Ein Mythenstifter und Pädagoge

Karl Mays schriftstellerische Arbeit

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig und Gudrun SchuryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gudrun Schury

Ein hochberühmter Autor war er schon zu Lebzeiten, und er ist es noch heute. Fast wie den Weihnachtsmann gingen ihn viele an, um Geld, Autogramme und Auskünfte zu erhalten. In seinem Werk fallen ein paar seltsame Motive ins Auge. Da fehlen häufig die Mütter von wichtigen Figuren, als seien die auf die Welt gefallen. Dann stechen viele Prügelszenen ins Auge, oft züchtigt man – und das erbarmungslos – um Menschen zu bessern. Er schreibt einmal: „Durch die Kinderjahre hindurchgeprügelt.“ Ob das autobiografisch gemeint war, weiß man nicht. In seinem Spätwerk schließlich dominiert das allegorische Schreiben. Die Rede ist von Wilhelm Busch (1832-1908).

Ach, Sie haben an Karl May gedacht, weil auf den all dies ebenfalls zutrifft? Es gibt noch mehr Autoren, zu denen sich Parallelen ziehen lassen, beispielsweise den Lyriker Friedrich Rückert (1788-1866). Schon die Respektlosigkeit Mays wie Rückerts ihren Texten gegenüber, die verhinderte, dass ihr Werk und dessen Dimensionen überhaupt sichtbar werden konnten, ist ein trauriges tertium comparationis. Maßlosigkeit im Produzieren, gleichsam eine Graphorrhöe, ist eine zweite Parallele. Rückert begann in der Regel um vier Uhr früh, endete nicht vor zehn Uhr abends, May schrieb öfters die Nacht hindurch in tranceartigen Schreibschüben, die nicht einmal durch Mahlzeiten unterbrochen werden durften. Das enge Motivgeflecht von Orient, Heimat, Sehnsucht nach Verlorenem verbindet die Autoren als Drittes. Die Freude an Verkleinerungsformen vereint die beiden, und die Fülle an Sprachen, die Rückert wirklich beherrschte (ca. 50), und die Karl May zu sprechen eine Zeit vorgab (unendlich viele). Zuletzt findet sich hier wie da ein forcierter Gottesglaube, eine unermüdlich-ermüdende Beschwörung metaphysischer Sicherheit und Rettung, die auf die Regressionsbedürftigkeit, also ihr Leiden nur um so deutlicher hinweist.Ähnlichkeiten gibt es auch mit einem noch berühmteren Kollegen: Friedrich Schiller! Um sich beim Produzieren wach zu halten, sind Schiller wie May exzessive Kaffee-Trinker und Tabak-Freunde. Bei diesem zeitweiligen Trance-Schreiben verwundert es nicht, dass Schiller und May manchmal ganz in die Welt ihrer Schöpfungen versanken. Beide sind deshalb im Wortsinn „unheimlich“ produktiv. Die Qualität des Schiller’schen Werks ist – obwohl es an Kritikern nie mangelte – anerkannt, doch auch May versuchte, seinen Schreibstil am klassischen Ideal zu veredeln. Jedesmal, wenn er zu schreiben begann, fiel sein Blick auf einen Zettel, den er über dem Schreibtisch angebracht hatte. Darauf stand:

„Die Gestalten klar, hell, rein, und gross
Vermeide harte, grelle, schmerzhafte Lichter
Klassische Formen, in erhabener, abgeklärter Ruhe
Flimmere nicht! Sei nicht theatralisch!
Schlichte Wahrheit!
Hüte dich zu schulmeistern!“

Gerade das aber blieb May auf Lebenszeit: ein verhinderter Schulmeister! Durch jugendliche Vergehen scheiterte seine Katheder-Karriere, also setzte er sie in den Büchern fort, wo seine Ich-Helden selbst die größten internationalen Experten schlimmer Irrtümer überführen und Nachhilfe geben. Wahrscheinlich finden sich auch deshalb bei May so viele rhetorische Fragen, so viele Lehrsätze und Sprichwörter. Da fehlen natürlich nicht die Schiller-Worte, denn des Klassikers Sentenzen-Seligkeit ist geradezu notorisch. Wie Karl May stützte sich auch Schiller beim Schreiben fast ausschließlich auf seine Fantasie und seine Bücher. Er war nie in der Schweiz, in Spanien, Russland, Italien, England, Frankreich, obwohl seine Dramen dort spielen. Und auch May reiste bis 1899 nur mit dem Finger auf der Landkarte durchs wilde Kurdistan, die Kordilleren oder den Llano Estacado. Schiller und May mischten außerdem Motive, Gestalten und Themen, zitierten hemmungslos und schöpften ohne Bedenken aus ihren Quellen. Kurz, sie pflegten, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, einen überaus laxen Umgang mit geistigem Eigentum und schufen doch aus fremden Werken eigene Welten.

Es sind Welten, in denen das Gute zwar – so will es beider Idealismus – letztlich triumphiert, doch ohne Zweifel begeistern sich beide besonders für Verbrechen und ihre Täter, für, wie Schiller sagt, „außerordentliche Menschen“, „Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhänget“. Vielleicht auch, weil sie selbst Ex-Verbrecher waren – Schiller als Derserteuer, May als Kleindieb und Trickbetrüger, verurteilt zu acht Jahren Haft.Der wichtigere Grund war aber wohl, dass ihnen die Wirkung ihrer Werke alles bedeutete. Also griffen sie tief hinein in die Trickkiste, um die Zuschauer- und Leserherzen im Sturm zu nehmen. Schon die frühe Prosa Schillers im „Geisterseher“ kennt grelle Effekte, genauso „Die Räuber“, „Fiesco“ und „Die Jungfrau von Orleans“, wo große Grausamkeit, rührselige Szenen, pompöser Opernzauber, Donnerschlag und Geistererscheinung vorkommen. Das provozierte häufig genug den Vorwurf, der Klassiker bemühe allzu unbeschwert Kitsch und Kolportage. Ernst Bloch bewertet die Vorliebe des Klassikers für diese Elemente positiv: „Schiller hatte Interesse für alles, was an einem Galgen hart vorbeistreifte oder dort hängen blieb.“

Karl May soll nun nicht zum Klassiker stilisiert werden, aber sein Standort inmitten der Literatur seiner Zeit ist nicht zu bestreiten. Die Literaturwissenschaft hat dennoch von dem vermeintlichen Triviallschriftsteller lange nichts wissen wollen. Gehört er aber überhaupt zur Trivialliteratur? „Die Reproduktion ist die eigentliche Produktion des Trivialromans! […] Die stereotypisierte Darstellung der Handlung, der Person und der Sprache verläuft anhand einer bestimmten Matrix: Die Erzählung beginnt mit einem lösbaren Konflikt, in die die handelnden Personen geraten, die mit einfachen und allgemein gehaltenen Beschreibungen charakterisiert werden und die selbst in Dialogen nur einfache und allgemein verständliche Wörter gebrauchen. Nach dem leicht nachzuvollziehenden Auf und Ab des Geschehens folgt der ,gut ausgehende‘ Schluss.“ So definieren es Walter Nutz, Katharina Genau und Volker Schlögell. Bei grundsätzlichen Übereinstimmungen gibt es aber doch zahlreiche Abweichungen von dieser Art Schemaliteratur. Allein schon Karl Mays pädagogisch-didaktische Absichten, seine christliche Mission sowie sein Selbstbewusstsein als Autor, der zwischen Kolportage und den Reiseerzählungen unterschied, sein manchmal geradezu künstlich komplizierter Wortschatz und vor allem seine wild wuchernde Handlung stehen zur Trivialliteratur-Definition im Gegensatz. Nimmt man hinzu, dass immer wieder tragische Vorfälle geschehen, Helden schwere Schuld auf sich laden, im Spätwerk allegorisch und in rhythmisierter Prosa geschrieben wird, dass May außer Reiseerzählungen viele ganz andere Werke verfasste, kann nur eine punktuelle Berührung mit der Trivialliteratur behauptet werden.

Karl May ist einer der wenigen deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts, die heute außerhalb von Schule und Hochschule intensiv gelesen werden. Außer ihm gilt das eigentlich nur noch für Wilhelm Busch oder für Märchenautoren. Tatsächlich sieht Ernst Bloch da eine enge Verwandtschaft: „Karl May ist aus dem Geschlecht von Wilhelm Hauff; nur mit mehr Handlung, er schreibt keine blumigen Träume, sondern Wildträume, gleichsam reißende Märchen.“

Mays Prominenz bis zum heutigen Tag fußt auf seinem Erfolg im 19. Jahrhundert. Er begann um 1875 zu schreiben, in einer Zeit, da der literarische Markt Autoren benötigte. Die Zahl der Lesefähigen wuchs stetig, die Freizeit breiter Bevölkerungsschichten und ihr Bildungsanspruch ebenso. Die Beleuchtung verbilligte sich durch Einsatz von Petroleumlampen, Gaslicht und bald auch der Elektrizität. Lesen besaß ein hohes Sozialprestige, die Bücher hatten allerdings einen vergleichbar hohen Preis, so dass Buchbesitz lange Zeit die Ausnahme blieb.

Um weitere Kreise zu erreichen, bedienten sich Verleger im 19. Jahrhundert der unterhaltenden Zeitschriften, die in immer größerer Zahl erschienen, und der Kolportage. Eigentlich rührt der Begriff „Kolportage“ her vom Herumtragen der Bücher durch Hausierer und vom Aufteilen der Werke in zehn bis zwanzig Lieferungen mit je zwei Bögen, also 32 Seiten. So wurde der momentane Kapitaleinsatz des Verkäufers wie des Käufers reduziert.

Für beide Vertriebswege – Zeitschrift und Kolportage – produzierte May und traf offenbar sofort den Geschmack der Leserschaft. Er war so etwas wie ein Naturtalent, denn für die Laufbahn als Redakteur und Autor brachte er außer der Lehrerausbildung nur Gefängniserfahrungen mit.

Seine selbst herausgegebenen Blätter, die sich grob an dem Modell der Feierabend-Familienzeitschrift Marke „Gartenlaube“ orientierten, verkauften sich gut, nicht zuletzt wegen der Humoresken, die May dafür verfasste. Seinen Durchbruch beim Publikum erzielte er mit Abenteuergeschichten für Zeitschriften wie den „Deutschen Hausschatz“ und den „Marienkalender“, die zu den wichtigsten katholischen Zeitschriften gehörten, sowie für die Jugendzeitschrift „Der gute Kamerad“. Die Fortsetzungsgeschichten für sie spielten zumeist in der Exotik des Orients oder Amerikas.

Den entscheidenden Schritt, Mays Zukunft zu sichern, unternahm wohl der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld, welcher eine Buchausgabe der bislang nur in Fortsetzungen und Lieferungen erschienenen Bände veranstaltete. Dies hieß auch, seine Bücher waren Erwachsenenliteratur.

Karl May kannte die Produktion seiner Kollegen sehr gut und bediente sich ohne Skrupel bei deren Personal, Motivik, Schauplätzen und Handlungsverlauf. Eugène Sue (1804-1857), Gabriel Ferry (1809-1852) und James Fennimore Cooper (1789-1851) sind nur einige davon. In virtuoser Weise standen ihm die erfolgreichen Genres seiner Zeit zu Gebote, und ihre klaren Vorgaben erleichterten ihm Produktion wie Erfolg entschieden. 1910 forderte May sogar die Verwendung von Schema- oder Kolportageliteratur zu höheren Zwecken: „Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen. Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele.“

May-spezifisch ist die Mischung von erfolgreichen Genres. In seinen Kolportageromanen wie dem „Waldröschen“ findet man Komponenten der Abenteuer- und Reiseerzählung (Anschleichen, Gefangennahme, Befreiung, Henrystutzen, Bärentöter, Freundschaft mit edlen Wilden), des Märchens (wunderbare Zufälle, Gewogenheit von Tier und Natur für die Sache des positiven Helden), des Geheimbundromans, des Heimatromans und der ethnografischen Literatur. Auf diese Weise gelang es Karl May, wie Andreas Graf schreibt, sich eine spezifische Leser-Gemeinde zu schaffen – „der ehemalige Fabrikschullehrer May kannte sein Publikum sehr genau – dies dürfte nicht zuletzt das Geheimnis seines Erfolgs gewesen sein“.

May war eben mehr als nur ein Traumschreiber. Zwar gab es für seine Manuskripte über Jahrzehnte praktisch keine Notizen oder Vorstufen, Handlungsentwürfe oder Personenkonstellationen, und über Seiten und Seiten finden sich keine Korrekturen.

Karl May vermochte es gleichwohl, seine Phantasieanfälle in den Dienst professionellen, streng am Bedarf orientierten Schreibens zu stellen. Sehr genau hielt er sich an Umfangsvorgaben und exakt stellte er sich auf die Bedürfnisse der Auftraggeber wie der potentiellen Leser ein.

Für Pustets katholische Zeitschriften lieferte May überzeugend missionarisch-moralisierende Abenteuergeschichten, in den Kolportageheftchen für den Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer setzte er dafür auf sex and crime und gleichzeitig achtete er im Schreiben für die beliebte Gymnasiasten-Zeitschrift „Der Gute Kamerad“ sehr genau auf jugendverträgliches und -förderliches Schreiben, indem er beispielsweise stets junge Helden als Identifikationsgestalten auftreten ließ.

Bei solch kundenorientiertem Schreiben hat man außer finanziellen Gründen auch das maßlose Bestätigungsbedürfnis Karl Mays zu bedenken. Einmal zum Markenartikel geworden, durfte er allerdings nicht mehr abweichen von den gewohnten Helden und Strukturen. Tat er es dennoch, wie in seinem Spätwerk, kauften die Leser nicht.

Was machte nun den Erfolg seiner Bücher aus? Grundsätzlich war die Verbindung von ethnografischer und abenteuerlicher Literatur nichts Neues. Die vielen Wiedererkennungsszenen, die in seinem Werk verstreut sind, dienten bereits den Geheimbund- oder Bildungsromanen des 18. Jahrhunderts als Mittel, starke Rührung beim Leser auszulösen. Bei May treten sie allerdings fast mechanisch auf. Weitere Erzähltricks sind oft schon Kindern auffällig. Der eine ist das Belauschen von Gegnern, das an sich schon sehr häufig vorkommt. Geradezu ärgerlich ist aber, dass die Feinde stets just im Abhör-Moment über ganz geheime Pläne ausführlich reden, so dass Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi ohne Mühe allen Anschlägen entgehen können.

Reizvoll auf Leserhirne wirkt der unerhörte Reigen von Gefangennahme und Befreiung. Nie – darin gleicht das Schema dem der James-Bond-Filme – kommen die Schurken auf die Idee, die Helden einfach abzuknallen. Eine grundsätzliche Lösbarkeit von Konflikten und Fesseln, ja Erlösung kann der Leser hier immer wieder finden.

In der „kulturellen Gemeinschaft von Autor und Leser“ – so Hans Otto Hügel – spricht Karl May alle Sinne an, um sie an seine Geschichten zu fesseln. Andreas Graf hat in einer genauen Analyse herausgearbeitet, wie er eine Klimax aus Hören, Riechen, Sehen, Spüren bei einer Löwenjagd-Szene einsetzt. Im Sinnlichen von Mays Erzählungen sieht Graf geradezu prototypisch ein Genre erfüllt: „Denn das ist der Abenteuerroman: Körper und Rassen krachen aufeinander, Säfte und Sprachen mischen sich, Höhepunkt reiht sich an Höhepunkt, Retardationen sind nur Vorspiele zu neuerlichen Spasmen einer überdrehten Handlung, und Vernunft wird allein bemüht, um Emotionen um so effektvoller in Szene zu setzen.“

Damit ist man bei einem weiteren Erzähltrick Mays angelangt: der Abwechslung. Auch dies keine May’sche Erfindung, von ihm aber zu schöner Konsequenz entwickelt. Dauerspannung stößt bekanntlich bald an die Grenzen der Steigerung, also durchsetzte May die Abenteuerhandlung mit lustigen oder beschaulichen Szenen, den berühmten Landschaftsschilderungen und ethnografischen Beschreibungen, manchmal sogar mit Reflexionen allgemeiner Art.

Die Grundstruktur der erfolgreichsten Geschichten ist die einer einzigen großen Verfolgung in einer Reihe von kleinen Verfolgungen, und immer wird ein Verbrecher entlarvt und bestraft. Man hat Mays Werke deshalb mit Detektivgeschichten verglichen, und tatsächlich kommen bei ihm viele der investigativen Techniken vor: Spuren lesen, Beschatten, Lauschen, Leute be- und ausfragen, Schlüsse ziehen, Gesetze umgehen, besser als die Polizei arbeiten. May findet aber in seinen Geschichten kein eigentliches Ende, es geht immer weiter: Kaum ist der eine Bösewicht gefangen, wird er aus Nächstenliebe freigelassen, oder es stellt sich heraus, dass im Hintergrund von diesem ein viel schlimmerer Verbrecher agiert, der verfolgt werden muss. Selbst dessen Tod unterbricht die Handlung nur, die in weiteren Bänden so ähnlich weiter geführt wird, dass sich May-Leser nicht vor einem Ende fürchten müssen. In der Wiederholung immer gleicher Motive und Figuren spiegelt sich eine Form der Endlosigkeit. Ernst Bloch sprach in diesem Zusammenhang davon, die Erzählungen Mays seien „wie ein Angsttraum, aus dem man nicht herausfindet, oder wie eine Rettung, die man nicht müde wird, hundertmal zu hören.“

Heimelichkeit mitten im Abenteuer bildete ein weiteres Reizmoment für seine Zeitgenossen und noch einige Generationen später. Exotik, egal, ob in der Südsee oder in Südamerika, in Kurdistan oder in China, verbindet er in sehr geschickter Weise mit der guten alten Heimat. Nicht nur stammen die Helden in aller Regel aus Deutschland, sie treffen auch in Übersee immer wieder auf Landsleute. Darüber hinaus schildert May fremde Völker, beurteilt er sie positiv, als verwandt mit den Deutschen. Sogar die Metaphern, die May gebraucht, um das Fremde zu beschreiben, wählt er sehr häufig aus dem Bereich des deutschen Haushalts, des (klein)bürgerlichen oder bäuerlichen Alltags. So konnten die Leser sich leichter zurechtfinden im Unbekannten, erkannten im Unvertrauten immer wieder das Vertraute und konnten sich in Zeiten von Kolonialismus und Imperialismus behaglich berauschen am Fremden und dessen Beherrschung.

Bei diesen lesepsychologischen Überlegungen zum Massenphänomen May hat Reinhold Frigge maßgebliche Vorarbeiten geleistet. Vor allem konnte er als die zwei Grundpfeiler für die Wirkung von Mays Erzählen „Eindeutigkeit und Erwartbarkeit“ freilegen. Vom Titel und Titelblatt über die Kapitelüberschriften bis hin zur Sprache wecken Mays Texte, in gesteigerter Form diejenigen seiner Bearbeiter, beim Leser klare Erwartungen und räumen Rezeptions-Barrieren aus, die den Lesefluss stören könnten. Die auftretenden Figuren sind Typen, die Landschaft ist aufgeladen mit unmissverständlicher Bedeutung; Vorahnungen, Vorausdeutungen, rückblickende Kommentare, direkte und indirekte Erklärungen, das alles dient der Erfüllung von Erwartungen. Natürlich trifft nie alles exakt so ein wie gedacht, doch nie außerhalb klarer Grenzen: Karl May bietet, wie Frigge sagt, „überraschende Erlebnismöglichkeiten bei gleichzeitiger Vermeidung von Unsicherheitsfaktoren“.

Um seine Leser mitzunehmen auf die Reise ins Bekannt-Unbekannte, setzte May schon sehr früh auf Identifikationsfiguren. Doch der wohl wichtigste Aspekt der Wirkung Mays ist die Ich-Identifikation. Im Gegensatz zu so vielen Abenteuerschriftstellern schrieb May seine Geschichten zum einen in der ersten Person und zweitens, erst zögerlich, dann immer deutlicher mit Transparenz auf sein biografisches Ich: „Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle.“

Wie May dazu kam, sich so zu produzieren, ist eine eigene Geschichte. Jedenfalls hob ihn diese Ich-Stilisierung aus der Menge aller anderen Autoren hervor: „Es gibt“, schreibt Frigge, „in der erzählenden deutschen Prosa wohl kaum derart exponierte Beispiele einer ungebrochenen Synthese von authentischem, erzählendem und handelndem ‚Ich‘…“. Die Leser, immer noch vornehmlich Erwachsene, konnten in ihm einen realen Supermann erleben. So wie dieses „Ich“ wollte man auch sein, denn seine Fähigkeiten sind enorm in Quantität und Qualität. Vollbringen die Ich-Helden auch schier Unglaubliches, bleibt stets die Möglichkeit, es könne tatsächlich so gewesen sein. In den Abenteuergeschichten streift May zwar oft das Märchenhafte, doch verlässt die Handlung niemals den Raum des Denkbaren.

Von den Superhelden der Comic-Welt unterscheiden sich Mays Helden deutlich durch ihre Fehlbarkeit. Von lustigen Missgeschicken reicht das bis zu katastrophalen Fehlentscheidungen, die Menschenleben kosten. Das erleichtert die Identifikation der Leser natürlich erheblich, und zu ihnen zählen selbst große Denker.

So stammt die provozierendste Äußerung zu Karl May von Ernst Bloch: „Ich kenne nur Karl May und Hegel; alles, was es sonst gibt, ist aus beiden eine unreinliche Mischung.“ Bloch hat immer wieder May gelesen, und diese Lektüre zieht sich durch sein gesamtes Werk. Lebenslang hielt auch sein Freund Carl Zuckmayer zu May. Sein Votum für den Lieblingsautor beantwortet vielleicht am besten und bündig die Frage nach dem literarischen Standort: „Ich kann nicht umhin, den vielfach missbrauchten und missverstandenen Begriff des Mythos anzuführen. Für uns, für unsere Väter schon, für unsere Kinder und Enkel, steckt in den Karl-May-Geschichten, ganz gleich ob man sie zur Literatur rechnen kann oder nicht, eine mythische Überzeugungskraft.

Literaturverzeichnis:

Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1970.

Ders.: Gesamtausgabe. Frankfurt 1959ff. Ergänzungsband.

Ders.: Literarische Aufsätze.Viktor Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Ein Beitrag zur Leserpsychologie. Wien 1955.

Reinhold Frigge: Das erwartbare Abenteuer. Massenrezeption und literarisches Interesse am Beispiel der Reiseerzählungen von Karl May. Bonn 1984.

Andreas Graf: Abenteuer und Sinnlichkeit. Ein Versuch. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1993, S. 338-355.

Ders.: Literarisierung und Kolportageroman. Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategie eines Massenmediums im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1999, S. 191-203.

Hans-Otto Hügel: Kulturelle Gemeinschaft von Autor und Leser. Zu einigen Erzähltraditionen Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1998, S. 194-207.

May, Karl: Mein Leben und Streben. Selbstbiographie. Freiburg i. B.: Fehsenfeld [1910] und: Faksimiledruck dieser Erstausgabe mit Vorwort, Anmerkungen, Nachwort und Registern von Hainer Plaul. Hildesheim / New York 1997.

Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger, fortgeführt von Hermann Wiedenroth. Nördlingen, dann Zürich, jetzt Bargfeld 1987ff.

George L. Mosse: Was die Deutschen wirklich lasen. Marlitt, May, Ganghofer. In: Popularität und Trivialität. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt a.M. 1974, S. 101-120.

Friedhelm Munzel: Karl Mays Frühwerk „Das Waldröschen“. Eine didaktische Untersuchung als Beitrag zur Trivialliteratur der Wilhelminischen Zeit. Dortmund 1977.

Walter Nutz unter Mitarbeit von Katharina Genau und Volker Schlögell: Trivialliteratur und Popularkultur. Vom Heftromanleser zum Fernsehzuschauer. Eine literatursoziologische Analyse unter Einschluß der Trivialliteratur der DDR. Opladen / Wiesbaden 1999.

Claus Roxin: „Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand“. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1974.

Carl Zuckmayer: Karl May: Ein Phänomen. In: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 6, 1980, H. 1, S. 107-108.