Erstaunliche Leerstelle

Eine Lektüre der anregenden Aufsätze von Ilina Gregori legt die Frage nahe, wieso es in Deutschland keine kulturwissenschaftliche Rumänistik gibt

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erklären kann man das nicht“ – muss man sich mit dieser in der Werbung eingesetzten Phrase begnügen? Der Fall ist jedenfalls kaum mit herkömmlichen Kriterien zu verstehen. Da gibt es in Europa (und für die, die eher in politischen Institutionen denken: in der EU) einen Staat mit einer eigenen Sprache, die von 20 Millionen Einwohnern (und über einer Million in der Diaspora und weiteren geschätzten 2 Millionen in der Republik Moldova) gesprochen wird. Entsprechend der für viele europäische Länder geltenden historischen Entwicklung wurden in dieser Sprache seit Ende des 18. Jahrhunderts eine wachsende Zahl literarischer Texte publiziert. Der allmähliche Ablösungsprozess von der kyrillischen Schrift (dem Kirchenslawonischen) und die Öffnung für westliche Sprachen wie das Französische und Italienische ließen eine rumänische literarische Öffentlichkeit entstehen, die zugleich auch eine wichtige Rolle bei der Geburt der noch unter osmanischer Hoheit stehenden Nation spielte. Als nach dem Ersten Weltkrieg das vorher ungarische Siebenbürgen mit dem rumänischen Königreich unter der Herrschaft des aus der deutschen Hohenzollern-Dynastie vereinigt wurde, hatte sich ein Staat von beträchtlicher Größe und nicht unbedeutender geostrategischer Lage herausgebildet, der sich heute, nach zwei Diktaturen, glücklich preist, wieder westlichen Institutionen anzugehören.

Sprache und Literatur in diesen Gesellschaften im historischen Verlauf zu untersuchen, ist von höchstem Reiz für alle neugierigen, auf westliche Nabelschau verzichtenden Geisteswissenschaftler – eigentlich ein gefundenes Fressen vor allem für Romanisten, die sich ja per se dem Nach-Lateinischen zuwenden und mit dem Lusitanischen, Rätoromanischen, Okzitanischen, Katalonischen und noch selteneren Sprachen gern auch die ‚exotischen‘ Seiten ihres Faches untersuchen. Und dennoch: Ein ausgeprägtes Studium und die akademische Pflege der rumänischen Sprache und Literatur (in der Geschichtswissenschaft sieht es möglicherweise etwas besser aus) findet nach der weitgehenden „Abwicklung“ der DDR-Romanistik so gut wie nicht an deutschen Universitäten statt. Auch die reiche bundesdeutsche Publikationsindustrie tut sich außerordentlich schwer, wenn es um eine regelmäßige Berichterstattung, Hintergrundinformationen oder größere Darstellungen über Rumänien jenseits der Diskurse der an einer Hand abzählbaren Spezialisten geht.

Zwar haben aus den deutschen Minderheiten Rumäniens stammende Autoren dazu beigetragen, dass die literarischen Ausdrucksweisen des Deutschen um dieses balkanisch-östliche Fluidum bereichert wurden und auch die ein oder andere Einsicht in die Geschichte der ‚Sachsen‘ und ‚Schwaben‘ befördert. Darüber hinaus hat die rumänische Gesamtgeschichte und Kultur jedoch auffallend wenig Interesse gefunden.

Die mit Milliarden von Euro an Steuergeldern unterhaltenen Geisteswissenschaften an den Universitäten in Deutschland bringen zwar Mittel für Excellence clusters zum Recycling längst gedachter Ideen in Endlosschleifen auf, aber: Soweit mit den Mitteln des Internets zu recherchieren, gibt es in ganz Deutschland in diesem Sommersemester keine einzige Veranstaltung für Studierende im Hauptstudium zur rumänischen Literatur. Zwar rühmt sich der Romanistik-Lehrstuhl an der Universität Jena mit der „einzigen Professur für Rumänisch“ in der deutschen Hochschullandschaft, aber die Zahl ihrer Studierenden scheint gering zu sein, Literaturwissenschaft etwa findet an der linguistisch ausgeschriebenen Professur lediglich sporadisch durch Lektoren statt. Wie sich überhaupt die Rumänistik in Deutschland als Torso meist linguistischen Interesses an den faszinierenden Sprachbesonderheiten des Rumänischen darstellt, aber keine einheitliche Erforschung von Sprache, Literatur und Kultur Rumäniens bietet. In der früheren Rumänisch-Hochburg Heidelberg, an der der Hugo Friedrich-Schüler Klaus Heitmann das Fach profilierte, wurde Rumänisch nach heftigen Auseinandersetzungen eingespart. Ebenso wurde nach der Emeritierung des Antonio Gramsci-Spezialisten und rumänistischen Linguisten Klaus Bochmann an der Leipziger Universität die Möglichkeit, sich mit der rumänischen Literatur zu beschäftigen, auf ein Minimum reduziert. An der Humboldt-Universität Berlin unterrichtet Professorin Michèle Mattusch sowohl Französisch als auch Italienisch, veranstaltet immerhin in ihrem dritten Lehrbereich auch Seminare und kleinere Tagungen zur Rumänistik und hat eine Reihe literaturwissenschaftlicher Publikationen in der Rumänistik vorzuweisen.

An der Universität München, die sich ebenfalls rühmt, eine „Vollromanistik“, das heißt die wichtigsten fünf romanischen Philologien unter Einschluss des Rumänischen, zu pflegen, findet diesen Sommer lediglich ein Proseminar zu Camil Petrescu statt. An der Freiburger Uni, die ebenfalls ihre Romanistik hervorhebt, hält nach dem Tod von Paul Miron dessen Mitarbeiterin Elsa Lüder interessante Seminare zur rumänischen Literatur – meist für das Grundstudium. Den Schwerpunkt der romanistischen Lehre und Forschung des Romanischen Seminars bilden eher Aufmerksamkeit erheischende Themen wie Split Transivity oder Migrationslinguistik des Rio de la Plata-Gebiets. In Tübingen finden ebenfalls Literaturseminare zu Rumänisch nur auf der Proseminar-Ebene statt. Die wenigen in Deutschland mit Rumänistik beschäftigten Akademiker haben sich in einem Balkanromanisten-Verband organisiert, der meist außerhalb größerer Öffentlichkeit aktiv wird.

Wie soll in einer so dünn besiedelten universitären Topografie ein Meilenstein wie die vorliegende Aufsatzsammlung der früher an der FU Berlin tätigen Rumänistin Ilina Gregori ihren Platz finden? Welche überregionale Zeitungsredaktion wird jeden Rezensionswunsch nicht mit der zu speziellen, das heißt nicht marktgängigen Thematik ablehnen? Wer wird über den (in der Tat etwas trocken-akademischen) Haupttitel hinaus den Band wahrnehmen und in den Zusammenhang der ja heute nicht mehr nur nationalsprachlichen Literaturdiskussionen integrieren wollen? Wie könnte in Deutschland denn auch nur die Kenntnis der behandelten Autoren, die hier mit avanciertem theoretischem Instrumentarium in einen europäischen Kontext der Moderne gestellt werden, erlangt werden? Dabei hatte Mihail Eminescu, der viel zitierte „Nationaldichter“ Rumäniens, in Berlin und Jena studiert und aus deutschen Quellen wie etwa Arthur Schopenhauer, der Berliner Völkerkunde des 19. Jahrhunderts und den romantischen Märchen geschöpft (sein Hauptwerk „Luceafărul“ geht zurück auf ein rumänisches Märchen, das ein deutscher Reisender in einer Reiseerzählung aus Rumänien veröffentlicht hatte). Was hilft der Hinweis der Autorin in dem Artikel über Mateiu Caragiale, dass sein Vater Ion Luca Caragiale, der Klassiker der rumänischen satirischen Bühne, 1912 in Berlin im Exil starb und auch der Sohn dort Jahre verbrachte? Wer kennt diesen Dandy und Exzentriker von europäischem Format und gar die deutschen Bezüge in seinem Werk?

Er ist ins Deutsche nicht übersetzt. Wem nützen die zahlreichen Trouvaillen und interpretatorischen Finessen der Exegetin, die uns auf nur einer Buchseite wie nebenbei mit einer Theorie des Exils in Mircea Eliades Diaristik konfrontiert oder in einem anderen Aufsatz die Witz-Theorie Freuds mit Verve und äußerster Klugheit auf die vätermörderischen Satiren Ion Luca Caragiales und deren soziale Dimension anwendet?

Die Leichtigkeit, mit der die Autorin die zufällige Koinzidenz der Publikation von Radu Petrescus Tagebüchern mit dem Erfolg Mircea Cărtărescus zu einer Diskussion postmoderner Ich-Erfahrung und literarischer Möglichkeiten unter den Bedingungen der Repression und Zensur verknüpft, ist ein Beispiel für die außerordentliche Beobachtungsgabe und intellektuelle Eleganz der Lektüren Ilina Gregoris. Die enorme Breite des Spektrums der zur Anwendung gelangenden theoretischen Ansätze situiert die rumänische Literatur jenseits einer lediglich regionalistisch-sprachlichen Besonderheit in aktuellen Zusammenhängen textkritischer Diskurse. Somit stellt sich wie von selbst der Vorschein einer auf Aktualität Anspruch erhebenden literaturwissenschaftlichen Rumänistik ein – die unter den gegebenen Umständen aber wohl kaum eine größere Wirkung entfalten kann. Welche Chancen der Romanistik und den Geisteswissenschaften in diesem Falle entgehen, werden nur diejenigen feststellen können, die sich auf die hier vorgelegten Ansätze einer noch zu begründenden Gesamt-Rumänistik einlassen wollen.

Titelbild

Ilina Gregori: Rumänistische Literaturwissenschaft. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008.
331 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825352608

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