Über das Abschneiden von Pilzköpfen

André Thiele äußert sich in „Eine Welt in Scherben“ zu Staatsvernunft und Freiheit

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Noch das ganze 18. Jahrhundert entscheidet sich, wo es zur Feder greift, gegen den Staat und für die Freiheit“, stellt André Thiele in einem seiner in diesem Band gesammelten „Essays & Historien“ fest. Aus seiner Feder ist das aber kein Lob, sondern bestenfalls eine Entschuldigung – hier für Hinrich Janssen, der als „Landpoet“ am Rande der deutschen Literaturgeschichte die gut 270 Jahre seit seinem Tod überdauert hat.

Man kann zwar Thiele nicht unterstellen, er wäre gegen die Freiheit – dazu ist ja schon der Begriff viel zu unklar und wäre zu klären, wessen Freiheit gemeint ist, wovon Freiheit und wozu. Jedoch ist er unmissverständlich für den Staat als dem Garanten von vernünftiger Ordnung und Fortschritt. Bezogen auf das 18. Jahrhundert heißt das: gegen die Stände, für den Absolutismus. Und bezogen auf das frühe 19. Jahrhundert: für Napoleon und nach dessen Niederlage für die deutschen Territorialfürsten.

Damit sind die Epochen benannt, mit denen sich Thiele in fünf seiner sechs Texte befasst. Neben Janssen gerät auch Johann Christoph Gottsched in den Blick, den Thiele dem geläufigen Bild entgegen sehr entschieden als politischen Autor vorstellt: Spätestens seit 1740, dem Regierungsantritt Friedrichs II. in Preußen, habe Gottsched sich „in jeder Publikation vehement zum modernen, rationalen, junkerfeindlichen Staat“ bekannt.

Schon diese beiden Essays, die den Band eröffnen, zeigen sowohl die Stärken als auch die Schwächen der ganzen Sammlung. Da ist auf der einen Seite ein klarer, unsentimentaler und vernünftiger politischer Blick. Die romantische Unsitte, einen funktionierenden Staat als kalt, entfremdet und unterdrückend zu denunzieren, schleppt sich leider bis in unsere Tage. Thiele zeigt im Janssen-Essay, was ständische Freiheit bedeutet: Weihnachten 1717 zerstörte eine Sturmflut Janssens Oldenburger Heimat, weil eine zentrale Kontrolle der Deiche fehlte. Die Grafschaft Oldenburg gehörte zum Königreich Dänemark: Nach der Katastrophe brachte eine königliche Deichkommission die freien Landbesitzer unter Kontrolle und regelte den Wiederaufbau zentralistisch und erfolgreich. Auch weiß Thiele das Richtige gut zu formulieren; er schreibt außerordentlich klar und findet erhellende Pointen in großer Zahl.

Dabei gehört die zugespitzte Äußerung, die man nicht in jedem Fall ganz wörtlich nehmen darf, zur Gattung, die aufs Ergebnis zielt, nicht auf dessen Herleitung und Begründung; Thiele verspricht ja im Untertitel „Essays & Historien“, nicht aber „Belege & Dissertationen“. Im Klappentext ist auch davon die Rede, dass der Autor „in hohem Tempo das Bild einer Geisteswissenschaft abseits der Hauptstraßen ins Nichts“ zeichne. An einigen Stellen freilich hätte sich der Rezensent auf der anderen Seite ein nur mittleres Tempo gewünscht. Das gilt besonders für die Historie „Von der Kraft kleiner Gaben“, in der Thiele zeigt, wie sich der für geistesgestört gehaltene Schriftsteller Johann Karl Wezel aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen versucht, sein Schicksal jedoch von der Gegenaufklärung ausgenutzt wird. Thieles Fazit lautet nicht nur: „Privatisieren geht schief.“ Die beliebte Wendung von der „Aufklärung der Aufklärer“, für die wie manch anderer Autor auch Wezel in Anspruch genommen wird, mag Thiele gar nicht. In der Tat stellt sich die Frage, ob und in welchen Fällen diese scheinbar abgewogene Formel nur Aufklärungsfeindschaft tarnt. Um das zu zeigen, hat Thiele immense Recherchearbeit geleistet, das Ergebnis aber auf gerade einmal sechzehn Seiten zusammengefasst, die dann von Namen und Daten überfrachtet sind. Fast in jedem Absatz eine neue Person, ein neuer Ort – irgendwann kapituliert hier auch der gutwilligste Leser. Das ist schade, denn in Zeiten postmodernen Verfalls ist jede Verteidigung der Aufklärung zu begrüßen.

Weitaus leichter nachzuvollziehen ist dagegen der viel ausführlichere Text zu Saul Ascher, dem preußisch-bonapartistischen Publizisten, zu dem vor allem Walter Grab und Peter Hacks schon Substantielles vorgelegt haben. Sei es, dass die Auseinandersetzungen im napoleonisch kontrollierten Preußen um 1810 bekannter sind als die Zustände in Wezels Rückzugsort Sondershausen, sei es, dass Thiele hier mit überschaubarerem Personal arbeitet und ein wenig mehr erklärt: Obgleich er auch zu Ascher mehr Daten und Fakten herausgefunden hat als mancher Fachwissenschaftler zu seinen Aufsatzthemen, werden in diesem Fall die Konflikte weitaus klarer. Dabei macht Thiele nicht nur ganz neue Informationen über Aschers Leben und Publikationen zugänglich und liefert überzeugende Erklärungen für dessen nur scheinbare politische Seitenwechsel, die sich bei genauer Betrachtung der wechselnden Lagen als konsequenter Bonapartismus herausstellen. Vor allem liefert er weitere Argumente gegen die Legende, nach der preußischen Niederlage von 1806 / 1807 hätten Stein-Hardenberg’sche Reformen stattgefunden. Tatsächlich ging es darum, ob Preußen, wie Hardenberg es wollte, ein moderner Verwaltungsstaat werden könnte oder ob – wie Stein und mit ihm die Romantiker träumten – ein feudalistischer Ständestaat restauriert würde.

Dieser Konflikt hatte seine Vorgeschichte und seine Verbindungen zur zeitgenössischen Literatur. Beides zeigt Thiele in dem Essay „Verschwörung und Partei“ auf, und auch hier geht es ihm um den Staat. Auf knappem Raum skizziert er die Geschichte der Illuminaten, denen in den wenigen Jahren zwischen 1776 und 1790 fast alle auch nur halbwegs bedeutenden Intellektuellen in Deutschland zumindest zeitweise nahestanden. Anfangs schien offen, ob ein „Bonapartismus der Kabinette“ oder ein irrationalistisches Programm ständischer Freiheit für Feudaljunker das Ziel sein sollte: „Die einen wollten auf die Fürsten einwirken, die anderen wollten sie abschaffen zugunsten ihrer Privilegienordnung“.

Nicht zu Unrecht identifiziert Thiele die erste Gruppe mit der späteren Klassik, die zweite mit der späteren Romantik; und als klar war, dass die zweite die Illuminaten beherrschen würde, hielt sich die Klassik von Verschwörungen fern.

Ob Thieles Verallgemeinerung trägt, dass Verschwörungen primitiv, geheim und gegen den Staat seien, dabei Begeisterung weckten, wäre zu diskutieren. Immerhin sind inzwischen Lagen denkbar, in denen romantische Kräfte sich des Staates bedienen, um eine Vernunftordnung zu zersetzen, so dass sich umgekehrt die Klassik auf die Verschwörung verwiesen sieht. Dafür steht exemplarisch der deutsche Faschismus in seiner Opposition zu jeder staatlichen Ordnung. Wahrscheinlich müssen Verschwörungen, wie andere politische Formen auch, je nach Lage beurteilt werden.

Der letzte Essay des Bandes scheint ein wenig den Rahmen zu sprengen. Das Tempo ist noch erhöht, denn die „Motive einer historischen Theorie der Kochkunst“ reichen von frühesten Menschenhorden bis in die Gegenwart. Diese kurze Geschichte des Essens liest man dennoch mit Gewinn, denn ein Leitgedanke hält sie zusammen: Dass kulinarische Differenzierung mit sozialer Differenzierung zu tun hat. Die Entwicklung der Zutaten und ihrer Zubereitung entspricht jener der Klassen und Stände. Thiele ist kein Prediger der Gleichheit: Dass sich die Oberen von der Masse abzusetzen versuchen, ermögliche erst die Kochkunst. Deren Höhepunkt sieht Thiele, wenig überraschend, im Absolutismus erreicht – insofern fügt sich der Schluss-Essay stimmig in den Band ein. Das Bürgertum, sobald es zur Herrschaft gelangte, brachte dagegen eine Küche des schlechten Gewissens hervor. Seine „Triumpharomen“ – Trüffel, Austern, Hummer, Kaviar, Gänsestopfleber – sind sämtlich von der oberen Klasse okkupierte Armeleute-Essen.

Wird hier noch „das überwundene eigene Elend gegessen“, so erscheint die „Küche des postkolonialen Imperialismus“ als Orientierungslosigkeit im Verfall. Thiele attestiert der Nouvelle Cuisine eine „Entsinnlichung der Kochkunst“, die „keine integrierende Form mehr“ habe, „Askese und Verschwendung in einem“. Hoffnungslos? „Es gäbe Rezepte“.

Die mehrdeutige Schlusswendung zeigt die Stärke von Thieles Stil. Fast alles in diesen Essays und diesen Historien ist prägnant formuliert und so, dass es den Leser fordert. Thiele mag, dies als Beispiel, die mittelalterlichen Stände nicht, und das kann man gut verstehen. Den exzessiven Gewürzgebrauch der Zeit wertet er als Einsatz von Drogen: „Und eine Aufhellung der Stimmung kann eine Klasse im Untergang gut gebrauchen“. Doch hätte Hildegard von Bingen, die er als Beispiel anführt, im 12. Jahrhundert mehr als nur bedröhnt sein müssen, nämlich eine wirkliche Prophetin, um den Untergang ihrer Klasse vorherzusehen. Außerdem spricht das Faktum, dass der Gewürzhandel Ende des 16. Jahrhunderts zusammenbricht – also am Beginn des Absolutismus –, gerade nicht für diese These. Ob dann unter Ludwig dem XIV. das Abschneiden von Pilzköpfen an irgendeinem Waldesrand den örtlichen Honoratioren ihr mögliches Schicksal zeigte? Der Gedanke ist reizvoll, überschätzt aber wohl die Reichweite des frühneuzeitlichen Staates, der in der Fläche schwach blieb.

Doch immerhin, Thiele denkt den Staat und damit die Voraussetzung jeder sinnhaften Politik. Und mehr noch: Thiele dachte ihn schon, bevor er heute wieder in aller Munde ist und doch nur dazu dient, unter den zahlreichen Schrottfirmen die allertraurigsten aufzukaufen und ihn dadurch nur noch weiter zu schwächen. Allein das schon macht die Essays und Historien zu einer der wenigen neueren politischen Veröffentlichungen, über die zu streiten überhaupt lohnt.

Titelbild

André Thiele: Eine Welt in Scherben. Essays und Historien.
Verlag André Thiele, Mainz 2008.
112 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783940884060

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