Antisemitische Klischees
Literaturwissenschaftler debattieren über den Stellenwert des „Jüdischen“ in Literatur und Film nach 1945
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung geht es um das komplexe Verhältnis von künstlerisch-fiktionalen Ausdrucksformen und deren politisch-moralischer Bedeutung. Normalerweise sollte die Literatur allerdings in erster Linie Kunst sein. Allenfalls ist sie an ästhetische Regelsysteme gebunden, nicht aber an eine außerliterarische Realität. Zudem ist es nicht üblich, Verantwortlichkeit für ästhetisches Sprechen einzufordern. Problematisch wird es jedoch immer dann, wenn literarische Entwürfe und Figurationen ‚des Jüdischen‘ zu bewerten sind. Während beispielsweise das Spiel mit Stereotypen in belletristischen Werken kaum hinterfragt wird, erkennt die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung im Gebrauch und in der Variation tradierter Judenbilder oft brisante Mechanismen in der Einübung von Vorurteilshaltungen, wobei es aber fraglich ist, ob man von ihnen unmittelbar auf die Einstellung des Verfassers und auf seine Haltung gegenüber Juden schließen kann.
In der Vergangenheit drückte sich in der Literatur oft unmittelbar gängiges antisemitisches Gedankengut aus, man denke nur an Gustav Freytags „Soll und Haben“ und an Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“. Wie aber steht es heute damit, vor allem dann, wenn in der Belletristik der Blick auf die Sprache der Täter „nach Auschwitz“ gelenkt wird? Kann die Literatur heute noch zur Lancierung antisemitischen Gedankenguts missbraucht werden, und ist es legitim, retrospektiv Werke der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur unter diesem Fokus neu zu lesen und zu bewerten? Immerhin sind auch Sprechakte manifeste Handlungen. Wichtig sei es indes, betont der Kulturwissenschaftler Matthias N. Lorenz in seiner Einleitung zu dem in der Reihe „Text + Kritik“ unter dem Titel „Juden. Bilder“ herausgegebenen Band, „an die Autoren und ihre Texte Verfahrensweisen heranzutragen, die philologischen Standards genügen“.
So viel ist wohl sicher, dass literarischer Antisemitismus nach 1945 durchweg nur noch als latenter Antisemitismus auszumachen ist und dass er sich nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert plakativer Bilder bedient, sondern nur noch indirekter Aussagen. Oder sollte man, wie es Klaus-Michael Bogdal vorgeschlagen hat, in diesem Falle von einer Metasprache des Antisemitismus sprechen?
Eine Ahnung, wie schwierig es mitunter ist, literarische Texte und Filme, in denen „Jüdisches“ – in welcher Form und Absicht auch immer –, vorkommt, in einen stimmigen Zusammenhang einzuordnen, die Hintergründe zu erkennen und die mehr oder weniger bewussten Absichten des betreffenden Verfassers dingfest zu machen, vermitteln die hier abgedruckten Beiträge. Anhand einzelner Werke von Schriftstellern, die nach 1945 von sich reden gemacht haben, sowie anhand von Heimatfilmen und deutschen Schulbüchern untersuchen Wissenschaftler von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus, in welchem Zusammenhang hier Judentum und Antisemitismus thematisiert oder nur berührt werden. Dabei kommen biografische Verstrickungen ebenso zur Sprache wie die Bedienung antisemitischer Stereotypen, Semantiken und Narrative, frner einzelne Beziehungen von Nicht-Juden zu Juden, die nicht unbedingt antisemitisch sein müssen. Letztere kommen in verschiedenen Ausprägungen vor und schwanken zwischen Affirmation und Subversion. Die Motivlagen sind dabei recht unterschiedlich. Sie reichen von Rechtfertigungszwängen bis hin zu schmerzlichen Bewusstseinsprozessen und machen deutlich, wie heikel und prekär es sein kann, nach dem Holocaust über Jüdisches zu sprechen – „mitunter auch, zu welchem Preis“.
Yahya Elsaghe, Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bern, sieht in dem Stück „Andorra“ von Max Frisch eine Anverwandlung der jüdischen Leidensgeschichte, die durch den Knaben Andri verkörpert wird, obgleich dieser gar kein Jude ist. Das Mitgefühl mit den Opfern antisemitischer Verfolgung wird hier auf jemanden gelenkt, der zum eigenen Fleisch und Blut gehört. Für Elsaghe ist dieser Vorgang eine „poetische Aneignung jüdischen Leids“. Andri muss als Sündenbock für einen Mord herhalten, obwohl er dann doch wegen seines vermeintlichen Judentums festgenommen wird. Im Grunde schafft sich jede Gruppe ihre Sündenböcke. Doch wollte Frisch wohl nicht nur diese Ansicht kundtun, sondern vor allem eine Attacke gegen das schweizerische Publikum starten, gegen dessen pharisäerhaftes Verhalten gegenüber der deutschen Schuld sowie gegen den tendenziellen Antisemitismus in der Schweiz. Selbst ein Judas fehlt hier nicht, der alle, vor allem aber Andri, verraten hat und sich schließlich erhängt. Antisemitismus kommt in diesem Stück am Ende nur am Rand ins Spiel, an der Grenze und en passant als Appell an die seinerzeit noch philosemitischen Schutzreflexe der Andorraner. Frisch gibt zwar zu verstehen, dass die Andorraner als Kollektiv schuldig sind und jeder von ihnen die Züge des Judas trägt, nur ist die Schuld nicht gleichmäßig verteilt.
Gerhard Scheit äußert sich über Alfred Andersch und zitiert Ruth Klüger, die in einem Essay behauptet hat, dass sich unter den westdeutschen Nachkriegsautoren Andersch wie kein anderer ausführlich mit dem „Judenproblem“ beschäftigt habe. Er habe seine Figuren jüdischer Herkunft als Manifestationen einer „Wiedergutmachungsphantasie“ vor Augen geführt. Was sollte damit abgegolten werden? So fragt Scheit und weist darauf hin, dass Andersch immerhin seine jüdische Frau und sein Kind „der mörderischen Willkür der Rassengesetze ausgeliefert, ja 1943 – auf dem Höhepunkt der Endlösung – auf einer Scheidung bestanden“ habe. Andersch war der erste deutsche Schriftsteller aus der Bundesrepublik, der als Nichtjude das Problem des Antisemitismus aus jüdischer Perspektive imaginiert hat. In „Sansibar oder der letzte Grund“ von 1957 stellt Andersch eine Jüdin dar, der die Flucht aus Hitlerdeutschland gelingt. Dabei gehe es, so Scheidt, weniger um den Konflikt mit dem Nationalsozialismus als um die Abwendung von der Kommunistischen Partei. Gleichwohl ist die Protagonistin Judith nach allen gängigen Klischees der „schönen Jüdin“ gestaltet. So habe Andersch nur Kitsch produziert anstelle von Kritik.
Sein Roman „Efraim“ (1967) wiederum pendelt zwischen gespielter Gleichgültigkeit und verdrängtem Ressentiment, zwischen Schein und Sein und bringt etwas von der Situation des Überlebenden zum Ausdruck.
Das macht auch Jean Améry, mit dem Andersch korrespondierte. Aber Améry, der die Folter am eigenen Leib erlebt und erlitten hat, gelingt der Schutz vor den eigenen Erinnerungen nicht. Andersch habe, so Scheidt, in „Efraim“ die Ästhetisierung des Schreckens und den Protest gegen ihn ausbalanciert, doch bringe die Konstruktion, die Andersch mit „Efraim“ versucht hat, nicht nur Kitsch hervor. Sie erlaubt es ihm auch, seine Erfahrungen als Wehrmachtssoldat und Wehrmachtsdeserteur zu verarbeiten. Erst 1974 gelingt es Andersch, mit dem Roman „Winterspelt“, jene Konstruktionen zu überwinden, in denen stets die Schuldabwehr eine vollständige Verurteilung des antisemitischen Wahns sabotiert habe.
Martina Ölke macht sich in ihrem Beitrag Gedanken über „antisemitische Reinigungs- und Ausschlussprozesse in der DDR-Literatur“ am Beispiel von Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“. Ausgehend von einem Text von Anna Seghers weist sie darauf hin, dass das stalinistische Denken in binären Oppositionen dem Fortwirken antisemitischer Stereotypen in der kommunistischen Bewegung und der späteren DDR den Weg bahnte, da es durchaus „Affinitäten der marxistisch-leninistischen Ideologie zu antisemitischen Denkmustern“ gegeben habe: Beide hängen einem dualistischen Weltbild an, befördern den Ausschluss ihnen nicht genehmer Menschen und huldigen dem ‚Reinigungswahn‘.
Obwohl die DDR in ihrem offiziellen Selbstverständnis das Erbe des besseren Deutschlands, des antifaschistischen Widerstands, angetreten habe, sei die jüdische Herkunft von Autoren entweder nicht oder nur mit antisemitischen Konnotationen thematisiert worden. Außerdem waren Juden im Vergleich zu Kommunisten immer Opfer zweiter Klasse. In Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ etwa wird ein dreijähriger jüdischer Junge im Lager Buchenwald von den dort einsitzenden kommunistischen Häftlingen zur biblisch konnotierten Erlöserfigur stilisiert. Allerdings nur um den Preis, dass dem Kind seine jüdische Herkunft genommen wird, damit er als Gereinigter in den kommunistischen „Kollektivkörper“, der die Identifikationsbasis für den neuen Staat bildet, aufgenommen werden kann. Auch in Apitz’ Novelle „Esther“ werden die jüdischen Figuren zu Vertretern einer alten, zu überwindenden Welt, deren Opfer der neuen Gemeinschaft zum Durchbruch verhilft. Die Jüdin Esther geht stellvertretend in den Tod, um das Überleben des kommunistischen Kapos Oswald zu sichern.
Mit der „jüdischen Ökonomie und Kultur“ in Martin Walsers Roman „Angstblüte“ befasst sich Franziska Schößler. Im Roman dreht sich alles um Zins und Zinseszins und um das Altern. Obwohl die Rothschilds hier zum Vorbild eines heiteren Geldverdienens stilisiert werden, führte Walser mit diesem Werk einen gewissen antisemitischen Diskurs fort, ähnlich wie in seinem umstrittenen Roman „Tod eines Kritikers“, in dem er Juden für Tätigkeiten in der Presse und im Schauspiel als ‚besonders tauglich‘ erklärt hat.
Dass antisemitische Klischees nach Auschwitz nicht sofort einfach über Nacht verschwunden waren, sondern als Bestandteil eines tradierten kulturellen Systens sogar nach 1945 vorerst noch im Gedächtnis verankert blieben, verdeutlicht Julia Ansbach am deutschen Heimatfilm nach 1945 und untersucht dabei besonders die Filme „Schwarzwaldmädel“ (1950), „Drei Mädels vom Rhein“ (1955) und „Sohn ohne Heimat“ (1956).
Vor einigen Jahren wurde Dani Levys erfolgreicher Film „Alles auf Zucker“ (2004), sehr begrüßt. Zeigte er doch, dass sechzig Jahre nach der Shoah im Land der Täter über Juden gelacht werden konnte. Doch außer einigen harmlosen Motiven und negativen Bildern, die Mittel der Komik sind, hebt Oliver Lubrich hervor, nahmen hier antisemitische Vorurteile den breitesten Raum ein, die nicht unproblematisch sind. Matthias N. Lorenz entdeckt dagegen filmische Inszenierungen des Antisemitismus in der 1997 neu aufgelegten Schimanski-Serie, die am 11. Januar 2004 unter dem Titel „Das Geheimnis des Golem“ im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Liliane Ruth Feierstein hat hingegen Darstellungen von Juden, Judentum und Israel in deutschen Schulbüchern unter die Lupe genommen und festgestellt, dass diese oft verzerrte Bilder von der jüdischen Kultur, Religion oder dem Staat Israel vermitteln. Wie werden diese Schüler handeln, wenn sie erwachsen und politisch mündig geworden sind? fragt sich die Autorin.
Den Schluss des Buches bildet ein Aufsatz von Torben Fischer über den Stand der Forschungsgeschichte zum „Literarischen Antisemitismus“. Immerhin gehorcht diese Richtung, gibt Fischer zu bedenken, nicht nur einer wissenschaftlichen Eigenlogik, sondern bleibt auch gebunden „an die erinnerungs- und identitätsgeschichtlichen Dynamiken nach 1945“.
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