Unfähig zum Dialog

Christliche Repräsentanten brüskieren Navid Kermani anlässlich der geplanten Verleihung des Hessischen Staatspreises für Kultur. Eine Bewertung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

Von Michael HofmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Hofmann

Interkulturalität und interreligiöser Dialog sind zwei Phänomene, die sich in der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre immer häufiger verbinden. Nach dem 11. September 2001 wurde die Diskussion um den Islam zu einem wesentlichen Moment der deutschen Innenpolitik und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, bei dem das kulturell Fremde vornehmlich als das religiös Fremde erfahren und besprochen wurde. Diskussionen um Zwangsheirat und Ehrenmorde, angeheizt von mehr oder weniger kompetenten „Islam-KritikerInnen“, Auseinandersetzungen um den Bau von repräsentativen Moscheen in deutsche Großstädten – in all diesen Diskussionen geht es um die Frage, wie der Islam im Kontext von zentralen europäischen Werten wie Menschenwürde, Emanzipation und Religionsfreiheit einzuordnen sei.

In diesem Zusammenhang ist auch aus der Perspektive der Interkulturalitätsforschung nicht zu verkennen, dass der interreligiöse Dialog in Deutschland eine sehr wichtige Grundlage für die Bemühungen um eine erfolgreiche Integration vor allem von Menschen mit muslimischem Hintergrund darstellt. Die Kulturwissenschaft geht dabei von der Prämisse aus, dass ein interkultureller und interreligiöser Dialog nicht einem verwässerten Toleranzideal folgen sollte, das vorhandene Differenzen verwischt, sondern das vielmehr inter- und intrakulturelle Differenzen artikuliert, das jeweils Eigene und das Fremde im Respekt voreinander unterschieden und über Werte gestritten werden soll.

Religion erscheint dabei als ein sehr wichtiges Moment von Kultur in der multikulturellen Gesellschaft. Schon seit langer Zeit ist die deutsche Gesellschaft dabei auf der Suche nach Muslimen, die einen intellektuellen Diskurs pflegen und als Partner eines aufgeklärten Dialogs taugen. In der internationalen Diskussion um die dänischen Mohammed-Karikaturen war sehr häufig die Rede von den „leicht beleidigten“ Muslimen, die nicht in der Lage seien, mit Kritik umzugehen, und von der Fähigkeit des heutigen Christentums, Religionskritik und polemische Anfragen an die Religion auszuhalten und sogar positiv zu nutzen.

Die Weigerung des katholischen Kardinals Karl Lehmann und des evangelischen Spitzenfunktionärs Peter Steinacker, gemeinsam mit dem islamischen Publizisten und Schriftsteller Navid Kermani den Hessischen Staatspreis für Kultur anzunehmen, weil dieser in einem in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichten Text angeblich das Christentum beleidigt habe, stellt einen schwerwiegenden Fehler dar, weil er einen Gesprächspartner ausgrenzt, der in besonderer Weise in der Lage ist, einen vorurteilsfreien und offenen Dialog zwischen den Religionen zu befördern und damit auch die inter- und intrakulturellen Differenzen in Deutschland in einer angemessnen und anspruchsvollen Art und Weise auszuhandeln. Kermani ist ein in Siegen geborener und in Köln lebender deutscher Schriftsteller und gleichzeitig ein muslimischer Intellektueller. Er hat unter anderem in seinen Prosaminiaturen „Vierzig Leben“ ein liebevolles und witziges Bild der multikulturellen Metropole Köln gezeichnet und sich damit große Verdienste um die deutsche Literatur erworben. Er ist aber auch habilitierter Islamwissenschaftler und hat in gewichtigen und glänzend formulierten Essays über ästhetische Perspektiven der Koran-Interpretation geschrieben, und er hat vor allem in dem 2005 entstandenen Werk „Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“ in einem brillanten Vergleich muslimischer, jüdischer und christlicher Texte eine vergleichende Studie zur Theodizeeproblematik in den großen monotheistischen Religionen vorgelegt.

Kermani ist wie kaum ein anderer deutscher Autor der Gegenwart in der Lage, ein differenziertes und komplexes Bild des Islams in der deutsche Gegenwartsliteratur und -Kultur zu zeichnen. Die Idee, ihn mit dem Hessischen Staatspreis auszuzeichnen, war vor diesem Hintergrund uneingeschränkt lobenswert, weil sie eine große Ermutigung bedeutet hätte, einen literarischen und publizistischen Dialog fortzusetzen, der die Kultiviertheit und Gelehrsamkeit einer großen muslimischen Tradition mit einer Haltung und einer Sprache verbindet, die den besten Traditionen deutscher Sprache und Literatur und insbesondere auch rheinländischer Toleranz und Großzügigkeit entspricht. Als Kölner Bürger hat Kermani übrigens auch die Diskussion um den Bau der Großmoschee in Köln-Ehrenfeld aufmerksam verfolgt, und er hat ausdrücklich die Tatsache gelobt, dass die Debatte offen und ohne Tabus durchgeführt wurde – und dass vor allem auch die Ängste der nicht-muslimischen Anwohner umfassend artikuliert und berücksichtigt wurden.

Eine Textanalyse

Was hat Kermani nun in diesem Text geschrieben, der die Kirchenmänner zu der Boykottierung einer gemeinsamen Preisverleihung veranlasst hat? Ich versuche im Folgenden eine Textanalyse, die sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Kermanis Argumenten befasst.

Der im Vorfeld des Osterfestes am 14. März 2009 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienene Artikel artikuliert eine spezifische Erfahrung, nämlich die positive Rezeption des von Guido Reni geschaffenen Bildes „Kreuzigung“, das Navid Kermani eher zufällig bei einem Besuch der Kirche San Lorenzo in Lucina/Rom betrachte hatte. Diese positive Rezeption stellt den Versuch eines Nicht-Christen dar, zu diesem Bild in ein produktives Verhältnis zu treten. Es handelt sich also hier nicht um eine theologische Abhandlung, sondern um einen kleinen Beitrag zu der Frage, wie in der heutigen Welt religiöse Kunst aufgefasst werden kann, deren Voraussetzungen der Betrachter nicht teilt. Zuzugeben ist, dass Kermani, um seine spezifische Zugang zu dem Bild zu erläutern, seine klare Distanzierung von der Kreuzessymbolik und damit von einem zentralen Glaubensinhalt der christlichen Religion artikuliert. Hinter dieser schroffen Haltung steht aber seine Überzeugung, dass der interreligiöse Dialog vor allem dann ehrlich und vorurteilsfrei funktioniert, wenn die bestehenden Differenzen klar und eindeutig artikuliert werden. Worin besteht nun die Opposition zur christlichen Kreuzestheologie? Nun, Kermani erklärt, dass Renis Bild einer Verklärung des Schmerzes widerspreche, die viele Darstellungen des leidenden Christus seiner Meinung nach artikulieren. Es sei nämlich häufig eine Lust am Leiden in der Darstellung von Jesu Tod zu erkennen: das Martyrium werde „exzessiv bis zum Pornographischen zelebriert“.

Diese schroffe Äußerung bezieht sich darauf, dass das Leiden Jesu in vielen Bildern bis in die körperlichen Details exzessiv und geradezu exhibitionistisch dargestellt wird. Wenn eine solche Äußerung feinen christlichen Ohren beleidigend erscheinen sollte, so mögen diese auch den Kontext dieses Diskussionsbeitrages beachten: Kermani stellt nämlich explizit fest, dass das von ihm als „pornographisch“ bezeichnete demonstrative Herzeigen körperlicher Wunden auch bei den Schiiten vorkommt, in deren Tradition der Autor sich explizit einreiht. Die scharfe Kritik an religiösen Konzepten, die nach Meinung des Verfassers negative Konsequenzen haben, trifft also nicht nur das Christentum, sondern auch den Islam, also nicht nur das Fremde, sondern auch das Eigene.

Die Konzentration auf das Leiden, so Kermani, bewirkt – in bestimmten Formen des Christentums wie des Islam – eine negative Haltung gegenüber dem „Diesseits“ und verhindert damit eine Einstellung, der es um die Verbesserung unserer unvollkommenen Welt geht. Kermani fährt fort, indem er uns mitteilt, er habe aus diesem Grunde persönlich eine negative Einstellung gegenüber Kreuzen. Gleichzeitig, so lesen wir, respektiere er Menschen, die „zum Kreuz beten“, genauso wie andere betende Menschen. Jetzt wird es ungemütlich: Warum lehnt Kermani das Kreuz ab? Weil er „die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich“ findet, weil er die Verehrung des Kreuzes „als Undank gegenüber der Schöpfung [empfindet], über die wir uns freuen, die wir geniessen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen“. Er könne verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen; und gegen die höfliche Infragestellung der Trinität durch Judentum und Islam setzt Kermani eine drastische Ablehnung: die Kreuzestheologie bedeutet „für mich“ „Gotteslästerung und Ideolatrie“.

Kermani wendet sich gegen eine ihm zu liberal erscheinende Toleranz des heutigen Christentums, die zum Beispiel erlaubt, dass muslimische Kinder an der katholischen Kommunion teilnehmen. Kermani sagt, dass er persönlich das Kreuz nicht akzeptieren könne: „Andere mögen glauben, was immer sie wollen; ich weiß es ja nicht besser“. Scharfe Kritik an Glaubensgehalten des Christentums verbindet sich hier mit einem umfassenden Respekt gegenüber dem Andersgläubigen. Toleranz bedeutet für Kermani nicht, dass die Überzeugung des Anderen nicht kritisiert werden dürfte – er plädiert für einen Streit im umfassenden gegenseitigen Respekt.

Aber er endet keineswegs mit dieser schroffen und unnachgiebigen Distanzierung von den christlichen Glaubensinhalten. Im Gegenteil, der Text hat seinen Wendepunkt erreicht, und Kermani unterstreicht, dass es offensichtlich Kreuzesdarstellungen gibt, die nicht unter die so massiv formulierte Kritik fallen. Der Anblick des gekreuzigten Jesus in Renis Bild war für den überraschten muslimischen Betrachter vielmehr „so berückend, so voller Segen“, dass Kermani zu dem unerwarteten Schluss kam: „Ich – nicht nur: man – ich könnte an ein Kreuz glauben“.

Wie ist diese Wendung zu verstehen? Kermani erkennt: Im Bild Renis geht es nicht um eine wollüstige Inszenierung körperlichen Schmerzes, sondern um eine Darstellung, in der Jesus sich als „Menschensohn“ mit den Leiden aller Menschen identifiziert und damit die Frage nach dem menschlichen Leiden in der Welt repräsentiert. Reni, so erklärt Kermani, überführe das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische: „Sein Jesus hat keine Wunden, keine Abzeichen der Striemen und Hiebe, ist schlank, aber nicht abgemagert.“ „Jesus klagt an: Nicht, warum hast du mich, nein, warum hast du uns verlassen?“

Für den nicht-christlichen Betrachter des Bildes wird Jesus also zum Repräsentanten der leidenden Menschheit, die Gott gegenüber die Hiobs-Frage nach den Gründen für das schuldlose Leiden artikuliert: „Dieser Jesus ist nicht Sohn Gottes und nicht einmal sein Gesandter: Gerade weil sein Schmerz kein körperlicher ist, nicht Folge denkbar schlimmster […] Folterungen, stirbt dieser Jesus stellvertretend für die Menschen, für alle Menschen, ist er jeder Tote, jederzeit, an jedem Ort. Sein Blick ist der letzte vor der Wiederaufstehung, auf die er nicht zu hoffen scheint“. Dies ist keine christliche Interpretation von Jesu Leiden, es ist aber ein glänzender Versuch, das Bild des sterbenden Jesus und damit eine zentrale Glaubensvorstellung des Christentums in den Besitz der ganzen Menschheit einzufügen. Christliche Repräsentanten könnten vielleicht würdigen, das hier ein Muslim über seine Ablehnung des Kreuzes hinausgeht und eine Interpretation der „Ecce Homo“-Darstellung erarbeitet, die diese in einen Kontext des humanen Miteinanders der Religionen stellt.

Zusammenfassend kann man sagen:

- Der Vorwurf der Pornografie (der Zurschaustellung der leidenden Körper) trifft nicht nur das Christentum, sondern auch die Schiiten.

- Die Kritik an der Kreuzestheologie trifft ein bestimmtes Verständnis des Christentums, welches die Hinwendung zum Göttlichen mit einer lustvoll besetzten Absage an das Diesseits verbindet.

- Kermani setzt dieser Position eine Schöpfungstheologie entgegen, die aus der Schönheit der Schöpfung die Erfahrung der Größe Gotte ableitet.

- Er fällt keine allgemeingültigen Urteile über das Christentum, sondern gibt seine persönliche Auffassung wieder.

- Er artikuliert seinen Respekt gegenüber Menschen, die anders denken und glauben, begründet aber dezidiert seine Gegnerschaft zu dem, was er als christliche Kreuzestheologie interpretiert.

- Die Bildinterpretation führt aber zu einer Annäherung an das Symbol des Kreuzes – dieses ist nach Kermanis Interpretation in Renis Bild aber kein Symbol für die Hinwendung zum Jenseits, sondern eine bildliche Artikulation der Leiden des Menschen an dem Bösen und Unvollkommenen der Welt. Das metaphysische Leiden ist die Hiob-Position, die Revolte gegen Gott angesichts der Übel der Welt.

- So ist Jesus für ihn in der Kreuzigung nicht der Sohn Gottes, sondern der Repräsentant aller Leiden der Menschen in einer Welt, die von Gott verlassen erscheint.

Mögliche Bewertungen dieser Darstellung

Ein Muslim artikuliert also dezidiert sein Befremden gegenüber dem christlichen Zentralsymbol des Kreuzes. Er stellt eine Religiosität, die positive Impulse für das Diesseits setzt, einer Religiosität gegenüber, die das Diesseits entwertet. Er schreibt seinen Text vor Ostern als ein mit dem Christentum sympathisierendes Modell einer Annäherung an den Gekreuzigten – aus einer nicht-christlichen Position heraus. Die Kritik an einer als problematisch empfundenen Religiosität trifft sowohl die fremde als auch die eigene Religiosität. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden und die Annäherung an das Fremde gehen von einer klaren Bestimmung des Eigenen aus, setzen eine klare Differenz und vollziehen dann erst die Annäherung an das Fremde.

Hieraus wären auch positive Schlussfolgerungen zu ziehen:

- Der interreligiöse Dialog als interkultureller Dialog sollte auf dem Festhalten an den Differenzen aufbauen und nicht die Einebnung der Differenzen zum Ziel haben.

- Christliche Dialogpartner, die den Eindruck haben, das Kreuz und die Theologie des Kreuzes seien falsch dargestellt, sollten mit dem muslimischen Gesprächspartner um das richtige Verständnis streiten, ihn aber nicht ausgrenzen.

- Die angebliche Beleidigung der Religion – so wurde in Europa argumentiert – sollte im Fall der Mohammed-Karikaturen kein Maßstab sein, der Text Kermanis ist intellektuell und moralisch sicher von höherem Wert als die Karikaturen, und er sollte also als ein kritisches Gesprächsangebot angenommen werden.

- Bei der Diskussion, die wir hier führen, geht es um einen Kulturpreis; Kermani hat sich nicht um einen Lehrstuhl für christliche Dogmatik beworben, sondern aus islamischer Perspektive eine den gesunden Menschenverstand provozierende Grundposition des Christentums problematisiert und sich ihr dann wieder genähert.

Kermani ist mit seiner reservierten Haltung dem Kreuz gegenüber nicht allein: Der „Heide“ Johann Wolfgang Goethe, der auch in Zeiten der Klassikerskepsis sicher immer noch als ein Vorbild des Autors anzusehen ist, erklärte gegenüber Zelter zu einem „Ecce homo“-Bild sehr sarkastisch: „Jeder, der es anblickt, wird sich wohlfühlen, da er jemand vor sich sieht, dem es noch schlimmer geht als ihm.“ Und als man ihm einmal vorwarf, ein Heide zu sein, erwiderte er: „Ich heidnisch? Nun, ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilie verhungern lassen; ist denn das den Leuten nicht christlich genug?“ Hätten also Lehmann und Steinacker einen Kulturpreis, der ihnen gemeinsam mit Goethe angetragen worden wäre, ebenfalls abgelehnt? Oder ist es so, dass ein Muslim in Deutschland immer noch als ein Gesprächspartner angesehen wird, der sozusagen als ,geistiger Gastarbeiter‘ höflich und unterwürfig zu argumentieren hat? Jedenfalls gibt es zu denken, dass beim Hessischen Staatspreis eine offensichtliche Ungleichbehandlung zu erkennen ist: Der Muslim, der nicht mit dem Juden zusammen den Preis entgegennehmen will, wird „ausgetauscht“; als aber die beiden Christen sich weigern, den Preis gemeinsam mit dem Muslim entgegenzunehmen, wird der Muslim aus dem Preis-Verkehr gezogen.

Schlussfolgerungen

- Ein Dialog zwischen den Kulturen und Religionen muss auf Respekt und Gleichberechtigung beruhen. Dies setzt voraus, dass bei der pointierten Bestimmung von Positionen des Eigenen Differenzen zum Anderen ebenso pointiert herausgearbeitet werden.

- Es ist ein typisches Zeichen von Projektion und der Suche nach Sündenböcken, wenn man dem Fremden etwas Negatives unterstellt, was im Eigenen auch vorkommt. Es ist ein Zeichen von interkultureller Kompetenz, wenn man wie Kermani erkennt und erklärt, dass das, was man am Fremdem kritisiert, in bestimmten Varianten des Eigenen ebenfalls vorkommt.

- Es ist ein Zeichen von mangelnder interkultureller Kompetenz, wenn man auszunutzen sucht, dass die eigene Position eine längere gesellschaftliche Tradition hat und deshalb in Verbindung mit gesellschaftlicher Macht eher auf Anerkennung hoffen kann.

- Kermani ist ein deutscher Autor und ein muslimischer Intellektueller, der in unserer Gesellschaft wirkt, indem er eine Position einbringt, die streitbar und pointiert nach Gemeinsamkeiten und Differenzen der Religionen und Kulturen fragt.

- Die verschiedenen nicht-muslimischen deutschen Gesprächspartner sollten auf diese Stimme eingehen, mit ihr streiten, ihre Positionen verdeutlichen, gegebenenfalls Korrekturvorschläge machen und damit den Gesprächspartner zu überzeugen suchen, dass er womöglich falsch liegt.

- Den Gesprächspartner als Mit-Preisträger zu boykottieren ist ein Zeichen der Dialogunfähigkeit, der übertriebenen Empfindlichkeit dessen, der mit Widerspruch schlecht umgehen kann.

- Auch eine vermeintliche oder echte „Leitkultur“, christlich oder nicht, muss sich kritischen Fragen stellen. Die deutsche Kultur wird erst dann zu einer wahren inneren Pluralität gelangen, wenn ihre Vertreter begriffen haben, dass die Existenz von kulturellen und religiösen Minderheiten eine radikale Infragestellung eigener Selbstverständlichkeiten bedeutet. Sie muss nicht ihre eigenen Wertvorstellungen und Leitbilder aufgeben –  sie muss es aber aushalten, wenn diese Leitbilder einer kritischen, auch polemischen Reflexion und Infragestellung unterzogen werden.

- Die muslimische Minderheitskultur kann ein Pfahl im Fleisch unserer christlich geprägten Mehrheitskultur sein. Geben wir ihr die Chance, dies zu sein, und ertragen wir auch ihre polemische Infragestellung unserer Grundüberzeugungen; mögen wir gegen solche Infragestellungen nicht mit repressiven Dialogaufkündigungen reagieren, sondern mit einer Intensivierung des Dialogs.

Die Ausgrenzung Kermanis war somit ein Fehler, der den Bemühungen um Integration der muslimischen Minderheit in Deutschland schweren Schaden zugefügt hat. Der interkulturelle und interreligiöse Dialog wird aber weitergehen, allen Empfindlichkeiten und auch allem dogmatischen Insistieren auf den Grundlagen einer christlichen Leitkultur zum Trotz. Es wäre gut, wenn christliche Repräsentanten ein Zeichen gegenüber Kermani und gegenüber den Muslimen in Deutschland setzen würden, um den Schaden, den Lehmann und Steinacker den Bemühungen um Offenheit und Toleranz in Deutschland zugefügt haben, zu begrenzen und einen spannenden interkulturellen und interreligiösen Dialog fortzusetzen.