Technik-Kampf-Zone Ruhrgebiet
Uwe-K. Ketelsen und die neuaufgelegte Anthologie „Technische Zeit“ aus dem Jahr 1929
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Literatur der 1920er-Jahre ist nicht zuletzt durch eine ungemein starke Affinität für alles, was mit Technik zu tun hat, gekennzeichnet. Um das zu zeigen, gibt es mittlerweile eine Art Textekanon, der mit Alfred Döblin beginnt und Bertolt Brecht endet. Dagegen ist nicht viel zu sagen, dennoch ist es hilfreich, sich eben nicht immer nur auf dieselben Quellen stützen zu müssen, sondern auch den Blick auf Abgelegenes und Vergessenes zu richten. Ja auch auf Texte, die nur in kleinen Auflagen erschienen sind und deshalb aus dem Bewusstsein vollends verschwunden sind, wenn man die kleine Zahl der Bibliophilen vernachlässigt, die sich auf solche Publikationen mit größter Begeisterung stürzen.
Für Begeisterung ist auch in diesem Fall Anlass genug da. Der Literaturhistoriker Uwe-K. Ketelsen, der bis vor einigen Jahren noch in Bochum lehrte, hat nun einen schmalen Sammelband vorgelegt, der im Jahr 1929 als Jahresgabe des „Essener Bibliophilen-Abends“ erschienen ist. Die noch im Reprint bewundernswürdige Ausstattung des Bandes von 1929 besorgte Max Buchartz, die Textauswahl stammt vom Essener Dramaturgen Hannes Küpper, der auch als Herausgeber der Zeitschrift der Essener Bühnen „Der Scheinwerfer“ bekannt geworden ist. „Der Scheinwerfer“, den Küpper zwischen 1927 und 1933 betreute, ist eines der renommiertesten und aufschlussreichsten Dokumente der Neuen Sachlichkeit und literarischen Modernisierung, die nicht im Oberzentrum der Moderne in Deutschland, Berlin, erschienen ist.
Dennoch sind die Verbindungen zu den Berliner Neuerern stark genug: Als Bertolt Brecht 1927 seinen Skandal um den Lyrikpreis der Zeitschrift „Die Literarische Welt“ entfachte, hielt er den bekenntnishaften Zeugnissen einer epigonalen und ausgebrannten Jung-Lyrik ein Gedicht eines gewissen Hannes Küpper vor, das einen Sechstagerennfahrer namens Reggie MacNamara pries. Ketelsen weist Küppers denn auch zurecht dem Brecht-Kreis zu. Und Küpper setzte das Brecht’sche Modernisierungsprogramm in seinen Publikationen aggressiv mit um. Burchartz nun, der Dozent der Essener Folkwang-Schule war, war von der modernen Bauhaus-Gestaltung beeinflusst und zudem – nebenbei – wohl der Mitgründer einer der ersten modernen Werbeagenturen in Deutschland.
„Technische Zeit“ ist von den beiden Herausgebern naheliegend stramm auf Moderne getrimmt. Allein schon der Titel gibt die Richtung an. Küpper wählte Texte unterschiedliche Provenienz aus, die vor allem eines zeigten: Die Technik war aus der Gegenwart nicht mehr weg zu denken, und sie war zugleich – keineswegs profan – Thema von literarischen Produktionen.
Dominant ist unter den Texten dabei die faszinierte und sympathetische Annäherung an die Technik. Küpper selbst steuerte ein dreistrophiges Gedicht bei, das der Elektrizität huldigte. Franz Lüdtke, den Ketelsen als nationalistischen Autor kennzeichnet, schließt sich Küpper mit einem „Funkturm“-Gedicht ohne weiteres an. Eine politische Tendenz ist beiden Texten jedenfalls nicht anzusehen.
Aufschlussreich ist, dass Küpper nicht nur Gegenwartsautoren heranzieht, sondern auch tief in die Literaturgeschichte greift: Robert Müllers Ausschnitt aus „Tropen“ schließt an den Dschungel-Topos an, der bis heute mit der Großstadt verbunden wird. Ein idyllisierendes Gedicht von Justinus Kerner kontert Küpper – Hört! Hört! – mit einer direkten Kritik von Gottfried Keller, der den technischen Fortschritt mit starken Worten lobt. Sogar Max Eyth, der nicht nur ein Erfolgsautor des späten 19. Jahrhunderts war, sondern auch Gründer der Deutschen Landwirtschaftlichen Gesellschaft, kurz DLG, ist mit einem Beitrag vertreten.
Am stärksten sind jedoch die Gegenwartsautoren vertreten: Stefan Zweig ist mit einem Fliegergedicht dabei, und Walt Whitman hat der Dampflokomotive ein Loblied gesungen. Dem schließt sich die „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“ von Ernst Stadler an, das bereits in Kurt Pinthus’ Sammlung expressionistischer Lyrik, „Menschheitsdämmerung“ von 1919, aufgenommen worden war. Bert Brecht darf naheliegend nicht fehlen, hier mit dem Gedicht „Kohlen für Mike“, das Küpper noch an die „Hauspostille“ verweist, wo es allerdings nicht erschienen ist. Selbst Heinrich Lersch, der mit „Soldatenabschied“ einer der Stichwortgeber der nationalistischen Gruppierungen war („Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen“), findet mit einem Gedicht über Kesselschmiede Aufnahme. Allerdings hat Lersch mit dem Werk „Hammerschläge“ auch einen der einprägendsten Romane zu Technik und Industriearbeit im frühen 20. Jahrhundert publiziert.
Insgesamt ist die Textauswahl aufschlussreich: Küpper und Burchartz stellten den kleinen Band, der nur eine Auflage von 150 nummerierten Exemplaren hatte, in die kulturellen Auseinandersetzungen um die Modernisierung und ihre Bewältigung. Sie setzten dabei, wie die Aufmachung und die Textauswahl zeigten, auf die Moderne und positionierten sich dabei – aus Essener Sicht – gegen die konservativere Bochumer Kultur, die etwa am dortigen Theater unter Saladin Schmitt oder in Otto Wohlgemuths Sammlung „Ruhrland“ Ausdruck fand, wie Ketelsen im Nachwort schildert. Dabei kennzeichnet er das Ruhrgebiet als besondere Kampfzone um die technische und kulturelle Moderne. Die Kulturpolitiker des Ruhrgebiets zielten darauf ab, den Anschluss an die bildungsbürgerliche Kultur herzustellen. In diesem Kontext waren Sammlungen, wie die Küppers und Buchartz’ eher störend und irritierend modern. In dieses kleine Stück Gelegenheitskultur wieder Einblick zu gewähren, ist wohl das größte Verdienst des Bandes, den Uwe-K. Ketelsen nun wieder herausgegeben hat.