virtualität und damit von fiktiven Wertzuschreibungen schon inhärent abhängig sind. Um nur einige zu nennen: Marnie Hilchenbach aus Tine Wittlers Roman "Parallelwelt" ist etwa 30 und in einer Online-Redaktion beschäftigt, Marlene Streeruwitz' Jessica ist ebenfalls 30 ("Jessica, 30.") und als Volontärin bei einer Frauenzeitschrift tätig und Boris Fusts ("Zwölf Stunden sind kein Tag. Der Praktikanten-Roman") Antiheld Arne - "Wie alt ich denn sei: Vierundzwanzig? Neunundzwanzig? Na ja, irgendwie so was halt" - jobbt in einer Werbeagentur bei 245,80 € Monatseinkommen.

Am anderen Spektrum des wirtschaftlichen Erfolges, aber ebenso von der Dynamisierung bedroht, steht die "Generation Golf". Zwar haben ihre Angehörigen wirtschaftliche einflussreiche und gutdotiere Posten, sind aber gerade deswegen akut gefährdet und mit ihrem Alter von Mitte 40 tendenziell unvermittelbar: Zu ihnen gehört etwa Gehrer, ehemaliger Marketingleiter eines Konzerns, aus Rolf Dobellis tragikomischen Roman "Und was machen Sie beruflich?" oder Jürgen Rühler, der, wie Anette Pehnts Roman schon im Titel verrät ("Mobbing"), Opfer einer neuen und deutlich jüngeren Abteilungsleiterin wird. Dass Rühler im öffentlichen Dienst, nämlich bei der Stadtverwaltung, beschäftigt ist, gibt dem Roman eine zusätzlich gesellschaftskritische Note.

Gattungen im Wandel

Es wundert nicht, dass diesem Figureninventar Neuakzentuierungen innerhalb der Gattungskonventionen folgen: Während der Angestelltenroman der Weimarer Republik, etwa Martin Kessels "Herrn Brechers Fiasko", oder jener der 1970er- und 1980er-Jahre, etwa Walter E. Richartz' "Büroroman" , der die Ästhetik einer peniblen Buchhaltung alltäglicher Phänomene und einer beruflich inszenierten Privatheit in den Mittelpunkt stellt, so herrscht in der Gegenwartsliteratur die Betriebsamkeit eines sozialdarwinistischen Verdrängungswettkampfes vor. Konkurrenzsituationen werden zu den dominanten handlungsmotivierenden Elementen: Rainer Klouberts Roman "Angestellte" erzählt von Sieg und Niederlage im fernen China, Helene Uri von der Selbstzerfleischung der Mitarbeiter eines linguistischen Instituts ("Nur die Stärksten überleben") und Laurent Quintreau ("Und morgen bin ich dran. Das Meeting") über die Hierarchiekämpfe in der Führungsetage.

Starken Wandlungen unterliegt unter gegenwärtigen Bedingungen auch der Unternehmerroman: Die klassische Variante - ein Unternehmer im wirtschaftlichen Überlebenskampf, das Auf und Ab der Handlung verläuft parallel zum Konjunkturzyklus - gibt es zwar noch, etwa in den Romanen "Der schwarze Grat" von Burkhardt Spinnen oder "Wenn wir sterben" von Ernst-Wilhelm Händler, gleichzeitig sind aber zuletzt vermehrt Werke entstanden, die vor allem die gesellschaftskritischen Aspekte des Unternehmer- oder Managerbildes betonen: Humoresk sind etwa die "Business Class"-Bücher des Schweizers Martin Suter, deren Erfolg sicherlich mit dem befriedigten kollektiven Lachen einer Leserschaft zusammenhängt, die infolge der aktuellen Ereignisse Genugtuung über die literarischen Misserfolge der wirtschaftlichen Elite empfindet.

Ein kritischeres Managerbild wird von Streeruwitz in ihrem aktuellen Werk "Spiegelungen." entworfen: Ein Manager, Herr über 900 Millionen Euro, dessen Name der Leser erst kurz vor Schluss des Romanes erfährt, ästhetisiert sich zum Prototyp einer öffentlich unbekannten Elite, die im Hintergrund durch ihre Finanzmacht die Fäden zieht: "Er konnte Romane machen. Er musste nicht schreiben. Er machte. Er tat." Nach einer Scheidung, einem neuen Titangebiss - symbolisch für die Inbesitznahme der Welt durch Verzehr - und einem Ehevertrag mit einer vermeintlich adeligen Engländerin zielt die Entwicklung des Romanhelden auf die Loslösung aller bürgerlichen Werte ab und er befindet sich damit in bester Gesellschaft mit Martin Walsers alterndem Investmentbanker Karl von Kahn im Roman "Angstblüte". Wie der Markt sich von den Schranken staatlicher Reglementierung befreien soll und in der Dynamik globaler Finanzströme sukzessive abstrakt, stofflos und ohne Referenz funktioniert, so sucht auch Karl von Kahn mit seiner "Relativitätstheorie der Moral" die Lüge zum "linguistische[n] Problem" zu machen, um letztlich alles zu relativieren. Neoliberalismus wird so zum persönlichen Leitmotiv erhoben. In dieser Abstraktheit persönlicher Lebensphilosophie und der Ausgestaltung psychischer Innerlichkeit behandelt der aktuelle Unternehmerroman nur noch am Rande wirtschaftliche Probleme. Doch das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant ist, ähnlich wie beim Papiergeld, von Instabilität bedroht: Das Selbstverständnis dieser Manager, die meist zur Generation der Wirtschaftswunderjahre oder zur Erbengeneration zählen, wird in der midlife crisis ebenso brüchig, wie das Verhältnis von Realwirtschaft und internationaler Finanztransaktionen.

"Business, das ist Krieg. Blut und Tränen. So ist das." - Sprachkritik des Ökonomischen

Neben der Figurenzeichnung und den Gattungen ließe sich noch eine Vielzahl weiterer Spezifika in der Ästhetik des Gegenwartromans mit Bezug auf die Wirtschaftsdiskurse ausmachen. Als letzter Punkt soll hier noch die Sprachkritik vorgestellt werden.

Das Wirtschaftliche als Thema der Literatur evoziert geradezu eine kritische Sprachreflexion: Dazu gehört etwa der "Sound" des Wirtschaftslebens, der durch Textmontagen, intertextuelle Bezüge und der normativen Poesie spezifischer Textsorten einfließt: Bewerbungsschreiben (Zelter), Bewerbungsgespräche (Dobelli) bis hin zu ganzen Businessplänen (Fust) werden so literarisch verarbeitet. Während literarische Texte um Realitätseffekte bemüht sind, werden umgekehrt im Rahmen einer dokumentarischen Literatur Interviews literarisiert: Ganz in der Tradition von Siegfried Kracauer stehen etwa Jörn Morisse und Rasmus Engler ("Wovon lebst du eigentlich? Überleben in prekären Zeiten") oder Ingo Niermann ("Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld") mit ihren normalisierten Interviews. Zuweilen wird es auch im Literarischen richtig volkswirtschaftlich: Lange Passagen voller finanztechnischer Reflexionen findet der Leser etwa in Walsers "Angstblüte" oder in Bodo Kirchhoffs "Erinnerung an meinen Porsche" und wird so in die Welt der Fonds und Aktien eingeführt. Eine Besonderheit stellt diesbezüglich Fernando Trías de Bes' "Der Zeitverkäufer" dar: Protagonist ist der NT (= Normale Typ), dessen Geschäftsidee darin besteht, abgefüllte Zeit in Flaschen zu verkaufen. Es wundert kaum, dass die Bürger der U.S.A. (= Unbekannter Staat, Austauschbar) fleißig in diese Fiktion investieren und so schließlich die Wirtschaft lahmlegen. Ein abschließendes wirtschaftstheoretisches Kapitel erläutert das beinahe schon formalisierte Narrativ mithilfe von Kontobewegungen.

Auf hohem Niveau sprachkritisch sind die Werke von Streeruwitz ("Jessica, 30.") und Kathrin Röggla ("wir schlafen nicht"), die sich beide auf die Foucault'sche Gouvernementalität beziehen. Darunter werden Techniken der Selbstführung verstanden, die nicht durch äußere Kräfte zwangsverordnet werden, sondern die von Individuen freiwillig zur Anwendung kommen. "Jessica, 30." ist etwa als atemloser Bewusstseinsstrom einer 30-jährigen Volontärin konzipiert, die sich durch einer Mischung aus planerisch-strategischem Kalkül, körperlicher Inszenierung und Selbstzurichtung dem Markt anzupassen sucht.

Rögglas literarisierte Interviews wiederum werden durch den Konjunktiv I in indirekter und damit in Form der uneigentlichen Rede wiedergegeben. Das Individuum verstummt, der Diskurs kommt selbst zur Sprache und zeigt sich hierin in seiner ganzen Einfältigkeit, Floskel- und Phrasenhaftigkeit. Die Ästhetisierung dieser Mentalität hat sich im Roman der Gegenwartsliteratur prinzipiell als eines der gesellschaftskritisch-literarischen Verfahren durchgesetzt, die selbst von leichterer Unterhaltungsliteratur angewandt wird (etwa Klein, Dobelli und Zelter): ",The clearer your vision of what you seek, the closer you are to finding it.' So einfach. 'What you are seeking is seeking you.'" (Dobelli: "Und was machen Sie beruflich?") Passagen wirtschaftlicher Ratgeberliteratur werden direkt in die Texte montiert, die Protagonisten reflektieren darauf und suchen durch Selbstanpassung an diese, als normal verstandenen Setzungen ihre Effizienz zu steigern. Die Kehrseite dieser Selbstökonomisierung ist Entfremdung, verstetigte Verunsicherung und permanente Defiziterfahrung.

Nach dem Ende der Geschichte(n)

Sowohl entwicklungslogisch als auch narrativ ist dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) eine klare Absage erteilt worden: ökonomisch durch die akute Weltwirtschaftskrise, literarisch durch einen ungemein produktiven Realismus des Wirtschaftlichen. Die Alternativlosigkeit des neoliberalen Masternarrativs gemahnt vor einem möglichen Ende der Geschichten, dem Philipp Sonderegger in der aktuellen Ausgabe der "kulturrisse" (1/2009) eine Gegenerzählung entgegensetzen will: "Die Linke sollte sich jedenfalls an Hayek ein Beispiel nehmen und ernsthaft und systematisch an einer neuen, großen Erzählung arbeiten. Einer Erzählung für eine ganze Welt nach dem Neoliberalismus."

Wie immer diese große linke Erzählung auch aussehen mag, im Hinblick auf die Literatur lässt sich feststellen, dass Kapitalismuskritik mehr denn je popularisiert und ästhetisiert wird, auch wenn es an alternativen Gegenentwürfen und utopischen Visionen noch mangelt: "[A]ber jetzt fing es an, mich zu interessieren, weil ganz offenbar der Kapitalismus tatsächlich alle, die damit zu tun bekamen, kreuzunglücklich machte und scheitern ließ, und außerdem konnte ich machen, was ich nur wollte, nie hat das Geld ausgereicht, also war der Kapitalismus nicht nur ein sicheres Mittel zum Unglücklichsein, sondern so weit kam es gar nicht erst, weil er schlechterdings nicht funktionierte, obwohl ich mir an drei Tagen in der Woche die Beine in den Bauch stand, und trotzdem gelang es mir nie, so einfache Dinge wie Miete und Strom und Gas zu bezahlen, vom Telefon ganz zu schweigen." (Birgit Vanderbeke: "Geld oder Leben")