Eine weitere Arbeit im Bergwerk der Kulturgeschichte

Die von Werner Faulstich herausgegebene Reihe versucht sich an einer Totalschau der Kultur des 20. Jahrhunderts

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Jahren werden die Versuche einer resümierenden Beschreibung aller kulturellen Phänomene des 20. Jahrhunderts verstärkt, was selbst in den historischen und kunsthistorischen Gesamtdarstellungen Berücksichtigung findet. Und so finden auch jene kulturellen Produkte, die zwischen Kunst und Gesellschaft vermitteln, ihren Platz in neuen Untersuchungen, also Fotografie, Film, Medien insgesamt, bis hin zu den alltagskulturellen Praktiken und Beziehungen, wie etwa die zwischen den Geschlechtern, den sozialen Gruppen und den Funktionseliten, die in Kunst, Medien, Politik und Wirtschaft agierten und Gesellschaft in den Industrieländern im Laufe des 20. Jahrhunderts radikal umbauten.

Bemerkbar wird dabei, dass schon allein die kulturelle Distanz des kurzen 20. Jahrhunderts zum langen 19. Jahrhunderts so groß ist, dass es einfacher zu sein scheint, die Nähe etwa der europäischen Gesellschaften zueinander im 19. Jahrhundert oder im 20. Jahrhundert zu sehen (trotz aller kultureller Differenz) als die Kontinuität der kulturellen Entwicklung über die epochale Schwelle vor allem des Ersten Weltkriegs hinaus. Der deutsche Sonderweg einer verspäteten Modernisierung – der über die politische Geschichtsschreibung favorisiert worden ist – gerät dabei in den Hintergrund. Die Veränderungen in den als Nationalkulturen aufgestellten europäischen Gesellschaften im Laufe des 20. Jahrhunderts sind zudem derart extrem, dass die Orientierungsfähigkeit und die Selbstkonstituierung der Subjekte – also ihre Fähigkeit, sich selbst in einem unwägbaren und fließenden sozialen und kulturellen Feld zu erhalten – als eine ihrer wichtigsten Leistungen in der Moderne zu sehen ist. Eine Überlegung, die angesichts der auch kulturellen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geboten scheint.

Gerade dieser Umstand macht die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu einem so ungemein lohnenswerten und spannungsgeladenen Gegenstand, der freilich zugleich die große Gefahr provoziert, dass eine Geschichte dieses Jahrhunderts grandios misslingt. Das hängt zum Teil daran, dass die Kultur des 20. Jahrhunderts ungemein vielfältig ist, enorme, eben auch ideologische, politische und moralische Brüche aufweist und von einer Dynamik geprägt ist, die es schwer macht, den Gegenstand gestalterisch in den Griff zu bekommen. Zugleich geht das 20. Jahrhundert in die Extreme und versucht Extremes. Das aber überfordert nicht nur strukturell die Zeitgenossen, sondern auch die Historiker, die nicht nur die Materialvielfalt und -masse bewältigen müssen, sondern auch in ihrer analytischen Professionalität auf eine harte Probe gestellt werden, sei es aus politischen Gründen, sei es aufgrund des methodischen Zugriffs oder weil die Grenzen des jeweiligen Geschmacks überschritten werden. Der grandiose Fehlschlag von Hermann van der Dunks zweibändiger Kulturgeschichte etwa geht nicht zuletzt auf die zuletzt genannte Variante dieses Problems zurück. Geschmack aber hat bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Kultur des 20. Jahrhunderts keinen Platz.

Hinzu kommt eine methodische Hilflosigkeit, die vor diesem 20. Jahrhundert notwendig kapitulieren muss. Keine Idee vom 20. Jahrhundert zu haben – was die Extremvariante wäre –, führt aber für eine Kulturgeschichte zu einem Darstellungsdesaster. Der Ausweg besteht entweder in einem entschiedenen Rückzug auf die Deskription der Phänomene und Ereignisse, die jedoch an dem Problem, eine sinnvolle Auswahl zu treffen, scheitern muss. Oder die Kulturhistoriker ziehen sich auf ihre jeweilige Fachkompetenz zurück, die Kunsthistoriker etwa auf die Bildende Kunst, die Literaturhistoriker auf die Geschichte, die Zeithistoriker auf die politische Geschichte.

Ein dritter Weg besteht in der klaren Entscheidung für einen spezifischen, bewertenden Zugriff, der die Widersprüche des Zeitraums mit eindeutigen und klaren Grenzen durchzieht und damit territorialisiert. Helmuth Kiesels Geschichte der literarischen Moderne, in der er einen Kernbereich reflexiver Moderne in den Mittelpunkt stellt, ist ein Exempel für dieses Verfahren – für das man, angesichts der Gleichgültigkeit etwa einer Modernedarstellung, wie sie jüngst Peter Gay vorgelegt hat, dankbar ist. Man mag Kiesel zustimmen oder ihm widersprechen – immerhin provoziert er eine produktive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand.

In der Kultur-, Literatur- und Mediengeschichtsschreibung sind – im Unterschied zur Zeitgeschichtsschreibung – in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Kollektivarbeiten entstanden, die die Kompetenzen verschiedener Fächer und Autoren verbinden und von der Hoffnung getragen sind, dass die Gesamtlektüre der Beiträge, die inhaltlich, methodisch und theoretisch deutlich differieren, ein zutreffende(re)s Bild einer kulturellen Zeitspanne entstehen lassen. Das ist in viele Fällen gelungen, auch wenn – wie etwa im Fall der Hanser-Literaturgeschichte der Weimarer Republik, die Bernhard Weyergraf herausgegeben hat – gelegentlich irritierende und wenig ausbalancierte Bände dabei herauskommen (die dennoch für die Darstellung ihrer Gegenstands wichtige Impulse geben können).

Der Medienhistoriker Werner Faulstich hat sich nun an ein ungemein interessantes und gewagtes Experiment gewagt, das vom Wilhelm-Fink-Verlag verlegerisch betreut wird: In auf Jahrzehnte (mit Ausnahme der dreißiger und vierziger Jahre, die zu einem Band zusammengefasst sind) konzentrierten Einzelbänden soll eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts erstellt werden, die in ihrer Gesamtheit nicht nur das Jahrhundert vollständig erfasst, sondern die auch in ihren Teildarstellungen bestehen kann. Die hier vorliegenden Bände über die ersten fünf Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lassen immerhin einen Eindruck davon zu, ob das Konzept tragfähig ist und über eine Sammlung von Einzelbeiträgen, die einigermaßen historisch konsistent sind, hinausgeht. Gedruckt liegen zudem noch die zwischen 2002 und 2007 erschienenen Bände zu den 1950er- bis 1980er-Jahren vor, die hier allerdings nicht miteinbezogen werden.

Dass die Medienrevolutionen für den Medienhistoriker Faulstich eine besondere Bedeutung besitzen, ist dabei kaum überraschend und wird vom historischen Befund auch bestätigt. Die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung ist in großem Maße von Medien abhängig, das heißt nicht zuletzt von den Kanälen gesellschaftlicher Kommunikation, den Orten und Räumen von Öffentlichkeit, den Möglichkeiten, Wissen, Informationen und Daten zu platzieren, zu verbreiten und zu archivieren. Die Ausweitung der Printmedien zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Revolution der elektronischen Medien zu seinem Ende sind dabei die wichtigsten Schwellenereignisse. Dabei wird man möglicherweise diskutieren wollen, inwieweit nun ausschließlich in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts der „revolutionäre[ ] Aufbruch in den meisten kulturellen Teilsystemen“ zu datieren ist. Aber das verdeckt nur den Blick darauf, dass dieser Aufbruch in den Jahrzehnten um 1900 geschah, die Grenzziehung durch die Jahrzehnte also zwar heuristisch hilfreich sein kann, zugleich jedoch nicht minder künstlich ist (Faulstichs Bände selbst halten sich auch nicht zwingend an ihre selbst auferlegten Grenzen, wie der Band zu den 1910er und der Doppelband zu den 1930er-/1940er-Jahren zeigen: Im einen dominiert der Erste Weltkrieg, im anderen prägen die Jahre der NS-Herrschaft die Darstellung).

Ob dabei die Jahrhundertwende oder etwa der Erste Weltkrieg entscheidende Impulse gegeben hat und als Schwellenzeit oder gar Zäsur zu verstehen ist, ist dabei eben auch den Vorlieben und der Lesart des Interpreten zuzuschreiben. Es finden sich für beides Hinweise und Belege, wobei sich der Eindruck aufdrängt, dass zwar die Jahrhundertwende im zeitgenössischen Selbstverständnis als Zäsur wahrgenommen wurde (der Beitrag zur Musik des ersten Jahrzehnts etwa plädiert für die Grenzziehung um 1900), in der historischen Forschung jedoch immer wieder vom „langen 19. Jahrhundert“ die Rede ist.

Der Erste Weltkrieg überbietet die Krisenerfahrung der Jahrhundertwende, wie sich im Band 2 zeigt, in dem die von George F. Kennan stammende Metapher von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ stark betont und mehrfach wiederholt wird. Die terminologische Verdrängung des Dreißigjährigen Krieges durch den Ersten Weltkrieg als dem „Großen Krieg“ bestätigt dies. Erkennbar wird das etwa an der Umfirmierung der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die Ricarda Huch zwischen 1912 und 1914 unter dem Titel „Der große Krieg in Deutschland“ hatte erscheinen lassen und die später unter dem Titel „Der Dreißigjährige Krieg“ vertrieben wurde – der Krieg 1914 bis 1918 hatte in der Wahrnehmung die Urkatastrophe der Jahre 1618 bis 1648, die im kollektiven Bewusstsein der Deutschen bis dahin präsent geblieben war, ersetzt.

Nimmt man den Zweiten Weltkrieg hinzu, die zeitweisen Erfolge faschistischer Parteien, die Diktaturen in Europa und die massenhaften Vertreibungen und Säuberungen, die politisch oder ethnisch begründet wurden, wird deutlich, dass dieses katastrophische 20. Jahrhundert in der Tat in die Extreme gegangen ist und eine (humane, politische, wirtschaftliche und eben auch kulturelle) Katastrophe durch die nächste übertroffen hat. Damit wird die Frage nach Schwellenzeiten und Zäsuren, die in der Diskussion der Epocheneinteilungen ohnehin schon zur Disposition steht, für das 20. Jahrhundert weitgehend hinfällig. Kontinuitäten und Diskontinuitäten stehen in einer denkwürdigen Konkurrenz und bilden eine Gemengelage, die im Terminus der „Ungleichzeitigkeit“ (Ernst Bloch) treffend gefasst worden ist.

Festzuhalten ist aber in jedem Fall, dass die Beschränkung auf Dezennienschritte die Beiträger zu einer konzentrierten Darstellung zwingt. Der historische Kontext wird deutlich stärker bewahrt als dies bei anderen Überblicksarbeiten der Fall ist, die werkbiografisch oder phänomenologisch vorgehen, also anderen Ordnungsprinzipien folgen.Band 1 („Das Erste Jahrzehnt“) konzentriert sich auf die kulturellen, unter Einschluss der massenkulturellen Phänomene der Jahre nach 1900. Presse, Zeitschriften, Literatur, Kino, Fotografie, Kunst, Architektur auf der einen Seite, Pädagogik, Sport, Werbung, Design, Wandervogel, Geschlechterverhältnisse unter Einschluss der Debatten über Liebe und Erotik auf der anderen Seite werden im ersten Band aufgenommen. Es fehlen auffallend Beiträge zu Themen wie Industrialisierung und Urbanisierung, deren kulturhistorische Konsequenzen weitreichend sind, wie etwa im Verweis auf Georg Simmels Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus dem Jahr 1903 erkennbar wird, der für die heutige Urbanisierungsdiskussion eine zentrale Rolle einnimmt. Am ehesten noch die Beiträge zur Werbung und zu Architektur, Design und Mode nehmen Überlegungen zu diesem Themenkomplex auf, der auf die Anfänge der Konsumgesellschaft, deren Verfahren und Selbstpräsentation verweist. Die schnelle Entwicklung des Sports zur Massenbewegung weist gleichfalls in diese Richtung.

Der Beitrag zur Literatur und zum Literaturmarkt hingegen wartet zwar mit den wichtigen Texten zur Literatur des ersten Jahrzehnts auf: Neben Gustav Frenssens „Jörn Uhl“ wird eben auch das Werk Thomas und Heinrich Manns oder Hermann Hesses genannt; Verweise auf die Berliner Moderne sind ebenso vorhanden wie auf das Wiener Pendant (Hugo von Hofmannsthal etwa oder Arthur Schnitzler). Aber am Beispiel Hofmannsthal ist die wohl aus der Platznot entstandene Unentschiedenheit des Beitrags erkennbar: Die Sprachskepsis, die in Hofmannsthals „Lord Chandos Brief“ Ausdruck findet, wird vom Bearbeiter weder an die Tradition der Erkenntniskritik (Immanuel Kant) noch an die zeitgenössische Sprachwissenschaft (Ferdinand de Saussure) angebunden oder an spezifische Modernisierungsprozesse und -problematiken. Der Verweis auf die urbanen Zentren Wien und Berlin geht damit ins Leere, und der Beitrag fällt auf die kommentierte Listung der Autoren und Texte zurück, die gute lexikalische Tradition hat, allerdings auch spezifische Leerstellen aufweist: Vorzuweisen, was nicht erklärt wird, verweist auf das oben benannte methodische Problem der Kulturgeschichtsschreibung. Dass derselbe Beitrag immerhin den Wandel des Literaturbetriebs in Richtung Massenmarkt und Unterhaltungsindustrie präsentiert, ist ihm hingegen gutzuschreiben, zumal er durch andere Beiträge zum Film und zur Fotografie ergänzt wird, die diese Entwicklungen am Beispiel anderer, neuer Medien gleichfalls thematisieren.

Neben einem institutionen- und parteipolitischen Beitrag wird der 2. Band („Das Zweite Jahrzehnt“) naheliegenderweise vom Ersten Weltkrieg dominiert. Allerdings stehen nicht dessen Verlauf und die Geschichte des Kriegs im Mittelpunkt, sondern seine alltagskulturellen Auswirkungen. Dabei rückt ein Phänomen in den Vordergrund, das allerdings eigentlich einer soziologischen oder gesellschaftstheoretischen Erklärung bedürfte, nämlich die ordnungs- und sinnstiftenden Praktiken, mit dem der sinnentleerenden Wirkung des industrialisierten Kriegs begegnet werden sollte. Die Fallhöhe zwischen dem (wiederum als Teil einer gesellschaftlichen Erzählung konstruierten) „Augusterlebnis“ zum Kriegsbeginn 1914, das die Fragmentierung von Gesellschaft aufzuheben schien, und etwa dem Stellungskrieg im Westen ab Jahresende, in dem die Individuen zu statistischen Größen wurden und zur Manövriermasse der Kriegsstrategen reduziert wurden, war extrem. Nicht der Heldentod, sondern der wahllose und sinnlose Tod wurde zur Perspektive der soldatischen Existenz. In diesem Kontext wurden die Kameradschaftsverbände, die zudem rein männlich besetzt waren, so fragil sie auch sein mochten, zur einzig belastbaren Sozialform, die auch über das Kriegsende hinaus fortbestand. In diesen Zusammenhang gehört auch die visuelle Aufbereitung des Kriegs durch die Amateurfotografie, die einen aufschlussreichen Aufschwung erhielt. Dabei lässt sich ein Bildprogramm erkennen, das sich gleichfalls als Bewältigung dieser extremen Lebensbedingungen verstehen lässt, die zugleich als Extremform von Leben in der Moderne erkennbar wird. Die Zerstörung der bürgerlichen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts unter Einschluss ihrer Ordnung- und Orientierungsformen wird im Krieg forciert und zu einer radikalen Konsequenz geführt. Die Offenheit, die – aus heutiger Perspektive möglicherweise nur als bedingte Offenheit zu bewerten – die Situation in den 1920er-Jahren bestimmte, ist damit nicht nur eine Konsequenz des Krieges, sondern auch als Fortsetzung einer Entwicklung aus dem 19. Jahrhundert erkennbar.

Der Paradigmenwechsel des 20. Jahrhunderts weg von der segmentierten bürgerlichen Gesellschaft, die sich nationalstaatlich organisiert, hin zur offenen Massenkultur wird im 3. Band („Die Kultur der 20er Jahre“) erkennbar. Die politische Neuorientierung zu Beginn des Jahrzehnts ist dabei nur ein Aspekt. Das Misslingen des Experiments Demokratie ist freilich nicht allein durch das Versagen der politischen und wirtschaftlichen Eliten begründet (eine These, die unter anderem Hagen Schulze in seiner Geschichte der Weimarer Republik vertreten hat), sondern geht auch darauf zurück, dass die Neuausrichtung der Gesellschaft zu neuen Brüchen, neuen komplexeren Anforderungen an die Einzelnen und damit zu Überforderungen führte, die eben ein autoritäres System zu lösen versprach.

Das Wohlfahrts- und Erlebnisversprechen, das die beginnende Massenkultur gab, konnte zudem noch nicht erfüllt werden. Dennoch bilden diese ersten Jahrzehnte und vor allem die 1920er-Jahre die Basisstruktur der modernen Massengesellschaft aus, die die zweite Hälfte des Jahrhunderts prägen würde. Die Fokussierung des Bandes auf Themen wie Angestelltenkultur, Neue Frau, Neue Medien, moderne Architektur, Mode und Design, Bildung und Ausbildung, Werbung und Fotografie verweist auf diese Linie. Beiträge wie die Knut Hickethiers zur Etablierung des Rundfunks oder Rolf Sachsses zur Entwicklung von Pressefotografie und Fotoavantgarde zeichnen sich durch eine ausgewogene Balance von Institutionengeschichte, Strukturgeschichte und Geschichte der Programmentwicklung und Ästhetik aus. Helmut Kortes Geschichte des Films der 1920er-Jahre verbindet immerhin Verweise auf die Anlage und Ästhetik der deutschen Stummfilmklassik mit den basalen institutionellen und medialen Entwicklungen dieser Jahre. Dennoch hat der Beitrag eher einen skizzenhaften denn einen Überblickscharakter, den man in einem solchen Band vermuten würde.

Dass die einzelnen Themen oft genug nur der Aufhänger sind, um sich in Richtung einer Gesamtdarstellung oder auch nur thesenhaften Auffassung dieses Jahrzehnts zu bewegen, zeigt sich am Beispiel des Beitrags zur Angestelltenkultur der 1920er-Jahre. Ausgehend von der Entwicklung dieser neuen sozialen Gruppe, den Verschiebungen bei der weiblichen Berufsarbeit und einer Skizze zur Situation der Angestellten in den 1920er-Jahren, kommt der Verfasser – Dirk Stegmann – auf die Spezifika der kulturellen Praxis der Angestellten zu sprechen, auf die Amerikanisierung, die Entwicklung der Massenkultur, die Alltags- und Freizeitkultur zu sprechen. Dabei nimmt er die auch von den Zeitgenossen intensiv diskutierten Segmente der Freizeitkultur, die historisch ein neues Phänomen ist, in den Blick: das „weekend“, die Tanzcafes, die Revuen, das Kino, den Sport. Sogar einen Exkurs zu den Angestelltenromanen wagt er, wobei dieser Teil sich notgedrungen mit Verweisen begnügt.

Insgesamt bleibt als Manko der Bände, dass es nicht in allen Beiträge gelungen ist, trotz der Umfangsbeschränkungen zu einer angemessenen Darstellung zu kommen: Wenn Themen wie die Reportage, die im Beitrag zur Entwicklung der Presse, vorgestellt werden, auf einer guten Seite behandelt werden und zudem unter dem Zwang stehen, neben Thesen zur strukturellen und ästhetischen Entwicklung eines solchen Genres auch noch die historischen Kerndaten zu referieren, dann bleibt allzu häufig ein unbefriedigender Eindruck zurück.

Nun mag man die Verfasser der Beiträge für die Aufgabe, die sie zu lösen hatten, bedauern und konzedieren, dass sie sich ihr so gut wie ihnen möglich entledigt haben – allerdings aus Nutzersicht sind doch einige Vorbehalte zu formulieren. Das trifft in den Bänden zu den 1920er- bis 1940er-Jahren vor allem die Beiträge zur Literatur von Fabian Baar und zur Bildenden Kunst von Pierangelo Maset, deren Gegenstand im Themenbereich Kultur immerhin eine zentrale Position einnehmen.

Masets These, dass die Kunst der 1920er-Jahre „wesentlich damit beschäftigt“ gewesen sei, „Arbeiten hervorzubringen, die in irgendeiner Weise anders sind als die, die es bereits gibt“, reicht wohl kaum aus, die Dynamik und den Charakter der Kunstentwicklung jener Jahre zu beschreiben. Der von Maset angekündigte Rückgriff auf die Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts beschränkt sich auf ein Proudhon-Zitat, Maset schwenkt anschließend rasch zu einigen Gewährsleuten der aktuelleren Kunstdiskussion über und holt zu einer Generalkritik der Avantgarden aus. So betont er ihre Nähe zum Faschismus und macht sie – Eduard Beaucamp folgend – allgemein für die gängigen Zivilisationsschäden mitverantwortlich. Maset gesteht zwar die Pauschalität der Faschismuskritik ein (immerhin sei die Avantgarde dem Nationalsozialismus insbesondere zum Opfer gefallen, er verweist auch darauf, dass der „künstlerische und kulturelle Sinn“ in den 1920er-Jahren noch „kollektiv geschärft“ gewesen sei und deshalb Vorbildcharakter für die gegenwärtige Situation haben könne, dennoch gelingt es ihm nicht, die Gemengelage von Politik, Ideologie und Moral, in der sich die Kunst bewegt, angemessen zu diskutieren oder auch nur darzustellen (wobei ein Referat zum Thema offensichtlich nicht beabsichtigt war).

Im Band zu den 1930er- und 1940er-Jahren startet Maset seinen Beitrag hingegen mit dem apodiktischen Satz, dass „nachdrücklich in Abrede“ zu stellen sei, dass „die Nationalsozialisten überhaupt Kunst hervorgebracht hätten“, da der NS-Kunst das zentrale Kennzeichen von Kunst insgesamt fehle, nämlich ihre gesellschaftliche Autonomie. Hingegen sei Kunst in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts (was nicht der Darstellungsauftrag Masets gewesen sein kann) für propagandistische Zwecke eingesetzt worden. Die „konstitutive Verschränkung von Kunst und Freiheit“ könne aber nicht „aufgegeben werden, ohne die Kunst zum Dekor und zur Propaganda verkommen zu lassen“.

Man mag das sympathisch finden oder politisch korrekt, und daraus die Berechtigung ableiten, sich in der Betrachtung der Kunst jener Jahrzehnte auf die Objekte und Künstler zu beschränken, die sich dem Freiheitsdiktum würdig erweisen, dem Gegenstand und der historischen Sachlage ist das jedoch nicht angemessen. Insbesondere hält die enge ideologische Verknüpfung von Kunst mit Freiheit und Fortschritt keiner ernsthaften Analyse stand. Kunst ist ein kulturelles Produkt einer Gesellschaft und eines ihrer zentralen Reflexionsmedien. Sie hat unterhaltende und belehrende (was kaum jemanden überraschen kann), anregende, aber auch narkotisierende Funktionen. Ihr anarchisches Potential ist ebenso wenig zu beherrschen wie ihre ökonomisches, ideologisches oder politisches. Sie kann ebenso Medium gesellschaftlichen Aufbruchs, Umbruchs und Ausbruchs sein, wie sie integrative Funktionen haben kann. Mit anderen Worten, Kunst ist in ihren Auszeichnungen eben nicht festzulegen, sondern jeweils in ihrem funktionalen Kontext zu analysieren. Hinzu kommt, dass Maset einen großen Teil der künstlerischen Produktion aus seiner Darstellung ausgrenzt, mindestens jenen, der nicht unter die gängigen Avantgarden fällt. Damit aber erfüllt Maset weder seine Aufgabe, seinen Gegenstand angemessen zu referieren, noch arbeitet er ihn methodisch und theoretisch hinreichend auf.

Nicht minder kritisch ist Fabian Baars Beitrag zur Literatur und zum Literaturbetrieb der drei Jahrzehnte zu bewerten. Zwar kennzeichnet Baar zu Beginn seines Beitrags zu den 1920er-Jahren den Zeitraum mit Entwicklungen wie „Ausdifferenzierung von Literaturproduktion und Buchvermittlung, struktureller Wandel von Ästhetik zu neuer Sachlichkeit, Dominanz der Unterhaltungsfunktion, insgesamt kultureller Bedeutungsrückgang im Kontext der neuen Medienkultur“. Das wird man diskutieren können.

Die Sachdarstellung jedoch bestätigt weder den Befund, noch ist sie einigermaßen präzise. Die Skizzen zu Romanen von Thomas Mann, Kafka, Hermann Hesse und Alfred Döblin sind schlicht irreführend. Die Auswahlliste literarischer Produktionen ist bestenfalls beliebig. Eine Funktion der Literatur- und Kulturzeitschriften im Zeitraum wird zwar behauptet, aber nicht vorgeführt. Die Behauptungen zur Entwicklung des Theaters sind indiskutabel (was der angebliche „ästhetische Komplex“, von dem es sich wegwende, sein soll, bleibt offen). Die wenigen Sätze zu Erwin Piscators und Bertolt Brechts dramaturgischen Neuansätzen sind bestenfalls nichtssagend. Die Darstellung der Neuen Sachlichkeit, die in der Literaturwissenschaft derzeit intensiv diskutiert wird, ist nicht angemessen. Verweise auf die einschlägigen Schriften von Helmut Lethen (Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994) und Sabina Becker (Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Köln, Weimar, Wien 2000) fehlen.

Hinzu kommen stilistische Probleme, die freilich zum Teil auch auf konzeptionelle Probleme verweisen: Die kulturellen und literarischen Entwicklungen werden als halbwegs naturwüchsig und von gesellschaftlichen Prozessen und Akteuren abgekoppelt dargestellt – und eben nicht als Versuche von Interessengruppen, sich im immer komplexer und medial aufgerüsteten kulturellen Feld behaupten und durchsetzen zu wollen. Daneben sind zahlreiche stilistische Unfertigkeiten des Verfassers zu bemerken (die Zahl von Verlagen verringert sich, sie „erniedrigt“ sich nicht; was ein „Nachzieher“ sein soll, kann man nur vermuten). Wertungen wie die zu den Kriegsromanen der 1920er-Jahre lassen zudem vermuten, dass der Verfasser kaum eigene Kenntnisse verwertet, sondern sich mit einer Auswertung der Forschung begnügt. Dabei fällt allerdings einiges durch den Rost: So ist ihm zwar erwähnenswert, dass Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ – ein „supererfolgreicher“ Roman, den er beiläufig in die Gruppe der „Romane und Bestseller mittlerer Komplexität“ einreiht – binnen Jahresfrist eine Auflage von etwa 1 Mio. erreichte. Dass Thomas Manns „Budddenbrooks“ in der im selben Jahr (1929) erschienenen „Volksausgabe“ eine ähnlich hohe Auflage erreichte, bleibt hingegen unerwähnt.

Problematisch ist auch der Beitrag im Band zu den 1930er- und 1940er-Jahren. Dabei sei dem Verfasser die pathetische Distanzierungsformel zu Beginn des Beitrag noch nachgesehen: „So wie alle Kunst waren auch Literatur und Theater im totalitären deutschen Faschismus unterdrückt, zensiert oder pervertiert, und der deutsche Buchmarkt allemal“. Zutreffend ist sie jedoch keineswegs, denn das Zensur- und Kontrollsystem des Nationalsozialismus war nicht derart lückenlos und durchgreifend, wie es hier vorausgesetzt wird. Der Literaturbetrieb wies stattdessen dieselbe widersprüchliche und teils gar anarchische Struktur auf, die das NS-System insgesamt auszeichnete. Er war bestimmt von widerstreitenden Gruppierungen, die den Autorinnen und Autoren, soweit sie das Minimalkriterium des System erfüllten (nämlich nicht jüdisch zu sein), einen von erheblicher Unsicherheit charakterisierten Freiraum ließen, in dem freilich jederzeit Sanktionen drohen konnten. Der Fall Gottfried Benns, der sich nach einer harschen Attacke der SS-Wochenzeitung „Das schwarze Korps“ aus der literarischen Öffentlichkeit zurückziehen musste, ist ein Beispiel für die Unwägbarkeiten des NS-Systems. Zugunsten des Verfassers ist immerhin anzuführen, dass er sich auf den wenigen Seiten, auf denen er sich der genuin nationalsozialistischen Literatur zuwendet, um eine umfassende Skizze bemüht. Dass es dabei zu Verkürzungen kommt, ist hinzunehmen. Dass er allerdings die Literatur „im“ Dritten Reich in die Gruppen NS-Literatur, Innere Emigration und Exilliteratur unterteilt, und das auch noch als Stand der Forschung behautet, ist nicht hinnehmbar. Die Exilliteratur ist keineswegs als Teilbereich der Literatur im „Dritten Reich“ anzusehen, und die Forschung hat sich mittlerweile um eine differenzierte Analyse der Phänomene bemüht und dabei weitere Gruppierungen (etwa die jungen, nichtfaschistischen Autoren) identifiziert. Autoren wie Gottfried Benn oder Ernst Jünger sind zudem keiner der hier vorgegebenen Gruppen zuzuordnen. Zu fragen ist zudem, ob es des Hinweises bedurft hätte, dass die NS-Literatur „die falschen Ideologien von Rassismus“ propagiert habe.

Die Behauptung zudem, die Autoren der Inneren Emigration seien immer noch literaturhistorisch marginalisiert, entbehrt jeder Sachkenntnis, auch wenn sich der Verfasser hierbei auf eine Polemik von Günter Scholdt bezieht. Das Gegenteil ist zumindest auf dem bundesdeutschen Literaturmarkt für die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte der Fall, in denen die Autoren der Inneren Emigration eine starke Position innehatten, bis sie – mit anderen eher konservativen Autoren – durch die Modernisierung der Literatur und Gesellschaft an Bedeutung verloren. Ihre Bewertung in der Forschung ist dennoch weitgehend positiv geblieben, und das, obwohl ihre Positionierung durchaus diskussionswürdig ist, wie der Fall Ernst Wiechert zeigt, den Baar als Exempel für die Autoren nennt, die in KZ-Haft genommen worden seien. Dass Wiechert 1933 nie auf die Idee gekommen wäre, ins Exil zu gehen, diese Entscheidung jedoch 1950 traf, gerät hierbei nicht in den Blick. Ebenso wenig wie der Umstand, dass Wiechert erst im Jahr nach seiner Haft seinen Roman „Das einfache Leben“ (wohlgemerkt in Deutschland) veröffentlichte, der trotz Papierkontingentierung äußerst erfolgreich war (bis 1942 erreichte das Buch eine Auflage von 270.000 und insgesamt wohl eine Gesamtauflage mit allen Nachkriegsauflagen von 1 Mio.). Erich Mühsam, Ludwig Renn oder Carl von Ossietzky, deren Distanz zum NS-Regime deutlich genug war, waren hingegen dem Verfasser keine Bemerkung wert.

Der Hinweis auf die angebliche Marginalisierung der Inneren Emigration erhält eine zusätzliche irritierende Note dadurch, dass Baar der Exilliteratur (die ihm eine halbe Seite wert ist) attestiert, dass sie „zu einem beliebten Spezialgebiet der Germanistik geworden sei“, und dies damit begründet, dass die Zahl der Werke numerisch begrenzt sei, sie als Hochliteratur gesellschaftlich anerkannt sei und die Beschäftigung mit ihr auf den Interpreten positiv abfärbe.

Nun wird man zwar zugestehen müssen, dass die Beschäftigung mit der Exilliteratur in mehrfachem Sinn angenehmer und anerkannter ist, dennoch ist der Gegensatz, den Baar hier konstruiert, sachlich nicht angemessen, nicht zuletzt weil er damit die qualitative und ideologische Differenz der in Deutschland verbliebenen Literatur und ihrer Autoren zu den exilierten Autoren und ihren Texten nivelliert (anders formuliert: seine Darstellung ist inakzeptabel). Hinzu kommt, dass sich eine solche abschätzige Bemerkung verbietet, wenn ihr keine wenigstens ansatzweise angemessene Beschreibung des Gegenstandes zugrunde liegt.

Aus der Perspektive der Germanistik und Kunstwissenschaft sind die einschlägigen Beiträge in den beiden Bände für die 1920er- bis 1940er-Jahre also unbrauchbar, wenn nicht verhängnisvoll, wenn erwartet werden muss, dass sich die Bände als Referenzadresse etablieren werden. Dass es dafür gute Gründe gibt, zeigen eben andere Beiträge wie die von Wolfgang Benz zum Umgang mit dem Völkermord in den Medien und im kulturellen Bewusstsein des NS-Staats oder von Klaus Weinhauers knapper Diskussion der Problematik des Widerstands im vom Nationalsozialismus beherrschten Deutschland.

Auch Knut Hickethiers Skizze zur Rundfunkgeschichte weist einen völlig anderen Charakter auf: Hickethier diskutiert differenziert den Umgang der Nationalsozialisten mit dem von ihnen favorisierten neuen Medium, weist aber auch darauf hin, dass deren Fokussierung anfänglich große Risiken barg, die sie freilich schnell erkannten und durch konzeptionelle Anpassungen unterliefen. Hitlers Rhetorik und Redepraxis etwa war nicht kompatibel mit dem Medium Rundfunk, zumal seine Gestik und Mimik fehlten, der Kontakt zum Publikum wegfiel und insgesamt der Redekontext differierte. Das führte dazu, dass nach einem ersten Fehlschlag spätere Reden Hitlers immer – teilweise von Goebbels selbst – eingeführt wurden und zudem aus dem Studio in echte Versammlungen verlegt wurden. Um das Medium im Sinne der NS-Machthaber nutzen zu können und authentisch wirken zu lassen, mussten also neue Inszenierungsverfahren umgesetzt werden. Das Bildungs- und Kulturmedium Radio wurde erst dadurch zum politisch nutzbaren Medium.

Kritisch diskutierbar sind hingegen Hickethiers Thesen zur politischen und ideologischen Nutzbarkeit der Unterhaltungskultur (was auch für den Beitrag von Ricarda Strobel zur Film- und Kinokultur im NS-Regime gilt). Zu bedenken wäre, inwiefern die Umorientierung der NS-Propaganda auf die Unterhaltung eben nicht nur als intelligenter und flexibler Versuch der Indoktrinierung zu werten ist, sondern auch auf das Scheitern der totalitären Projektes zurückgeht (zumal sich nationalsozialistische Propagandastrategen wie Goebbels anscheinend geweigert haben, die Massenbeeinflussung analytisch zu erforschen, sondern sie als Kunstform privilegiert haben).

Titelbild

Werner Faulstich (Hg.): Das erste Jahrzehnt.
Wilhelm Fink Verlag, München 2006.
231 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 377054269X
ISBN-13: 9783770542697

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Werner Faulstich: Das zweite Jahrzehnt. Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
234 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545285

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 20er Jahre.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
239 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545728

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 30er und 40er Jahre.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2009.
266 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770548194

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch