Alles außer Denken

"Heartland" von Joey Goebel will mehr als eine Seifenoper sein

Von Thorsten GräbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Gräbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahlen in Amerika? Schon wieder? In Joey Goebels groß angelegtem Familienporträt "Heartland" läuft alles auf den Wahltag Anfang November zu, denn John Hurstbourne Mapother, Erbe eines Tabak-Clans im Mittleren Westen, kandidiert für den Kongress in Washington. Der Weg scheint vorgezeichnet: erst Abgeordneter im Repräsentantenhaus, dann Senator, schließlich Präsident. So will es ein prophetischer Traum seiner Mutter Elizabeth, wonach John eines Tages "die Welt auf die Wiederkunft des Herrn vorbereiten wird".

Vor der Erfüllung des Traums sind allerdings ganz und gar irdische Probleme zu lösen. Washington liegt fern von Bashford, einem "Städtchen mit etwa fünfzigtausend Einwohnern oder drei McDonald's", wo John und der Familienpatriarch Henry als größte Arbeitgeber weit und breit um die Gunst ihrer Beschäftigten bangen, deren Stimmen sie brauchen, für die sie aber "reiche Firmenbosse" sind, "die in ihren Elfenbeintürmen hocken". John muss etwas für sein Image tun, sonst lässt sich die Wahl nicht gewinnen. Helfen kann ihm nur sein viel jüngerer Bruder Blue Gene, der als Sorgenkind der Familie in einer Wohnwagensiedlung lebt und an einem Flohmarktstand Spielzeug verkauft.

Goebel baut den Gegensatz zwischen Blue Gene und seiner Familie geschickt in einer Parallelmontage auf, mit der das Buch beginnt. Nachdem vier Jahre lang niemand Kontakt zu Blue Gene hatte, sucht Elizabeth ihn in der Flohmarkthalle. Mit ihrem makellosen Gesicht und ihrem Kleid sticht sie dort aus den üblichen Besuchern hervor, während Blue Gene samt Kung-Fu-Bart, Vokuhila-Frisur und Baseballkappe aussieht wie alle anderen auch. Was für ihn Alltag ist, das Gewusel in den Gängen, der Krimskrams und Kitsch der Händler, bedeutet für sie Abwechslung und Abenteuer. Als Blue Gene sie an seinem Stand sieht, ist er zwar nicht begeistert, akzeptiert aber doch die Einladung zu einem Abendessen mit den Eltern und John.

Die Familiengeschichte der Mapothers wird in "Heartland" teils in Gesprächen gestreift, teils in Rückblenden erzählt und ergänzt so den Kalender des Wahlkampfs, in dem jeder Eintrag gen Zukunft weist, um eine private Chronologie mit Löchern, Schleifen und Knoten in der Zeit. Dabei erschließt sich auch Blue Genes Biografie nach und nach. Seinen Trash-Chic legte er sich etwa nur deshalb zu, weil er seiner damaligen Freundin Cheyenne gefallen wollte, die als Stripperin und alleinerziehende Mutter so gar nicht den Vorstellungen entsprach, die man im Hause Mapother von einer standesgemäßen Schwiegertochter hatte. An ihrer Seite lernte er, anders zu leben, "arm und ohne Ansprüche wie auch ohne die belastende Erwartung, dass man es jemals zu etwas bringen würde".

Wegen dieser Beziehung entzweite sich Blue Gene mit seiner Familie - jetzt soll die Rückkehr des verlorenen Sohnes einen Vorteil im Wahlkampf bringen. John zählt auf seinen Bruder, denn "wenn meine potentiellen Wähler sehen, dass ich mit jemandem wie dir verwandt bin, stimmen sie eher für mich". Blue Gene bleibt erst skeptisch, dann wächst sein Engagement. Er zeigt sich bei Johns Auftaktkundgebung am Nationalfeiertag, wirbt für ihn beim Wrestling und zieht mit ihm von Tür zu Tür, um Wähler persönlich anzusprechen. Mit seiner leutseligen Art erreicht er auch Menschen, die sonst sicher nicht seinen scheuen, nervösen Bruder wählen würden.

Nur bei Jackie Stepchild hat Blue Gene keinen Erfolg. Während der Wrestling-Show spielt sie ein paar Songs mit ihrer Band Uncle Sam's Finger. Der Punkrock des Trios leert die Halle, Jackies Ansagen bringen den Rest des Publikums in Rage. "In diesem Land feiern wir nur den Körper, nicht den Geist. Unser nationaler Wahlspruch müsste lauten: 'Alles außer Denken.' Das sollte auf unseren Münzen stehen." Für den Pickup-Fahrer Blue Gene sind solche Sprüche unpatriotisch, aber die freche Frau gefällt ihm. Als Vertretungslehrerin hat sie fortan in "Heartland" die Funktion, Blue Gene (und Goebels Leser) über die böse Politik aufzuklären: Werte sind bloß Worte, und ein einziger guter Mensch könnte selbst als Präsident rein gar nichts gegen den Kongress durchsetzen.

Um Jackie zu imponieren, investiert Blue Gene sein Vermögen in ein altes Warenhaus, damit Uncle Sam's Finger und andere Bands dort auftreten können. Sein Geld und ihre Ideen machen aus dem riesigen Gebäude weit mehr als eine Konzerthalle. Der Umbau schafft Arbeitsplätze, es gibt warme Mahlzeiten für alle, eine Theatergruppe führt kostenlos Stücke auf, selbst eine eigene Arztpraxis soll entstehen. Jeder ist willkommen, wenn das Komitee aus Kriegsveteranen tagt, das darüber entscheidet, was mit Blue Genes Geld geschieht.

Mit großem Anspruch soll der Roman alles zugleich sein und ist doch nichts richtig. Goebel verhebt sich an einem Buch von siebenhundert Seiten, will sich weder mit einer Familiensaga noch mit einem politischen Lehrstück begnügen, will seine Figuren unbedingt auch mit Gott und Vaterland ringen lassen und obendrauf eine Liebesgeschichte, eine utopische Versuchsanordnung und die kulturelle Topografie einer imaginären amerikanischen Kleinstadt packen. "Heartland" reüssiert hingegen höchstens als Seifenoper, denn Blue Gene ist natürlich nicht Johns Bruder, sondern - sein Sohn. Ein Handyzwischenfall nach Daniel Kehlmanns Art fördert das Familiengeheimnis zutage. Da hilft dann auch das postmoderne Augenzwinkern nicht mehr, das Goebel hinterherschickt, indem er Blue Genes Kindermädchen (eigentlich seine Oma, klar) sogar sagen lässt, dass das doch wie aus einer Seifenoper sei.

Dem Anspruch genügen zudem Aufbau und Ausdruck nicht immer. Als Auftakt ist der häufige Wechsel zwischen Elizabeth und Blue Gene gelungen. Am Beginn des nächsten Kapitels hätte Goebel sich indes ruhig etwas Neues überlegen können, anstatt einfach das ganze Spiel zu wiederholen, diesmal mit Blue Gene und John. Genauso einfallslos ist, wie er zu beschreiben versucht, dass es jemandem mies geht: "Er war ganz unten, hatte aber keinen Wagen mit Allradantrieb."

Schon mit seinen ersten beiden Büchern "Freaks" und "Vincent" fand Joey Goebel nicht nur Verehrer wie Diogenes-Verleger Daniel Keel, sondern auch den einen oder anderen Kritiker, der seine Schilderungen der Merkwürdigen und Leidenden für grob geschnitzt und letztlich wenig originell hielt. Das lässt sich "Heartland" wieder vorwerfen, so sehr ist eine Hauptfigur wie Blue Gene Mapother auf seltsam geschminkt. Hinzu kommt, dass dieses uneinheitliche dritte Buch auch Goebels bislang umfangreichstes ist, ohne seine Masse durch literarische Klasse zu rechtfertigen. Aus der Perspektive der Provinz hätten sich die Probleme und die Politik eines ganzen Landes erschließen sollen, aber statt eines großen amerikanischen Romans ist "Heartland" ein langer überladener Roman geworden.


Titelbild

Joey Goebel: Heartland. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
713 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066944

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