Regietheaterführer für Anfänger und Fortgeschrittene

Peter Michalzik erklärt in seinem Buch „Die sind ja nackt!“ Konzepte und Spielarten der neueren Bühnenkunst

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Gute Ideen machen Schule. Das Austüfteln von neuen Produkten, das Aufspüren von Marktlücken und das Ansprechen unerfüllter Kundenwünsche kennzeichnen die Innovationslogik der Marktwirtschaft. Und hat eine Firma erst einmal ein neues Produkt erfolgreich durchgesetzt, so kommt oft ein Nachahmer daher, der die gleiche Formel anzuwenden versucht. Was für Touchscreen-Handies oder Büchsenöffner gilt, lässt sich auch auf dem Buchmarkt beobachten. Besonders markant greift dieses Gesetz von Innovation und Nachahmung im Segment der Ratgeber-Literatur. Doch gilt es auch für Genres wie die aktuelle Erkundung körperlicher Feuchtgebiete oder die Bewirtschaftung der Abenteuer von Zauberlehrlingen oder Vampiren.

Die hier vorzustellende ‚Gebrauchsanweisung fürs Theater hat ihr (nicht genanntes) Vorbild in Christiane Tewinkels Konzertführer, der vor fünf Jahren, ebenfalls mit Karikaturen von Rattelschneck versehen, im selben Verlag erschien und von Kritik und Buchkäufern weithin begrüßt wurde. Tewinkel fragte im Titel ihrer Klassikeinführung für ein klassikfernes Publikum: „Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?“ Sie untertitelte das Buch als „Eine musikalische Betriebsanleitung“. Ihr gelang damit eine souverän ausgewogene Mischung aus musikalischer und musikwissenschaftlicher Expertise sowie Einfühlung in einen ‚naiven‘, kaum vorgebildeten Leser und seine Schwellenängste. Tewinkel war als Musikwissenschaftsdozentin und zudem als glänzende Musikjounalistin trefflich qualifiziert für eine solche Schulung in Sachwissen und musikbetrieblichen Ritualen.

Der DuMont Verlag hat nun mit Peter Michalzik, der als Theaterredakteur der Frankfurter Rundschau mit den Entwicklungen des Gegenwartstheaters aufs beste vertraut ist, einen ähnlich fähigen Vermittler als flott formulierenden Erklärer aufs Gegenwartstheater angesetzt. Und, das sei auch gleich verraten, Michalzik macht seine Sache gut. Sein Buch will das Gegenwartstheater verteidigen, seine besten Momente und Intentionen erkennen und erklären und dabei zugleich ‚das Herz des Theaters‘ wiederfinden. Es will den kleinkarierten Streit ums Regietheater überwinden und statt dessen Spaß und Leidenschaft im Theater erleben. Auch das gelingt ihm.

Michalzik untergliedert seine didaktischen Heranführungen an Grundaspekte des Gegenwartstheaters entlang der Fragen ‚Was ist ein Schauspieler?’, ‚Erlebnisse im Parkett‘, ‚Woraus Theater zusammengesetzt ist‘. Er rundet seine Erläuterungen zur Bühnenkunst ab mit zwei kürzeren Kapiteln über neuere und ältere kanonische Stücktexte. Das Hauptkapitel skizziert die individuellen ‚Regiesprachen’ von einem guten Dutzend der wichtigsten Theatermacher der letzten Dekade und fügt in einem ebenfalls recht souverän ausgewählten, sehr kompakten Unterkapitel noch Charakterisierungen zu den Altmeistern des deutschen Regietheaters (von Peter Zadek über Claus Peymann bis zu Andrea Breth, Peter Stein und Luc Bondy) ein.

Überaus lebendig und anschaulich liest sich die ‚Gebrauchsanweisung‘ durch ihre stetigen Bezugnahmen auf eigene Theatererfahrungen des Kritikers. So erzählt er lebensnah von der titelgebenden Urszene, als seine Eltern sich irgendwann um 1970 über Nackte auf der Bühne unterhielten und der zukünftige Theaterkritiker im Kinderbett gebannt war von diesen Intensitäten. Oder er schwärmt von dem überwältigenden Eindruck, den sein erster Besuch einer Frank Castorf-Inszenierung mit einem exzessiv agierenden Herbert Fritsch 1989 auf ihn machte. Nützliche, für geübtere Theatergänger vielleicht etwas betulich klingende Beobachtungen und Tipps reichen von der zum Theaterbesuch passenden Garderobe bis zur Rolle des Vorhangs, der Pause – oder (frivol tabulos) des Theaterschlafs.

Doch werden diese sehr basalen Service-Aspekte zur Erziehung oder Eingewöhnung eines Zuschauer-Novizen ausbalanciert mit theatertheoretisch bedeutsameren Überlegungen zu fundamentalen Aspekten und Optionen der Theatersemiotik und des Theaterraums. Denn gerade diese Bedingungen der Möglichkeiten des Theaterspielens, die Körperlichkeit der Akteure, die Wahl von Raummodellen und die Verwendung von Zeichen zur Repräsentation von Welt und Leben auf der Bühne werden von den innovativen Theatermachern systematisch befragt, durchprobiert, auseinandergenommen oder kritisiert. Michalzik bietet eine gründliche Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten zur Aufbrechung der Guckkastenbühne durch Einbeziehung des Parketts oder des gesamten Theatergehäuses als Spielraum. Betrachtet werden die Zeichenqualitäten und Bedeutungsebenen des – die letzten zehn Jahre der langen Theatergeschichte prägenden – Einsatzes von (Live-)Videoprojekten, aber auch die älteren Raummittel der Drehbühnenrotation sowie der immer bedeutungstragenden Gestaltung von Bühnenhorizonten und Bühnenbelägen.

Im Hauptkapitel, einer kleinen Porträt-Revue zu den wichtigsten Erneuerern der deutschen Theaterszene, werden Christoph Schlingensiefs persönliche, exhibitionistisch-existenzialistischen Performances ebenso eingehend gewürdigt wie die Arbeit Frank Castorfs, der als bahnbrechender Theatermacher seit den späten 1980er-Jahren die Spielformen und Textdekonstruktionen des deutschen Gegenwartstheaters prägte wie kein anderer. Die berühmten Altmeister des Regietheaters von Claus Peymann und Peter Zadek bis Peter Stein, Luc Bondy, Jürgen Flimm und Dieter Dorn werden souverän – doch schon ein wenig im Handstreich – auf knappen 10 Seiten zusammengefasst und auf den gewiss fragwürdigen Nenner eines ‚Realismus‘ gebracht.

Man sieht jedenfalls, dass Michalzik das aktuelle Theater von den jüngeren, umstritteneren Regisseuren – von Frank Castorf und Christoph Marthaler über René Pollesch bis hin zu Stefan Pucher, und schließlich vom Dokumentarismus der Gruppe Rimini-Protokoll – geprägt sieht. Naturgemäß müssen in einer solchen kompakten Darstellung immer einige Namen und Konzepte zu kurz kommen oder fehlen, die gewiss kaum weniger wichtig sind; Michael Thalheimer als Regisseur, oder deutlicher noch: fast die ganze mittlere und ältere Generation der Schauspielkünstler, von Eva Mattes, Edith Clever, Angela Winkler, Elisabeth Schwarz, Barbara Sukowa, bis Susanne Lothar, Tina Engel, Jutta Lampe, Libgart Schwarz und Corinna Kirchhoff bleiben unerwähnt.

Einleuchtend und aufschlussreich ist hingegen der Überblick über Ausbildungs- und Förderprogramme für junge Theaterautoren, die in den letzten Jahren in vorher unbekannter Form in den (Subventions-)Theaterbetrieb integriert wurden. Daran schließen sich hellsichtige Bemerkungen an zum überaus heiklen Verhältnis von Theaterautoren und Regisseuren (und Schauspielern), die man an der Auftrittsfolge der Beteiligten bei Uraufführungen ablesen kann. Auch die klassischen Dramen, die immer noch aktuell scheinen und viel gespielt werden, also die Theaterstücke von William Shakespeare bis Bertolt Brecht, werden von Michalzik zu einem Westentaschen-Kanon verdichtet und als eine in lebendigen Dialogen miteinander verbundene Reihe verstanden. Diese wirkmächtige Intertextualität wird kurz doch nachvollziehbar demonstriert an der Sprache der Liebenden, die in Shakespeares ‚Romeo und Julia‘ vorbildlich ausgeprägt wurde und in Stücken Friedrich Schillers und Heinrich von Kleists ihre variierende Aufnahme fand.

Eine solche Einführung versucht auch mit ihrer grafischen Aufmachung, lustig und bunt illustriert, Schwellenängste für Theatermuffel zu minimieren. Die Bühnenfotos sind dabei allemal besser gewählt als die nicht selten doch ziemlich flachen Witzchen der gezeichneten, forciert pseudo-lustigen Cartoon-Illustrationen. Übrigens – diese Bemerkung sei bei einem Buch zur Multimedia-Kunst des Gegenwartstheaters erlaubt – riecht dieses Buch (vermutlich wegen des Farbdrucks mit poppig in rot daherkommenden Seitenzahlen) aufdringlich schlecht. Und dies auch noch acht Wochen, nachdem es dem geruchsempfindlichen Rezensenten, gewiss ganz druckfrisch, zugegangen ist.

Noch bessere Dienste würde dieses flott formulierte Handbüchlein zum Gegenwartstheater leisten, wenn es am Ende einen Namensindex der erwähnten Theaterkünstler böte – zum schnellen Nachschlagen vor dem nächsten (oder gar ersten) Theaterbesuch. Der etwas avanciertere Theaterfreund wünschte sich zudem eine internationale Einbettung der deutschen Bühnenentwicklung. Zwar ist das weltweit am besten ausgebaute und am höchsten subventionierte System der deutschen Staats- und Stadttheater in seiner jüngeren Entwicklungslogik und der Abfolge seiner stilbildenden Regisseure wohl tatsächlich relativ autark. Freilich hätte ein Exkurs zu wichtigen nicht-deutschen Theaterinnovateuren von Peter Brook und Ariane Mnouchkine, über Robert Wilson und die Wooster-Group bis hin zur Gruppe Forced Entertainment und weiteren Reisekadern des Festivalbetriebs dem Ganzen noch einen weiteren Rahmen gegeben.

Doch bietet dieses meist präzise analysierende und ansteckend schwungvoll formulierte kleine Buch wirklich eine gelungene Heranführung an Spielformen und Grundkonzepte des Gegenwartstheaters. Und noch der Theaterfan oder angehende Student der Theaterwissenschaften findet hier neben bekanntem Grundlagenwissen doch auch Neues, vor allem in den analytischen Portraits der neueren Regiesprachen.

Titelbild

Peter Michalzik: Die sind ja nackt! Gebrauchsanweisung fürs Theater.
DuMont Buchverlag, Köln 2009.
263 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783832180669

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