Unerwartete Gemeinsamkeiten
Die Herausgeberin Gabriele Sander präsentiert in ihrem Sammelband „In die Augen geschaut“ Gedichte zum Thema Blicke
Von Margarete Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas haben Else Lasker-Schüler und Joseph von Eichendorff gemeinsam? Erstmal nichts – denkt man. Oder nicht viel jedenfalls. Aber in der von Gabriele Sander verantworteten Gedicht-Anthologie stehen ein Gedicht von Lasker-Schüler und eines von Eichendorff direkt nebeneinander – mit sehr ähnlichen Titeln: ‚Mein Blick‘ und ‚Der Blick‘. Darin geht es beide Male um die Lesbarkeit des Blicks. Damit wird plötzlich eine Ähnlichkeit sichtbar, wo man zuvor nur einen großen Bruch zwischen Spätromantik und literarischer Moderne vermutet hätte.
Dieser Bruch, über den hinweg verschiedenste Stimmen miteinander kommunizieren, ist nur einer von vielen, die diesen kleinen, bei Reclam 2008 erschienenen Gedichtband „In die Augen geschaut“ durchziehen und die zugleich auch den Reiz der Sammlung ausmachen. Gedichte, ja sogar Autoren, bei denen man keinerlei Nähe je annahm, rücken plötzlich unter einem neuen ‚Blickwinkel‘ erstaunlich dicht zusammen, beispielsweise Rainer Maria Rilke und Heiner Müller. Beide sind vereint in dem Kapitel „Kinderaugen“, das nur eines von insgesamt zwanzig Kapiteln ist, in die der Band unterteilt ist, und die, wie es im Nachwort heißt, „jeweils Variationen eines Aspektes darbieten“ – eines Aspektes aus der vielfältigen und reichhaltigen ‚Geschichte des Auges‘.
Die systematische Aufteilung erscheint zunächst sinnvoll, beginnt sie doch, nach einer „Einstimmung“, mit der Legitimierung des ganzen Unterfangens, nämlich der Auflösung der Frage, warum „im Aug“ denn nun „alle Kunst beginnen“ müsse (Hermann Broch), also die Bestimmung der Beziehung zwischen Kunst beziehungsweise Literatur und Sehen. Und damit ist dann die Grundlage geschaffen, um einen weiten Bogen zu spannen: vom morgendlichen, erwachenden Blick bis zu den müden und geschlossenen Augen, bis schließlich zum Tod.
Dazwischen ist ein buntes Allerlei versammelt: Gedichte von Autoren und Autorinnen aus allen Epochen, vom Barock bis heute, tummeln sich zwischen Kinder- und Götteraugen, zwischen Liebesblicken und dem Kameraauge, zwischen Augenfarbe, Blindheit und Blick-Entzifferungsversuchen und noch vielem anderem mehr, jeweils fünf Gedichte zu jedem Kapitel. Und hier zeichnet sich dann auch die Schwachstelle des Bändchens ab: auch wenn die Herausgeberin im Nachwort einen Überblick über die vielfältige Bedeutung und Funktion des Auges in kulturellen Zusammenhängen gibt und dabei aufzeigt, dass die angenommene Vormachtstellung dieses Sinnesorganes in der Antike wurzelt und auch, mit welcher Bedeutung es von jeher aufgeladen worden ist – so bleibt doch die Auswahl der Aspekte, die sie dann trifft, unklar und beliebig.
Warum etwa fehlt der ‚böse Blick‘? Oder die psychoanalytische Bedeutung des Blickwechsels? Oder – was sich nur schwach in Morgensterns Gedicht ‚Das Auge Gottes‘andeutet – der ganze Aspekt, der die Macht des Blicks umfasst? Oder warum bleiben die mythologischen Deutungen und Lesarten des Blicks außen vor, ebenso die Codierungen und Tabuisierungen, denen Blicke unterliegen? Dies alles sind Aspekte, die ungenannt bleiben, die auch nicht im Nachwort angesprochen werden.
Aber wie die Beschränkung der Anzahl der Gedichte schon unter rein pragmatischen Gesichtspunkten notwendig ist, ebenso – so kann man argumentieren – ist es natürlich auch die Auswahl der Aspekte, unter denen sie zusammengestellt werden. Vielleicht ist dieses Nichtbenennen der blinde Fleck des Bändchens, der notwendig ist, wie er es auch im Auge ist, um ein Sehen, um Wahrnehmung überhaupt erst möglich zu machen: es ist der Ort, wo der Sehnerv am Auge ansetzt und dieses direkt mit dem Gehirn verbindet.
Und vielleicht macht diese beschränkte Auswahl und Anordnung der Gedichte es ja erst möglich, dass man einen ersten Eindruck von der vielfältigen lyrischen Herangehensweise an dieses ebenso vielfältige Thema bekommt.
|
||